13 - tiger
- Ophelia -
Nach dem Unterricht ging ich in die Schulbibliothek und setzte mich in die uneinsichtigste Ecke, um heimlich mein Schinkenbrot essen zu können. Es war ein glücklicher Zufall, dass die Bibliothek heute so leer war und die Bibliothekarin somit auf ihrem Platz am Computer blieb, anstatt wieder Bücher einzusortieren oder zu ordnen.
Als ich fertig war, breitete ich meine Mathesachen auf dem großen Arbeitstisch aus und sah mir die Aufgaben an, bis Betsy um die Ecke kam und sich neben mir auf den Stuhl warf. "Hey", grüßte sie und packte ihre Brotdose aus.
"Hey, Lebensmittel sind hier verboten", ertönte eine Stimme wie aus dem Nichts. Die Bibliothekarin war gerade hinter der Ecke hervorgetreten und blickte Betsy finster an. "Außerdem stinkt es hier nach Schinken."
Ich prustete los und bemühte mich gleichzeitig, mein Lachen doch noch irgendwie zu unterdrücken.
"Und bitte seid etwas leiser."
Damit ging sie und Betsy hatte den Anschiss für meinen Schinkengestank geerntet.
"Ja, sehr witzig", antwortete sie grimmig und steckte ihr Essen wieder weg. Allerdings grinste sie auch ein wenig.
Wir begannen, uns durch die Matheaufgaben zu arbeiteten. Es dauerte quälend lange, aber dann hatten wir einen Teil verstanden. Sobald ich einmal drin war war es gar nicht so schlimm, die Aufgaben zu lösen. Ich fühlte mich wie die schlauste Schülerin überhaupt, als sich meine Lösung als korrekt herausstellte.
Als wir uns ein wenig vorbereiteter auf die nächste Klausur fühlten packten wir unsere Sachen zusammen. Betsys Magen knurrte abermals, als wir die Bibliothek verließen und sie sehnsüchtig in ihr Brot biss.
"Wie geht's deiner Mum?", erkundigte ich mich, als ich mich daran erinnerte, dass sie vor kurzem schwer erkältet gewesen war.
"Schon wieder besser. Gott sei Dank muss ich nicht mehr so viel putzen und die Wäsche waschen. Wusstest du, wie anstrengend Wäsche ist? Trennen, waschen, aufhängen, trocknen, bügeln, falten, einsortieren. Wäsche ist die Hölle", meckerte sie mit vollem Mund und spuckte Krümel durch die Gegend.
"Wieso hat dein Dad das nicht gemacht?", fragte ich mitleidig.
"Der hat drauf bestanden, dass ich jeden zweiten Waschgang mache. Was auch schon super viel war."
Grinsend öffnete ich eine Tür für meine Freundin, die sie in ihrem Ärger nicht zu beachten schien und fast dagegen gelaufen wäre.
"Naja. Wie läufts bei dir?", fragte sie nun.
"Alles ganz normal", seufzte ich. Nicht schlecht, aber irgendwie auch nicht gut. Irgendwie fühlte sich alles so festgefahren an.
"Nope, irgendwas stimmt nicht."
"Ich frage mich nur, ob sich zwischen Zac und mir irgendwas geändert hat. Wir sehen uns kaum noch. Und Sex hatten wir seit Wochen nicht", erzählte ich grübelnd.
"Wieso, will er nicht?", hakte Betsy misstrauisch nach.
"Natürlich will er nicht. Würde ich mich sonst beschweren?" Ich hatte plötzlich Angst, dass sie mitbekommen hatte, wie sehr ich mich manchmal gegen die Anziehung für Calyx wehrte. Und die wachsende körperliche Distanz zwischen Zac und mir darauf bezog.
Oder das Zac es mitbekommen hatte. Und deswegen weniger Zeit mit mir verbrachte. Oder nicht mehr mit mir schlafen wollte.
"Wahrscheinlich ist sein Kopf nur voll mit seinem blöden Projekt da. Das müsstest du doch am besten wissen", vermutete meine beste Freundin.
"Hmm", stimmte ich zögerlich zu.
Betsy steckte ihre Brotdose zurück und wir betraten den Schulparkplatz. "Kommt er denn auf Buhs Geburtstag?"
"Wahrscheinlich nicht."
"Du aber?", fragte Betsy mit strengem Ton und eindringlichem Blick.
"Wahrscheinlich nicht", wiederholte ich gequält. Ich wusste, was jetzt kommen würde.
"Wieso nicht?", wollte sie wissen.
Weil Calxy sicherlich auch dort war.
"Komm schon, Phee", grinste sie. "Wir müssen hingehen. Buh braucht da doch wenigstens zwei verantwortungsvolle Personen."
Verstört runzelte ich meine Augenbrauen. Wie konnte sie sich verantwortungsvoll nennen? Letztes Jahr hatte sie auf ihrer Geburtstagsfeier den Teppich ihrer Eltern vollgebrochen und die Sauerei einfach mit dem Staubsauger aufgesaugt. Ich wollte mir selbst nach einem Jahr nicht vorstellen, wie ihre Mutter dem Gestank bis zum Staubsaugerbeutel nachgegangen war.
"Jetzt fang nicht wieder mit dem Staubsauger an", seufzte Betsy, die meinen Blick richtig gedeutet hatte. "Schau, Buh freut sich auf uns. Freunde enttäuscht man nicht", belehrte sie mich und stieg ohne weitere Worte in ihr Auto.
Das Gespräch einfach so beenden tat sie oft, wenn ihre letzten Worte besonders viel Eindruck haben sollten.
Ich warf meiner manipulativen Freundin einen grimmigen Blick zu, als sie vom Parkplatz fuhr.
◯
Die Tage vergingen quälend langsam. Zac war mit seinem Projekt beschäftigt, Betsy mit Lernen, meine Familie mit den angeblichen aufständischen Rudeln und sogar Buh und das Basketballteam kündigten Montag den Trainingsausfall an. Und ich konnte mich nicht einmal im Wald verwandeln.
Ich lag auf meinem Bett und starrte an die weiße Decke. Hatte ich überhaupt sonst irgendwelche Hobbys, wenn ich nicht lernen musste und keiner meiner Freunde Zeit für mich hatte?
Schließlich stand ich auf, ging zur Küche und durchsuchte den Kühlschrank. Ich hatte so Hunger auf rohes Fleisch, dass es fast schon widerlich war.
Ich holte den rohen Schweinenacken vom Metzger aus dem untersten Fach und betrachtete ihn genau. Gleichzeitig analysierte ich mich und fragte mich, warum ich so seltsam war.
Seufzend legte ich das Fleisch auf den Küchentisch, setzte mich auf den Stuhl und starrte es an.
Zac fiel das Lykanthrophenleben so leicht. Er hatte sich für eine Seite entschieden und verwandelte sich nur zwangsweise bei Vollmond. Ansonsten lebte er wie ein Mensch. Hatte genaue Pläne für seine berufliche Zukunft als Künstler.
Betsy hatte all diese Lykanthrophenprobleme nicht einmal. Sie lebte fröhlich einen Tag nach dem anderen und verlor sich in Büchern oder Serien. Für sie war klar, einmal Drehbuchschreiberin oder Regisseurin zu werden.
Und Buh arbeitete darauf hin, später beruflich im Sport tätig zu werden. Basketballspieler oder Trainer.
Doch noch bevor ich weiterdenken konnte, durchschoss mich, wie schrecklich und egoistisch ich eigentlich war.
Zac arbeitete hart und kämpfte gleichzeitig gegen einen Teil in sich, den er hasste und der niemals ganz verschwinden würde.
Betsy kümmerte sich um ihre schnell krank werdende Mutter und verlor sich in anderen Welten, um ihrer eintönigen zu entfliehen. Wollte ihr weiteres Leben damit verbringen, das anderen ebenso möglich zu machen.
Buh spielte jedes Mal mit demselben Enthusiasmus, obwohl er nie der beste Spieler des Teams gewesen war. Und er freute sich trotzdem für jeden unserer Erfolge.
Schnell packte ich das Fleisch und donnerte es in den Kühlschrank zurück. Ich hatte ja nicht mal eine Ahnung, wie mein menschlicher Körper das verdauen würde.
◯
Die Charts dröhnten aus dem Bass der Musikanlage im Wohnzimmer, während Buh Betsy und mich begrüßte. Er nahm uns unsere Jacken ab und versprach, sie in seinem sicheren Zimmer zu verstauen.
Als meine Freundin ihm unser Geschenk überreichte prüfte ich die Luft und war erleichtert, dass Calyx noch nicht hier war.
"Danke, Leute. Ich mach die alle morgen in Ruhe auf", meinte er etwas lauter über die Musik hinweg. "Ihr kennt euch ja aus. Ich finde euch gleich schon." Er wirbelte mit der verpackten Karte herum und ging dann weg, anscheinend um sie sicher zu verstauen. Über den Gutschein für das Sportwarengeschäft würde er sich sicher nicht beklagen können.
Wir kannten uns tatsächlich aus, denn die Feier war genauso aufgebaut wie letztes Jahr. In der Küche bot man mir ein kaltes Bier an, welches ich dankbar annahm. Betsy organisierte sich ein Shotglas und trank den Jägermeister, welchen sie sich mitgebracht hatte.
Im Wohnzimmer gesellten wir uns zu ein paar Leuten unserer Schulstufe. Ich fand es immer seltsam, dass man auf Partys miteinander redete, sich in der Schule aber kaum beachtete.
Die Luft wurde immer stickiger, je mehr Zeit verging und je mehr Gäste das Haus betraten. Partys waren einfach nicht für Lykanthropen vorgesehen, wirklich nicht.
Ständig war man wachsam und versuchte zu analysieren, wer um einen herum war. Wo sich ein Notausgang befand. Wie viel Alkohol die anderen intus hatten. Ob man sich selbst bedrängt oder beengt fühlte und besser vorzeitig einen ruhigeren Ort suchen sollte.
Man roch alles – Schweiß, verschiedene Sorten von Alkohol, wenn sich jemand im Bad übergeben hatte oder Leute in den Garten pinkelten.
Man hörte auch alles – die Gespräche aller Leute im Raum, wenn man sich konzentrierte, die Musik und den Bass fast übermächtig, wenn Becher und Gläser auf dem Boden aufschlugen und wenn Pärchen in den Ecken des Raumes knutschten und sich etwas zuflüsterten.
Als ich dann auch noch registrierte, dass Calyx das Haus betreten hatte, brach mir wortwörtlich der Schweiß aus.
"Hey, wollt ihr mit hochkommen?", fragte Buh in diesem Moment und klatschte mir mittelsanft seine Hand auf mein Schulterblatt. Er war wohl zu betrunken oder zu höflich, um zu fragen, warum mein kompletter Rücken nass war.
"Klar", antwortete ich schnell und zog Betsy mit mir. Wir folgten Buh durch die Menge. Ich konnte nicht ausmachen, wo Calyx sich befand, weil zu viele Eindrücke gleichzeitig auf mich einschlugen. Sein Geruch war einfach überall, übertönte andererseits alles, ging aber auch unter allem anderen unter.
Als wir die Treppe hochgegangen waren und wir Buhs Zimmer ansteuerten, entschuldigte ich mich und stürmte in das Bad, welches glücklicherweise nicht besetzt war.
Ich schloss hinter mir ab und kühlte mein Gesicht mit kaltem Wasser aus dem Wasserhahn. Dann öffnete ich das Fenster und wartete, bis sich Gänsehaut auf meinen Armen bildete und meine schweißnasse Haut getrocknet war. Ich bereute die Wahl meines engen, schwarzen Kleides und wünschte mir nichts sehnlicher als etwas lockerere, gemütlichere Kleidung.
Als ich mich nervlich und körperlich beruhigt hatte und nun bestimmt schon der vierte Mensch besoffen gegen die Tür klopfte, verließ ich das Bad und steuerte auf Buhs Zimmer zu.
Etwa zwölf Leute saßen in einem Kreis, eine leere Bierflasche in ihrer Mitte. Mein Blick fiel sofort auf Calyx. Augenblicklich riss ich mich von seinem Anblick los und suchte Betsy. Mein Herz klopfte um einiges schneller. Er sah so verdammt gut aus wie jedes Mal.
Betsy rutschte etwas und machte mir Platz, damit ich mich neben ihr niederlassen konnte. Ich betrachtete die Runde. Fünf waren aus unserem Basketballteam, die anderen kannte ich kaum und zwei der Mädchen hatte ich noch nie gesehen.
Ich zwang mich sehr, meine Augen nie auf Calyx zu richten. Obwohl ich schon mitbekommen hatte, dass er von dem Mädchen zu seiner rechten regelrecht angeschmachtet wurde.
"Buh wollte Wahl, Wahrheit oder Pflicht spielen. Die Mädels Sieben Minuten im Himmel. Also haben wir eine Kombination gestartet", klärte Betsy mich auf.
Natürlich bekam ich dabei Bedenken, aber hier zu sein war zehnmal besser, als sich unten im Gedränge zu befinden.
Für noch mehr Wohlbefinden öffnete ich das Fenster und schlüpfte dann wieder in den Kreis zurück. Etwas frischere Luft. Wunderbar.
Zunächst gab es während des Spiels keine besonderen Vorkommnisse. Einmal musste Betsy mit jemandem aus der Basketballmannschaft in den Schrank. Aber da ich wusste, dass sie ihn sowieso nicht sympathisch fand, überraschte mich die Stille und der karge Smalltalk darin nicht.
Eigentlich fand ich das Spiel furchtbar interessant, weil ich alles hören konnte, was im Schrank geschah. Vielleicht sollte ich mich schlecht beim Belauschen fühlten, aber wieso sollte ich nicht meine Fähigkeiten nutzen, die die Natur mir gegeben hatte?
War ja sowieso nicht so, als könnte ich irgendwem weitererzählen, was ich gehört hatte.
"Wie lief's?", fragte ich Betsy, als sie erleichtert den Schrank verließ.
"Total awkward. Aber gut, so kann man sich bestätigen, dass zwischen einander wirklich keine Chemie herrscht", flüsterte sie mir ins Ohr. Ihr Atem roch nach Jägermeister. Natürlich hatte sie die Flasche mit in den Schrank genommen.
Aus einem spontanen Impuls heraus beugte ich mich vor und gab ihr einen Wangenkuss. "Ich hab dich lieb, Betsy."
Verwirrt sah sie mich an, lächelte dann aber. „Ich dich doch auch, Phee."
In der nächsten Runde musste ein Mädchen unserer Stufe mit einem Jungen der Basketballmannschaft in den Schrank. Während Betsy und ich uns mit Buh unterhielten, fiel mir plötzlich auf, wie es mit einem Male sehr still im Schrank wurde.
Dann vernahm ich ein leises, für mich aber sehr deutlich zu hörendes Stöhnen.
Das Geräusch brachte mich für einen Augenblick aus dem Konzept und mein Blick wanderte zu Calyx, der mich ebenfalls ansah. Unter seinem Blick wurde mir plötzlich sehr warm.
Wir beide waren die einzigen, die wussten und hörten, was im Schrank geschah. Ich versuchte, mich von seinem Blick zu lösen, als die Geräusche im Schrank lauter und schneller wurden.
„Phee, das machst du doch, oder?", fragte mich Betsy von der Seite.
„Wa .. Was?", stotterte ich zurück und blickte in ihr schmollendes Gesicht.
„Na, mir bei Philosophie zu helfen. Ich blicke da einfach nicht mehr durch. Das ist viel zu abstrakt", erwiderte sie.
Ich versuchte mich an einem Lächeln. „Sicher", bestätigte ich und konzentrierte mich mit aller Kraft auf unsere Unterhaltung.
Als das Paar aus dem Schrank kam, richtete ich meinen Blick vehement auf den Boden und analysierte die herumliegenden Krümel und Staubrückstände.
Betsy fragte mich irgendetwas, jedoch kam ich aber nicht zu einer Antwort, weil die Flasche bei mir stehen blieb.
Erschrocken blickte ich mich um, registrierte dann aber, dass ich nur Armdrücken gegen Buh machen musste. Erleichtert legte ich meine Hand an seine.
Ich hätte mit unglaublicher Leichtigkeit gewinnen können. Doch das wäre zu auffällig gewesen. Außerdem hatte Buh Geburtstag.
Das hieß aber nicht, dass ich ihm seinen Sieg leicht machte.
Am Ende der Partie war Buhs Stolz erhalten geblieben und zufrieden lehnte er sich wieder zurück.
Ich griff nach der Flasche. "Wahrheit. Also, an den auf den die Flasche fällt, was ...?"
"Langweilig", gröhlte Owen. "Du hast bis jetzt immer nur Wahrheit genommen", warf er mir ernsthaft vor. Sollten die nicht alle zu betrunken sein, um sowas zu bemerken?
"Ist echt so", stimmte Buh zu. "Du bist die einzige, die noch nie im Schrank war."
Finster blickte ich ihn an. Und ich hatte ihn auch noch gütigerweise gewinnen lassen.
"Na schön", grummelte ich, weil ich keinen Aufstand machen wollte. Meine Hand zitterte, als ich die Flasche abermals berührte.
Bitte, es konnte wirklich jeder sein, nur bitte nicht Calyx.
Mein Atem stockte in meiner Lunge, als sich die Flasche zu drehen begann.
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Ganz vielen lieben Dank fürs Reinlesen! Ich hoffe, euch haben die 13 freien Kapitel gefallen und würde mich sehr darüber freuen, wenn ihr es in Erwägung zieht, mich durch das Weiterlesen zu unterstützen.
Euch erwarten noch viel Spannung und besonders eine ganze Menge knisternde Funken!
Eure WritingHoney <3
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