12 - The

- Ophelia -

Ein Ruck fuhr durch mein Herz und in meiner Kehle bildete sich ein wachsender Knoten, der mir immer weiter die Luft abschnürte.

Das hier war fast noch schlimmer, als es die Vollmondnacht im Keller gewesen war. Es war so eng hier. Ich rang jetzt schon um Sauerstoff.

Die Wände kamen näher.

Jeder, wahrscheinlich wirklich ausnahmslos jeder Lykanthroph fürchtete die Enge und Gefangenschaft.

Ich fühlte mich bedrängt, nicht nur von dem winzigen, vollgestellten Raum, sondern auch von Calyx' Anwesenheit.

Ich musste raus hier. Angst schnürte mir meinen Brustkorb zu. Die Angst, was passieren könnte, wenn ich ihn versehentlich berühren würde. Die Angst vor einem Kontrollverlust. Die näher kommenden Wände und die stickige Luft.

Als Wolf könnte ich die Tür aufbrechen. Als der Gedanke einmal aufgetaucht war, konnte ich ihn nicht mehr loswerden.

"Shit", murmelte ich und betrachtete meine zitternden Hände. "Calyx, ich muss hier raus. Schnell."

Unnatürlich grün leuchtende Wolfsaugen sahen mir entgegen. Sie sahen wortwörtlich aus wie das Grün einer Verkehrsampel. "Ich habe Buh schon geschrieben. Halt durch, Ophelia, wir sind hier bald raus."

"Dann ist es schon zu spät", keuchte ich. Tausend Szenarien schossen durch meinen Kopf. Ich würde mich verwandeln, die Tür aufbrechen und man würde einen sehr ungewöhnlich großen Wolf auf dem Schulgelände antreffen. Die aufgebrochene Tür untersuchen und Spuren eines Wolfes daran finden. Und es gab noch weitere hundert Dinge, die fatal für uns sein könnten.

"Okay, hör mir mal zu", begann Calyx, doch ich verfiel noch mehr in Panik und schüttelte den Kopf heftig, damit das Kribbeln meiner Zähne verschwand.

"Phee, bitte hör mir zu."

Seine Augen leuchteten nun nicht mehr. Sie waren so grün wie zuvor, wie der Wald und seine Pflanzen.

"Steck deine Arme aus", sagte er, während er die eigenen Arme ausstreckte. "Und schließ deine Augen."

Ich tat es ihm gleich.

"Spür, wie viel Platz du hast", meinte er sanft. Ich versuchte zu ignorieren, dass seine Finger auf jeden Fall auf beiden Seiten die Regale berührt hatten. Aber ich hatte Platz, ich fühlte nichts.

"So viel Platz hast du. Genug, um tief ein- und auszuatmen, sodass sich dein Brustkorb hebt und senkt."

Für einige Sekunden atmete ich tief ein und aus, obwohl die Luft stickig war.

"Stell dir vor, du stehst im Wald. Du streckst deine Arme aus und hast so viel Platz. Du könntest lossprinten und den Platz auskosten, doch für einen Moment wollen wir kurz stehen bleiben. Deine Füße stehen fest auf dem erdigen, mit Laub bedeckten Boden. Du gräbst deine Zehen in die warme Erde hinein. Der Wind streichelt deine Wangen, deinen Hals und seine Seiten, umstreicht deine Schlüsselbeine und weht dir sanft die Haare aus dem Gesicht."

Ich atmete immer ruhiger und ruhiger, je bildlicher ich mir das Szenario ausmalen konnte.

"Die Luft ist so rein, dass sie fast in der Lunge schmerzt. Sie reinigt dich von allem Negativen in dir. Dir stehen alle Möglichkeiten offen. Du könntest hinlaufen, wohin du auch möchtest. Das ist sie, die Freiheit des Waldes."

Er hatte Recht. Das war Freiheit. Wirklich nur in der Natur fühlte ich mich frei. Als natürliches Wesen. Als Lykanthroph.

"Und wenn du dich umblickst, dann siehst du überall sattes Grün, helle und dunkle Töne, Bäume und Pflanzen."

Ich schlug meine Augenlider auf und sah den Wald in Calyx' Augen. Das satte Grün war das, was mich beruhigte.

Calyx verstummte und blickte zurück. Ich hörte, wie mein Herz schneller gegen meinen Brustkorb schlug.

"Cal?", rief Buh plötzlich, sodass ich zusammenzuckte.

"Ja, hier drin!", rief er zurück.

Die Tür schwang auf und Licht fiel in den Raum. Ganz außer Atem blickte Buh uns entgegen. "Deine Tasche liegt hier durchwühlt. Und dein Portmonee daneben."

Calyx verließ das kleine Materiallager und ich folgte ihm schnell.

Ich war so froh, aus dem geschlossenen Raum entkommen zu sein. Buh kam auf mich zu und nahm mich in den Arm. Verwundert ließ ich es über mich ergehen.

"Gehts dir gut, Phee? Ich wusste ja gar nicht, dass du Klaustrophobie hast. Dieser Mistkerl, wenn ich den erwische!", regte er sich auf.

Als Calyx und ich uns im Lager unterhalten hatten, hatte er wohl meine Tasche entdeckt, die Tür zugemacht und uns eingeschlossen, damit er in Ruhe meine Tasche durchwühlen konnte.

"Ich muss jetzt echt los, aber nehmt unbedingt Fingerabdrücke. Ernsthaft. Was für ein Arschloch", fluchte Buh und joggte aus der Turnhalle hinaus.

"Ich brauch keine Fingerabdrücke", knurrte Calyx, hob mein Portmonee vom Boden auf und roch daran.

"Lass gut sein, da war eh nicht viel Geld drin", winkte ich erschöpft ab und nahm es vorsichtig aus seinen Fingern.

"Zu spät. Den Geruch werde ich mir für ewig merken."

Ich begutachtete mein Portmonee. Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen, als ich alle Fächer kontrollierte. "Das Geld ist noch drin", verkündete ich schließlich verwundert. "Aber mein Ausweis ist weg."

"Wer stiehlt denn bloß einen Ausweis?", wunderte sich Calyx.

"Ach, keine Ahnung. Ich möchte einfach nur noch nach Hause", seufzte ich.

"Soll ich dich fahren?"

"Nein, ich möchte laufen", winkte ich ab, räumte meine durchwühlten Sachen zusammen und schloss das Materiallager ab.

Ich ging einige Schritte Richtung Ausgang, blieb dann stehen und drehte mich wieder um.

Calyx stand noch immer an der Lagertür und starrte nachdenklich auf die Stelle, wo meine Tasche gelegen hatte. Als er meinen Blick spürte, drehte er sich zu mir um.

Ich räusperte mich. "Hattest du eigentlich keine Angst da drin?"

"Doch", gab er langsam zu. "Aber ich hatte wohl mehr Angst um dich."

Meine Atmung setzte für einen Atemzug lang aus und mein Herz begann zu rasen. Aber dann erinnerte ich mich wieder an die Realität.

Calyx hatte keine Angst um mich, sondern um seine Mate. Dieser Gefallen aneinander war nicht aufgrund ehrlicher Zuneigung füreinander, sondern durch einen Zwang unserer Natur. Wenn er mich mochte, dann war das nicht wegen mir, sondern nur deswegen.

Aber Zachary hatte diesen Zwang nicht. Er liebte mich ehrlich, so wie ich war, ohne von irgendwas beeinflusst zu werden.

Ich konnte meine Gefühlslage kaum wirklich definieren, als ich ein "Bis morgen" murmelte und die Turnhalle verließ.

Irgendwie fühlte ich mich so furchtbar niedergeschlagen und frustriert. Einerseits war ich nicht genug Wolf, um meine Seelenverwandtschaft einfach zu akzeptieren, andererseits war ich nicht Mensch genug, um mich nicht irgendwo nach dem Schicksal meiner Natur zu sehnen.

Ich wollte einfach nur eine freie Entscheidung und das wahre Entstehen von Liebesgefühlen. Wiederum hatte ich aber noch nie so eine Anziehung zu jemandem gespürt.

Wie konnte man sich seiner Natur so fern und nah gleichzeitig fühlen?

Als ich durch den Wald ging, schossen meine Gedanken zu dem Szenario, welches mir Calyx so realitätsnah beschrieben hatte, um mich zu beruhigen.

Den restlichen Weg ging ich barfuß nach Hause.


Ich horchte kurz auf, bevor ich weiterschlich. Als ich kein verdächtiges Geräusch vernehmen konnte schlich ich weiter. Im Hintergarten bewegte ich mich in geduckter Haltung auf Zacs Fenster zu und klopfte.

Kurz darauf wurde der Vorhang weggezogen und helles Licht blendete mich.

"Phee, was machst du hier?", fragte Zac irritiert, als er das Fenster geöffnet hatte. Er trug ein schwarzes T-Shirt, in dem sein dünner Körper noch schmaler aussah.

"Hab dich vermisst. Kommst du raus?", fragte ich lächelnd. Ich sah an ihm vorbei und entdeckte eine Konstruktion aus Ton auf seinem Schreibtisch. Sein Projekt sah gut aus. Ich erkannte die Strukturen von Bäumen, aber die Details und Farben fehlten noch. Direkt daneben hatte er einen gewaltigen, hohen, völlig rechteckigen Klotz gebaut. Sollte das ein Hochhaus darstellen?

"Warum hast du mir nicht einfach geschrieben?", wollte er mit einem Blick auf sein Handy wissen.

Wieso fragte er das? Er wusste, dass ich ihm nicht gerne schrieb und mich lieber persönlich ankündigte. Dafür war der Spaß des Anschleichens viel zu groß.

"Also was ist jetzt, lässt du mich hier stehen oder kommst du mit raus?", äußerte ich mich stattdessen.

Zac strich sich die hellen Haare aus der Stirn, sah einmal kurz zu seiner Arbeit am Schreibtisch hinüber und seufzte schließlich. Er holte sich eine Jogginghose aus dem Kleiderschrank, zog sie über, schlüpfte in seine Hausschuhe und kletterte aus dem Fenster.

Wir wanderten Händchen haltend durch den Wald und ich genoss die frische Luft in vollen Zügen. Dann wurde Zac langsamer und hielt schließlich gänzlich an. "Wir sollten nicht weiter gehen und die aufständischen Rudel im Kopf behalten", wandte er ein. "Hier sind wir beim Jaulen oder Schreien noch in Hörweite."

Mit gerunzelten Augenbrauen sah ich ihn an. Für diese Rudel hatte es keine Beweise gegeben. Wahrscheinlich waren das nur Gerüchte. Aber irgendwie hatte er Recht, obwohl ich schon gerne etwas weiter hineingegangen wäre. Ich hätte mich gerne auf eine Lichtung mit ihm gelegt und die Sterne beobachtet.

Seufzend drehte ich mich zu ihm um und schmiegte ich mich an seine Brust. Er strich mir mit der Hand über den Rücken. Er roch nach Ton. Sein Handy vibrierte zweimal in seiner Hosentasche, doch wir ignorierten es.

Ich legte meine Lippen an die Seite seines Halses und drückte einen langen Kuss darauf. Als keine Reaktion kam, nahm ich erst ein wenig Abstand und küsste ihn dann auf die Lippen. Er erwiderte den Kuss und es fühlte sich wunderbar an. Sanft und mit leichtem Druck küsste er mich, bis ich schließlich den Mund leicht öffnete und mit meiner Zunge Einlass in seinen Mund suchte.

Zögernd löste sich Zac von mir und sah mich nervös an. Was war denn los? Hatte er Angst, wegen den aufständischen Rudeln?

Stirnrunzelnd sah ich ihm in die dunklen Augen. "Alles okay?"

"Schon, nur... ich bin gerade nicht so in Stimmung", wich er aus. "Und ich kann nicht so lange wachbleiben, dann kann ich mich morgen nicht konzentrieren."

Ein bisschen enttäuscht nahm ich Abstand zu ihm. Er hatte schon seit vielen Tagen oder sogar Wochen, keine Lust und langsam vermisste ich wirklich die Nähe zu ihm. Aber ich wollte ihm nichts zum Vorwurf machen. Wenn man nicht in Stimmung war, dann war das in Ordnung, solche Phasen gab es in jeder Beziehung.

"Na schön, dann lass uns über dein Projekt sprechen", wechselte ich das Thema.

Zac lächelte ein wenig und nahm meine Hände wieder in seine. "Es läuft gut bisher. Ich teste verschiedene Materialien aus."

"Was hat das Hochhaus zu bedeuten?", wollte ich wissen.

"Naja, zuerst hatte ich mir ja einen wunderschönen Wald vorgestellt. Aber zurzeit sind da mehr rechteckige und quadratische Formen in meinem Kopf und ich hatte mehr Lust, ein Hochhaus zu gestalten." Mit den Schultern zuckend sah er sich um.

Ich sagte noch nichts, weil er offensichtlich am Nachdenken war. Er setzte einen Schritt nach vorne und ich folgte ihm zurück zur Richtung des Dorfes.

"Vielleicht werde ich das Projekt erweitern. Eine ganz lange Reihe machen. Am Anfang steht der Wald in seiner wunderschönen Pracht. Dann folgen ein paar gefällte Baumstämme, dann einzelne Häuser, dann etwas mehr Müll zwischen den Bäumen, in einem kleinen Fluss ... Die Anzahl der Häuser nimmt zu, die Anzahl der Bäume nimmt ab, bis sich schließlich ganz dicht an dicht ein Hochhaus ans andere reiht."

Ich stellte mir die Vorstellung bildlich vor und bemerkte, wie sie mich traurig machte. Es stellte die Realität dar, dabei wurde die Natur doch heutzutage immer wichtiger. Was das für eine Welt wäre. Eine, in der ich niemals leben könnte.

Irgendwie wunderte ich mich über seine neutrale Stimmlage. Als wäre das alles etwas, was ihm nichts ausmachen würde. Was einfach eine Veränderung war.

"Wie findest du das denn?", fragte ich vorsichtig und in hoffentlich beiläufigem Ton.

"Was, die Idee? Eigentlich ziemlich gut, oder nicht?"

"Nein", erwiderte ich. "Die Welt, wie sie bei dir letztendlich aussehen wird."

"Nun, sie wird mehr Farben haben", überlegte Zac laut und starrte abwesend ins Nichts hinein.

Mehr Farben haben? Mehr Grau der Straßen? Mehr Grau der Häuser? Mehr Grau der Menschen, die nicht mehr unter die Sonne treten?

Wir erreichten seinen Garten und ich begleitete ihn zum Fenster. Dort senkten wir unsere Stimmen, um seine Eltern nicht zu wecken.

"Gute Nacht, Phee", flüsterte er und küsste mich. Als er lächelte und sich umdrehte begriff ich, dass er aufgeheitert war.

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