#1 Bücher

Vor wenigen Wochen befand ich mich in einem Zustand des Glücks und der Zufriedenheit. Ich liebte meine Leben sehr und es hätte nicht besser laufen können. Von einem Tag auf den anderen wurde mir allerdings alles genommen, was mir je wichtig war. Ich ahnte zu dieser Zeit noch nicht, welchen Schmerz und welche Herausforderungen erst noch auf mich zukommen würden.

Heute war mein ersten Tag an einer neuen Schule in einer fremden Stadt. Genauer gesagt in einer winzigen Kleinstadt. Für mich als Stadtkind eine große Umstellung. Der Unterricht verlief zu meinem Glück problemlos, da ich über das nötige Wissen verfügte, wie ich feststellen durfte. Die Lehrer schienen ebenso nett zu sein und machten es mir nicht schwer mich vorzustellen. Das war eine Erleichterung.

An meiner ehemaligen Schule war ich sehr beliebt. Ich hatte enge Freundschaften, einen liebenswerten Freund und konnte meinen geliebten Sport ausüben. Doch nun war von all dem nichts mehr übrig. Das Traurigste daran war, dass es mir vollkommen gleichgültig war. Ich sehnte mich nur danach meine Mom zurückzubekommen. Doch das war aussichtslos, denn wie sollte sie jemals zu mir zurückkehren?

Nun lebte ich hier bei Blake, meinem Erzeuger. Ich nannte ihn nicht Vater, Dad oder dergleichen, da er in den letzten achtzehn Jahren niemals für mich da war. Tatsächlich erhielt ich von ihm nicht einmal eine Karte oder einen Anruf zu meinem Geburtstag oder zu den Feiertagen. Über all die Jahre war sein einziges Handeln was mich betraff, finanziell aufzukommen. Obwohl das überhaupt nicht erforderlich war, denn Geld hatten wir genug.

Ich hätte nicht erwartet, dass sich mein Weg einmal mit dem seinen kreuzen würde. Wir kannten uns nicht, obwohl wir das gleiche Blut in uns trugen. Das letzte Foto, das ich von ihm sah, war aus einer Zeit, in der ich noch nicht einmal geboren war. Seine Haare und seinen Bart trug er nun anders als damals, aber ansonsten hatte er sich nicht wirklich verändert.

Meine Eltern hatten niemals Kontakt zueinander. Hätten sie ihn doch nur gehabt. Vielleicht wäre es dann jetzt nicht so kompliziert und schwer. Mir war bewusst, dass er mich nicht bei sich haben wollte, aber es gab auch niemanden mehr, der mich sonst aufnehmen konnte. Meine Familie bestand nur aus ihm und mir. Familie?! Nein, wir waren zwei fremde Menschen, die gezwungen waren, ab jetzt gemeinsam zu leben. Und ich hatte keine Ahnung, wie das funktionieren sollte. Immerhin wollte ich genauso wenig bei ihm sein.

In der neuen Schule wurde ich von allen beobachtet. Der Gedanke, der dabei in ihren Köpfen herumschwirrte, war klar: Das ist die Neue! Die Meinungen der anderen waren mir egal. Ich wollte keine sozialen Kontakten oder Freundschaften. Dafür fehlte mir gänzlich die Energie. Ich strebte danach, gute Leistungen zu erzielen, wie ich es bisher immer getan habe, um im nächsten Jahr ein Studium zu beginnen.

Mein Ziel war es, mich von meiner aktuellen Situation zu lösen und wieder auf meinen ursprünglichen Weg zurück zu finden. Ja, das hier war nur mein vorübergehendes Leben und ich würde gar nicht zulassen, dass ich mich daran gewöhnte oder es gar akzeptieren würde. Je schneller ich hier weg war, desto besser.

Nach Ende des Unterrichts begab ich mich auf dem Rückweg zu meinem Spind und ging dabei noch einmal den zuvor durchgeführten chemischen Prozess in Gedanken durch. Es lenkte mich von meinen schmerzhaften Erinnerungen und Gefühlen ab. Bislang hatte ich keinen anderen Weg gefunden. Verarbeiteten würde ich das alles ganz sicher nie. Dafür war es ein zu großer Kampf morgens täglich aus dem Bett zu kommen und weiter zu machen.

Aus dem nichts rempelte mich jemand an. Ich verlor die Kontrolle über die Bücher in meinen Armen, stürzte und fand mich auf meinem Gesäß wieder. Doch mit Schwung wurde ich wieder hoch gewirbelt und unvermittelt an eine muskulöse Brust gedrückt. Das alles passierte so schnell, dass ich einen Augenblick brauchte, um zu begreifen was überhaupt passiert war.

Als ich aufblickte, lächelte mich ein blonder Typ mit blauen Augen an, der mich immer noch festhielt. Er roch nach Mosusch, Leder und gleichzeitig nach Frühling. Männlich und frisch. Das kalte Leder seiner Jacke spürte ich durch meine Kleidung. Wahrscheinlich war er von draußen reingekommen. Er mochte attraktiv und stark sein, doch in meinem Inneren regte sich keine Emotion. Aber wie auch, schließlich war mein Herz in millionen von Teilen zerbrochen.

Ich fluchte genervt, als ich wieder zu mir kam und wiederholte gedanklich den Prozess, während ich meine Bücher vom Boden aufhob. »Lass mich dir helfen«, unterbrach mich der Fremde jedoch erneut. »Ist das dein Ernst? Jetzt muss ich von vorne anfangen! Gibt es noch mehr von dir oder habe ich einfach nur Glück gehabt?«, fügte ich gereizt hinzu. Sein Grinsen wurde breiter, als er antwortete: »Du hattest Glück. Ich bin...«

Ich war nicht daran interessiert zu wissen, wie sein Name war. Hatte er überhaupt eine Ahnung, was hier vor sich ging? Dieses unsensible Grinsen konnte ich keine Sekunde länger ertragen als nötig. Wie konnte er nur so glücklich sein, während ich mich so elend fühlte und mit aller Kraft darum kämpfte, nicht von meinen Gefühlen überschwemmt zu werden und auseinanderzubrechen? Ich blende den Typen aus und passierte ihn auf dem Weg zum Ausgang der Schule.

Ich bemerkte Blakes Auto auf dem Parkplatz vor der Schule und näherte mich seinem Wagen. Das Fass war damit übergelaufen und ich machte meinem Ärger luft. »Ich werde zu Fuß gehen. Weißt du, wie peinlich das ist? Ich bin achtzehn Jahre alt und brauche nicht mehr abgeholt zu werden!« Blake dagegen schüttelte den Kopf. »Ich möchte, dass du einsteigst, Isabelle.«

Kaum zu glauben, dass meine Wut noch größer werden konnte, doch so war es. »Und ich wollte damals einen Vater. Da haben wir wohl beide Pech gehabt!« Es war unfair, aber was war schon fair. Ich begab mich zu Fuß auf den Heimweg. Blake schwieg, aber fuhr direkt neben mir her, sowie er es schon auf den Weg zur Schule hin getan hatte. Dennoch hatte ich nicht vor, in sein Auto zu steigen. Er war nie für mich da gewesen und jetzt, wo ich erwachsen war, brauchte ich ihn nicht mehr. Ich brauchte niemanden!

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