10 - the
- Ophelia -
Als ich montags aufwachte, war ich schweißgebadet. Hin und wieder kam es vor, dass ich von Calyx träumte. Besonders an Tagen, an denen es irgendwelche Vorkommnisse mit ihm gab.
Aber noch nie war ein Traum so intensiv gewesen und hatte allein von ihm gehandelt. Darin hatte ich mich nicht einmal schlecht gefühlt, als ich meine Arme ausgestreckt und um seinen Nacken gelegt hatte. Brust an Brust hatten wir uns angeblickt, dann hatte er seinen Kopf auf meine Schulter gelegt und mit seinem Mund den Weg zu meinem Nacken gesucht.
Ich wischte mir die klebrigen Haare aus dem Nacken, stieg sofort unter die Dusche und musste kaltes Wasser benutzen, um mich zu beruhigen.
Je näher der Tag des Vollmondes rückte, umso nervöser wurde ich. Vielleicht hätte es mir unter normalen Umständen nicht viel ausgemacht, mich so lange nicht verwandelt zu haben. Aber allein die Tatsache, dass es mir verboten war, machte es mit jedem Gedanken daran noch reizvoller.
In mir herrschte solch eine Frustration und Zac machte die Sache nicht gerade einfacher. Er war ein wundervoller Freund, aber viel Verständnis für meine Gefühlsprobleme hatte er nicht. Oder es belastete ihn einfach nur zu sehr, darüber nachzudenken.
Ich sah in den Spiegel und atmete tief durch. Den Verband konnte ich auf keinen Fall weiter tragen. Viele hatten mich schon verwundert darauf angesprochen, wie lange sowas überhaupt dranbleiben musste. Besonders Betsy wollte endlich wieder mit mir durch die Schulgänge laufen, ohne dass wir wegen mir angestarrt wurden.
Also ließ ich meine Nase unbedeckt, als Zac und ich zur Schule fuhren. Bevor wir aus dem Auto stiegen beugte ich mich zu ihm herüber und küsste ihn lange. Für ihn und für uns tat ich das alles.
"Ich liebe dich wirklich sehr", murmelte Zac dann lächelnd und strich mir die Haare aus der Stirn.
"Ich liebe dich auch", erwiderte ich und fühlte mich ein wenig glücklicher als zuvor.
Als wir die Schule betraten, hielt ich seine Hand ganz fest. Der Geruch von Calyx lag schon ganz leicht in der Luft. Aber es roch gut. So gut hatte die Schule noch nie gerochen.
Den ganzen Tag über genoss ich das Gefühl, dass ich etwas so Angenehmes in der Nase hatte. Es erinnerte mich an den Duft des Waldes oder den, nachdem es geregnet hatte. Irgendetwas, was einem Gänsehaut auf die Haut trieb, aber doch im Innern eine Wärme auslöste.
Nach dem Unterricht ging ich zur Turnhalle und zog mich in den Umkleiden um. Selten hatte ich mich so aufs Training gefreut. Direkt nachdem ich auf das Spielfeld gestürzt war schnappte ich Owen den Ball weg und begann, wie wild über das Feld zu dribbeln.
Irgendwie zog ich die Jungs mit in meine Begeisterung, sodass wir schon zu spielen begannen, obwohl noch nicht alle da waren.
Einige Minuten später vernahm ich diesen Geruch so heftig, dass ich beinahe paralysiert auf dem Spielfeld stehen geblieben wäre. Stattdessen rannte ich einfach schneller und dribbelte härter und legte mich ins Zeug wie noch nie. Am liebsten würde ich sprinten und sprinten und sprinten, bis meine Füße langsam zu Pfoten wurden.
Calyx stand mit einem Mal vor mir, nahm mir mit einer schnellen, eleganten Bewegung den Ball ab und passte ihn schnell weit weg zu einem Mitspieler.
"Glückwunsch zur Nasenheilung", grinste er und betrachtete mein Gesicht.
Ich sah zurück und betrachtete ihn eingehend. Noch nie war mir aufgefallen, wie waldgrün seine Augen eigentlich waren und wie weich seine Lippen aussahen. Unwillkürlich dachte ich an meinen Traum und spürte ein Kribbeln im Nacken.
Er bemerkte, dass ich seinen Mund anstarrte und das Grinsen in seinem Gesicht verschwand. Als ich wieder in seine Augen sah, betrachtete er ebenfalls meine Lippen.
Mit rasendem Herz kämpfte ich mich aus dieser Erstarrung und rannte dem Ball hinterher. Wenn ich Calyx gleich nicht anspringen wollte, dann musste ich meine Energie auf ein anderes Ziel richten.
Calyx funktionierte danach nicht mehr richtig. Ständig machte er Fehler, die ich ihn beim Spielen noch nie hatte machen sehen. Einmal fiel er fast über seine eigenen Füße.
Meine Konzentration war aber auch nicht gerade die beste, besonders weil ich den ständigen Geruch noch nicht gewöhnt war.
"Fahren wir alle noch was essen?", fragte Buh atemlos nach dem Training. Das taten wir manchmal und nachdem ich den letzten Montag mit Zac verbracht hatte, würde ich gerne mitkommen. Obwohl es viel verlockender war, jetzt durch den Wald nach Hause zu sprinten.
"Okay", meinte ich. "Ist noch Platz im Auto?"
"Sicher", winkte Buh ab. "Treffen wir uns draußen?"
"Jap", meinte ich und beeilte mich anschließend mit dem Umziehen. Wenigstens ein bisschen frisch gemacht ging ich raus zum Parkplatz und ging auf Buhs Wagen zu.
"Leider schon alles voll, Phee. Fahr bei Cal mit", sagte er mit hinterhältigem Grinsen.
"Du sagtest, es wäre noch Platz im Auto." Grimmig betrachtete ich die vier anderen im Wagen.
"Aber nicht, in welchem."
Hinter mir hupte es und ich entdeckte Calyx auf dem Fahrersitz.
Genervt stampfte ich auf das Auto zu. Mir war klar gewesen, dass er wahrscheinlich mitkommen würde. Aber nicht, dass ich ihm so nah kommen müsste.
Ich stieg auf den rechten Rücksitz möglichst weit weg vom ihn und öffnete augenblicklich das Fenster so weit es ging. Der pure Geruch hier drin machte mich verrückt.
"Bin ich etwa dein Taxifahrer?", kommentierte Calyx schmunzelnd meine Sitzplatzwahl.
"Ja. Folgen Sie dem roten Wagen, so schnell wie es geht."
"Aber natürlich, mysteriöse Frau", erwiderte er grinsend. Als er den Motor startete und den Rückwärtsgang eingelegt hatte, drehte er sich um und legte den Arm um den Beifahrersitz. Er warf mir einen kurzen Blick zu, woraufhin mein Herz zu rasen begann, dann richtete er konzentriert den Blick auf die Heckscheibe, als er mit einer Hand am Lenkrad rückwärts ausparkte.
Ich bemühte mich wirklich sehr, nicht seinen Oberarm auf dem Sitz vor mir zu betrachten und sah einfach rechts aus dem Fenster.
"Hast du schon Pläne für den Vollmond?", erkundigte ich mich, ein bisschen von meinen Gedanken ablenkend, welche ständig zu seinen Armen zurückkehrten.
"Eine grobe Vorstellung eher", gab Calyx zu und wandte sich nun wieder nach vorne.
Ich auch. Wahrscheinlich würde ich mich im Haus des Alphas im Keller einsperren müssen. Von dieser Idee war ich absolut nicht begeistert, aber ich wollte einfach kein Risiko eingehen. Als Wolf fühlte ich meine Naturinstinke um einiges stärker und er sehr wahrscheinlich auch.
Für die Mitglieder seines Rudels würde das sicher wieder eine aufregende Nacht werden. In der Vollmondnacht waren die Verwandlung und die Wolfsgestalt am stärksten. In so ganz neuem Revier mit der Nähe eines anderen Rudels ... Hoffentlich würde da nichts schief gehen.
Hin und wieder sah ich zu Calyx herüber. Sein Blick war stets auf die Straße gerichtet. Er war ein wirklich guter, aufmerksamer Fahrer. Die eine Hand lag auf dem Lenkrad, die andere locker auf dem Schaltknüppel.
Um ihn nicht die ganze Zeit anzustarren, blickte ich aus dem Fenster und beobachtete, wie schnell die Bäume und einzelnen Häuser an uns vorbeirauschten, obwohl sich die Wolken am Himmel nicht einen Millimeter bewegten. Wie unglaublich klein wir doch waren.
Schneller als erwartet waren wir am Ziel angelangt. So bald wie möglich stieg ich aus dem Auto und eilte zu den anderen. Wir betraten das Bistro und ich setzte mich zügig zwischen Buh und Owen, damit ich Calyx nicht schon wieder so nah kam.
Eine Angestellte rauschte herbei, lächelte uns freundlich an und wir gaben unsere Bestellung auf. "Einen Schokomilchshake und zwei Schinkensandwiches", entschied ich mich zu dem, was ich hier meistens bestellte.
Calyx blickte mich kurz verwundert an, dann wendete er sich wieder der netten Frau zu. "Dasselbe bitte, aber nur ein Sandwich."
Die nächste Stunde war ich relativ wortkarg. Meine Gedanken schweiften immer wieder zur baldigen Vollmondnacht zurück, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte.
Als wir schließlich das Bistro wieder verließen hatte ich mich dazu entschlossen, den anderen eine Ausrede aufzutischen, damit ich nach Hause laufen konnte. Niemand war verwundert, als ich mitteilte, dass ich noch Schulsachen kaufen musste. Nur Calyx sah mich an, als wüsste er, dass ich nur nicht nochmal mit ihm im Auto sitzen wollte.
Bevor ich mich verabschieden konnte, raste ein schwarzer Jeep an uns vorbei. Er rauschte nur knapp an Buhs Wagen vorbei und parkte ein paar Meter entfernt von uns unsauber in die Parklücke ein.
"Hey!", rief Buh wütend. "Das war ganz schön knapp!"
"Reg dich ab, Arschloch", beschimpfte der jugendliche Fahrer ihn, woraufhin seine Freunde lachten.
Empört richtete ich mich auf. Auch Calyx Körper spannte sich merklich an.
Owen trat mit geballten Fäusten vor, doch Buh hielt ihn zurück. "Du kannst froh sein, dass kein Kratzer drin ist. Das wäre teuer geworden", ignorierte Buh die Beleidigung.
"Ja ja", erwiderte der Fahrer nur und verschwand mit seinen Freunden im Bistro.
"Also dem hätte ich gerne eine verpasst", quetschte Owen zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
"Dann wär der mickrige Kerl nie wieder aufgestanden", scherzte Buh und stieg mit den anderen ins Auto. "Bis morgen", rief er aus dem offenen Fenster, während sie vom Parkplatz fuhren.
Bevor Calyx sich umdrehen konnte, war ich verschwunden.
◯
Als der Tag des Vollmondes angeschlagen hatte, ging ich schon nachmittags, etwa drei Stunden bevor es dunkel werden würde, in den Keller des Alphas.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich die Zelle erblickte. Alles, jeder Teil von mir, wollte umdrehen und davon rennen. Meine Atmung wurde mir schwer.
Bevor es zu spät wurde, rannte ich in die Zelle und warf das Tor hinter mir zu. Der Schall war zunächst das einzige, was ich hörte. Dann waren es meine Schritte über den Betonboden, als ich wie ein wildes Tier hin- und herlief.
Ich konnte sieben Schritte machen, bevor ich wieder umdrehen musste. Es gab kein Fenster. Es war kalt und eng und die Wände schienen immer näher zu kommen. Die Luft war stickig und schien jetzt schon völlig aufgebraucht zu sein.
Panisch umfasste ich die Gittertür und rüttelte daran. Aber gegen sie würde ich nicht einmal als Wolf etwas ausrichten können.
Ich versuchte meine Atmung zu beruhigen und blinzelte aufsteigende Tränen hinfort.
"Ophelia, Schatz", hörte ich plötzlich meine Mutter. Sie kam aus den Schatten des Eingangs hervorgetreten und trat an das Zellengitter.
"Hier hat man früher also gefangene Lykanthrophen gehalten", murmelte sie und sah sich um. Bevor ich es realisieren konnte, vernahm ich ein klickendes Geräusch und die Tür sprang auf.
"Mom, nein!", rief ich erschrocken und stolperte einige Schritte zurück. "Du darfst mich nicht rauslassen!"
"Ich lasse dich nicht raus", entgegnete meine Mutter, trat zu mir und schlug das Tor zu. Dann warf sie den Schlüssel außerhalb unserer Reichweite und setzte sich auf den kalten Boden. "Ich bleibe bei dir."
Verstört blickte ich sie an. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass sich irgendjemand für mich so quälen würde.
"Dein Vater lässt uns morgen früh raus, also mach es dir gemütlich", erklärte sie und streckte sich gähnend.
"Danke, Mama", war das einzige, wozu ich mich zu sagen im Stande fühlte ohne in Tränen auszubrechen.
"Klar doch, mein Schatz. Als könnte ich dich hier ganz alleine lassen."
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