1 - Throw

- Vier Jahre später -

- Ophelia -

Ich hatte noch zwanzig Minuten Zeit, bis ich im Klassenzimmer sitzen musste.

Tief seufzte ich, dann schloss ich die Augen. Atmete einmal ganz tief die frische Luft des Waldes ein, bis mein Brustkorb zu platzen drohte. Dann entließ ich langsam allen Sauerstoff aus meinen Lungen, bis ich mich ganz leer fühlte.

Ich hörte das Plätschern des Flusses neben mir und das Zwitschern der Vögel in den Bäumen. Als ich mich noch mehr konzentrierte, konnte ich in einiger Entfernung vernehmen, wie eine Rehmutter mit ihrem Kitz über den Boden scharrte.

Dann öffnete ich die Augen und sah in die Baumkronen, betrachtete die Teile des blauen Himmels, die zwischen dem Grün der Blätter hervorstachen.

Wie klein man doch war im Gegensatz zu diesem weiten, weiten Himmel und den mächtigen Baumstämmen, die so hoch hinausragten.

Ich benutzte alle Sinne, tat einfach alles, um den Moment noch ein bisschen mehr in die Länge zu ziehen und ihn voll auszukosten. Doch bald sagte mir meine innere Uhr, dass ich mich auf den Weg machen musste.

Also stand ich auf und klopfte mir ein wenig Erde von der Hose. Gerne wäre ich noch etwas länger geblieben und hätte mir noch mehr Energie des Waldes geliehen, um den Schulalltag zu überstehen.

Ich rannte los und bahnte mir meinen Weg zwischen den Bäumen hindurch. Eigentlich war die Schule nicht einmal so schlimm. Es war toll, wie viel ich lernen konnte. Toll, mich nach dem Unterricht beim Basketball auszuleben oder die Runden auf dem Sportplatz im Sportunterricht zu sprinten.

Aber oft fühlte ich mich beengt in den Klassenzimmern und Schulgängen, oft grundlos beobachtet oder provoziert von den etlichen anderen Schülern und wütend, wenn man uns die Freizeit mit vielen zusätzlichen Pflichten nahm.

Den Schulalltag machten mir gottseidank mein Freund Zachary und meine beste Freundin Betsy leichter.

Ich konnte das Schulgelände hören und riechen, bevor ich es sehen konnte.

Je näher ich käme, umso schwerer würde es werden, das Getuschel der Schüler auszublenden und mich nicht auf ihren fremden Geruch zu konzentrieren. Auch wenn ich schon seit Jahren auf diese Schule ging, der Geruch von Menschen würde mir wohl nie völlig vertraut werden.

"Phee!", rief jemand hinter mir, als ich die Hälfte des Hofes überquert hatte. Ich erkannte seine Stimme und seinen Geruch und drehte mich um, damit ich meinen Freund begrüßen konnte.

"Gerade noch pünktlich", bemerkte er dann mit einem Blick auf sein Handy.

Ich gab ihm einen Kuss auf den Mund und strich ihm durch die hellbraunen, fast schon straßenköterblonden Haare. "Dir auch einen guten Morgen, Zac."

Lächelnd nahm er meine Hand. Er wirkte genauso müde wie die ganze letzte Woche schon. "Du solltest dich ein bisschen mehr entspannen. Die Inspiration für das Kunstprojekt wird nicht gerade aus Stress und Schlafmangel entstehen", gab ich zu Bedenken, seine Hand streichelnd. 

"Ja, du hast ja Recht", seufzte er. Dann betraten wir das Schulgebäude und mussten uns an der nächsten Weggabelung schon wieder trennen.

"Wir reden später darüber, okay?", versicherte er mir, wartete aber keine Antwort ab. "Wir sehen uns dann in Mathe", meinte er und schlug die andere Richtung ein. Ich sah ihm hinterher und beobachtete seinen leichtfüßigen Schritt über den quietschigen, hässlichen Boden. Bedrückt sah ich zu, wie er hinter der nächsten Ecke verschwand. Gerne hätte ich ihm einen Teil seiner Last abgenommen, aber wie? Dieses Projekt könnte darüber entscheiden, ob er ein Stipendium bekam oder nicht.

Mit einem Blick auf die Uhr beeilte ich mich und betrat noch vor dem Klingeln das Klassenzimmer. Ich setzte mich neben Betsy, die schlafend auf dem Tisch lag. Grinsend schüttelte ich sie an der Schulter, bis sie müde ihre Augen öffnete. Menschen waren dauernd und ständig müde, dabei bewegten sich die meisten ja garnicht viel.

"Mann, Phee, lass mich schlafen", grunzte sie. "Ich habe die ganze Nacht Sherlock geguckt, hab ein bisschen Mitleid."

"Ich habe Mitleid, Mrs. Harding aber nicht. Sie wird dich schon wieder nachsitzen lassen", warnte ich, woraufhin sie sich geschlagen aufrichtete und den Kopf in die Handfläche stützte.

Der Unterricht begann, aber ich war die gesamte Stunde mit meinen Gedanken woanders. Nicht nur bei Zacharys Sorgen, sondern auch bei der bevorstehenden Vollmondnacht. Je mehr Unterrichtsstunden vergingen, umso ungeduldiger wurde ich. Mein Drang, einfach in den Wald zu rennen, wurde immer stärker. Auch wenn es noch Stunden dauerte, bis die Sonne untergehen würde.

Als die Klingel das Ende der letzten Stunde ankündigte sprang ich erleichtert auf. Meine Haut kratzte und meine Fingernägel kribbelten. Ich verabschiedete mich von Betsy und wartete am Schuleingang auf Zac, welcher aber nicht erschien.

Ungeduldig stampfte ich zu den Kunsträumen im ersten Untergeschoss. Der Anblick meines Freundes, mit einem Bleistift im Mund, etwas unzufrieden auf einem großen Stück Papier radierend, beruhigte mich etwas. Er schien konzentriert zu sein und endlich eine Idee zu haben.

"Hey", sagte ich leise und blieb am Türrahmen angelehnt stehen. "Phee", grüßte er und wischte sich die Haare aus der Stirn. "Ich hab mir was einfallen lassen, was hältst du davon?", wollte er wissen und lehnte sich zufrieden zurück.

Meine Beine kribbelten in dem Drang, endlich dieses Gebäude zu verlassen. Ich konnte wie immer nicht verstehen, wie er kurz vor Vollmond so ruhig sein konnte. Aber ihm zuliebe trat ich ein paar Schritte näher und betrachtete die Skizze, welche eine dreidimensionale Konstruktion eines Waldstücks darstellte. 

"Sieht gut aus", brachte ich hervor. Der Anblick reizte mein Verlangen nur noch mehr. "Lass uns gehen, wir können ja morgen weitermachen", schlug ich vor.

"Ich bleibe noch ein bisschen", erwiderte Zac, stockte dann aber bei meinem Gesichtsausdruck. "Hör zu, ich bin vorsichtig. Ich mache nur noch eine Stunde weiter, höchstens, dann renne ich auf direktem Weg nach Hause."

Zweifelnd sah ich ihn an, schüttelte dann aber den Kopf. Er konnte wohl am besten einschätzen, wie sich sein Körper wohl gerade anfühlte. 

"Okay, bitte pass auf dich auf", sagte ich und presste dann meine Lippen zusammen.

Zac stand auf und umarmte mich fest. Dann gab er mir einen langen Kuss. Als er sich von mir löste, grinste er mich an. "Jetzt mach schon, dass du wegkommst. Dir wächst ja gleich ein Oberlippenbärtchen."

Schockiert fuhr ich mir übers Gesicht, doch es waren keine ungewöhnlichen Haare zu spüren.

"Idiot!", fuhr ich ihn an, musste aber auch ein bisschen lachen. "Sieh zu, dass du rechtzeitig zu Hause bist."

Und dann konnte ich endlich, endlich das Schulgelände verlassen. Sobald ich im Wald war rannte ich und genoss, wie der Wind an mir vorbeizog. All diese Energie musste irgendwo hin. Wie konnte Zac nur weiter im Raum herumsitzen?

Die Bewegung meines Körpers fühlte sich so gut an, dass ich immer schneller und schneller rannte. 

Für den Weg, den ein normaler Mensch rennend in 60 Minuten zurückgelegt hätte und den ich normalerweise in 30 zurücklegte, brauchte ich nur 20 Minuten und fand mich dann im kleinen, von Wald umgebenen Dorf unseres Rudels wieder. 

Die meisten Bewohner befanden sich draußen und erledigten irgendwelche Arbeiten. Schlugen Holz oder bastelten an ihren Häusern und Gärten herum. Viele waren sicherlich joggen, um dem inneren Druck ein wenig nachzukommen.

Ich eilte zu unserem Haus und schloss die Haustür auf. Schon im Flur wusste ich, dass niemand zu Hause war. Mich wundernd überlegte ich, ob meine Eltern irgendetwas erwähnt hatten, aber mir fiel nichts ein. Schlecht gelaunt rannte ich auf mein Zimmer, schleuderte meine Tasche in die Ecke und zerrte mir die Schuluniform vom Leib. Während ich mich umzog, ärgerte ich mich darüber, sie jetzt auch noch suchen zu müssen.

Schließlich stürmte ich aus dem Haus und versuchte, ihren Geruch zu wittern. Erstaunt bemerkte ich, dass sich die beiden im Haus des Alphas zu befinden schienen. Es wurde immer dunkler und der Vollmond rückte näher. Wenn sie nicht im Haus waren, hätte ich sie irgendwo im Wald vermutet.

Ich rannte zur Eingangstür, klopfte und drückte dann die Klinke herunter. Meine Augenbrauen zogen sich zusammen, als ich einen fremden Geruch bemerkte. Alarmiert zog ich die Tür auf und starrte in das Gesicht eines hoch gewachsenen, mittelalten und fremden Mannes. 

Sofort wusste ich, dass er einem anderen Rudel angehörte. Einem mir fremden Rudel, welches ich noch nie gerochen hatte. Der Geruch war so fremd, dass mir fast schlecht wurde.

Unwillkürlich entrann mir ein Knurren aus der Kehle und ich stützte beide Arme am Türrahmen ab, um ihm den Weg zu versperren.

Aber dann vernahm meine Nase auch noch etwas anderes. Irgendetwas mischte sich unter seinen stinkenden, fremden Geruch. Etwas, wovon sich meine Nackenhaare aufstellten und mein Herz zu rasen begann.

Dieser Geruch war nicht der seine. Aber er klebte an ihm...

"Ophelia, es ist alles in Ordnung!", rief plötzlich jemand vom hinteren Teil des Hauses.

Ausdruckslos betrachtete mich der fremde Mann vor mir. Seine braunen Augen funkelten, das ernste Gesicht hatte Narben und braun gebrannte Haut.

Mit stark klopfendem Herz trat ich einen Schritt zur Seite, um den Mann hindurch zu lassen. Ich ärgerte mich über mein gereiztes Verhalten. Aber andererseits fand ich es vollkommen gerechtfertigt, denn es war bald Vollmond und ein fremder Mann eines fremden Rudels stand im Haus unseres Alphas. 

Wortlos ging der Mann an mir vorbei, woraufhin ich schnell die Haustür schloss.

"Wer war das?", platzte es aus mir heraus, obwohl er mich mit Sicherheit noch hören konnte.

"Setz dich erst einmal", sagte meine Mutter, woraufhin ich sie entgeistert anstarrte. Setzen? Jetzt? Ich wollte alles andere, nur nicht mich hinsetzen.

Unser Alpha Algernon und mein Vater standen im Raum. Mein Vater rieb sich müde über das Gesicht. "Das war Alpha Davis. Er hat uns angekündigt, dass sein Rudel am anderen Stadtrand in ein Dorf einziehen wird", erklärte er mir.

"Was?", entfuhr es mir schockiert. "Warum?"

"Er hat nur gesagt, dass sie sich langfristig niederlassen wollen und dieser Ort perfekt dafür wäre", antwortete meine Mutter, Beta unseres Rudels.

"Er ist perfekt, wenn nur ein Rudel darin lebt und es keine Zwischenfälle mit anderen gibt. Wie lange hat man dafür gekämpft, dass Wölfe hier geschützt werden und nicht gejagt werden dürfen? Wir wissen doch überhaupt nichts über sie. Vielleicht sind sie unzivilisiert, verantwortungslos, machen alles kaputt, was wir uns aufgebaut haben", donnerte ich wütend.

"Das hat uns auch zu Bedenken gegeben, Ophelia", mischte sich Alpha Algernon nun ein. "Aber ihr Rudel ist unserem zahlenmäßig überlegen. Es ist nicht so leicht, sie abzuweisen."

Wut und Unverständnis drohte mich zu überkommen. So etwas gerade heute, so kurz vor Vollmond.

Ich sah aus dem Fenster. Die Dämmerung würde bald einsetzen. "Ich muss hier raus", murmelte ich, verließ schnell das Haus und rannte in den Wald hinein. 

Meine Gedanken rasten und ich erinnerte mich daran, wie ich vor zehn Jahren als achtjähriges Mädchen mit meinem Rudel von Colorado nach Minnesota gezogen war. Hier gab es die zweitgrößte Wolfspopulation der USA und im kleinen Städtchen Poundville schützte uns das Wolfsmanagement gerade so vor illegalen Wilderern. 

Uns allen war ständig bewusst, dass der Wolf von der Liste der gefährdeten Tiere gesetzt wurde und die Situation somit in anderen Gebieten ganz anders aussah.

Dieses neue Rudel gefährdete unser aller Sicherheit. Allein das machte mich so wahnsinnig wütend, dass ich schon vorzeitig leichte Anzeichen einer Verwandlung spürte.

Bei den Erwachsenen würde es wohl noch zwei bis drei Stunden dauern, bei mir eine.

Meine Verwandlungen aber waren generell noch unkontrolliert. Mit achtzehn Jahren hatte man sie grundsätzlich nicht sehr unter Kontrolle, dann kam noch meine Wut über das andere Rudel hinzu. Und... Zachary. 

Mist, wo war er?

'Zac, wo bleibst du?', schrieb ich ihm. 'Beeil dich, ein neues Rudel ist am Stadtrand'.

Ich versuchte, ihn anzurufen, doch niemand ging ran.

Meine Atmung wurde zittrig, wütend rannte ich weiter und weiter in den Wald hinein. Meine Haut juckte, meine Fingernägel kribbelten und meine Zähne schmerzten. Warum begann meine Verwandlung so schnell und stark? Ich fing an, mir meine beengende Kleidung vom Körper zu zerren.

Ich rannte und rannte weiter, bis ich plötzlich nach oben blickte und den Vollmond sah.

Augenblicklich verließ mich alle Kraft aus meinem Körper und ich fiel zu Boden, die Hände auf den Boden abgestützt und die Finger in die Erde gekrallt.

Dann wartete ich, bis alle Knochen meines Körpers brachen und sich nacheinander transformierten. Wie sich die Poren meiner schweißüberdeckten Haut öffneten und dichte Haare herauswuchsen. Wie sich meine Sinne verschärften und sich meine ganze Welt veränderte.

Das alles war normal, wenn man ein Lykantroph war. 

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