~𝙒𝙚𝙧 𝙯𝙪𝙢 𝙏𝙚𝙪𝙛𝙚𝙡 𝙗𝙞𝙨𝙩 𝙙𝙪, 𝘾𝙝𝙧𝙞𝙨𝙩𝙞𝙖𝙣?~

Christian sieht kurz zu ihr. Sein Gesicht ist nicht zu deuten. Chloe bekommt ein merkwürdiges Gefühl im Bauch.
„Geben Sie mir einen Moment unter vier Augen, Officer?", fragt er den jungen Polizisten und führt ihn ein paar Schritte von Chloe weg.
Was soll das? Darf sie nicht wissen, was er zu sagen hat? Er hat doch nichts verbrochen. Es war Notwehr. Sie kann das bezeugen.

Chloe steht auf und geht zu den beiden Männern. Christian bemerkt es und kommt zu ihr, bevor sie etwas vom Gespräch mit anhören kann.
„Was hast du ihm gesagt?"
„Ich habe ihm unsere Daten gegeben. Er prüft das gerade."
Chloe glaubt ihm nicht, stellt aber vorerst keine weiteren Fragen. Sie fühlt noch immer die Berührungen der kalten Hände auf sich. So wie damals vor zehn Jahren. Die Erinnerung lässt sie schaudern.

„Geht es dir wirklich gut?"
Nun klingt Christian wieder besorgt.
„Ja."
Der Polizist kommt zurück.
„Sie können gehen. Es hat sich alles bestätigt, was sie gesagt haben. Wir kümmern uns um den Rest."
„Vielen Dank, Officer. Ähm... wäre es vielleicht möglich sie nach Hause zu fahren? Sie ist immer noch ziemlich aufgewühlt."
„Natürlich. Mein Kollege nimmt sie mit."

Das kann Chloe nun überhaupt nicht verstehen. Wieso stellen die Polizisten keine weiteren Fragen. Gut sie hat nicht viel gesehen, aber Christian könnte dabei helfen ein Täterprofil zu erstellen. Wieso lässt man sie einfach gehen?
Chloe zieht die Jacke enger an sich. Sie zittert, obwohl es doch gar nicht kalt ist. Es sind bestimmt zwanzig Grad.

Im Streifenwagen herrscht Stille. Ab und zu geht der Polizeifunk, aber nach einer Weile stellt der Polizist ihn ab. Gelegentlich wirft Chloe verstohlene Blicke zu Christian hinüber, der links neben ihr sitzt. Er schaut desinteressiert aus dem Fenster. Wo ist er nur wieder hergekommen? Wie hat er es geschafft so viele Männer auf einmal zu besiegen? Wie viele sind es gewesen? Sechs oder sieben?

Sie haben nicht nach Spaß ausgesehen und sofern Chloe das beurteilen kann, sind sie auch ziemlich stark gewesen. Christian muss ganz schön was drauf haben, um diese Leute besiegen zu können. Sie beschließt ihn darauf anzusprechen:
„Sag mal, wie hast du das vorhin gemacht?"
Er sieht sie nicht an. Blickt nur weiter aus dem Fenster des langsam fahrenden Wagens.

„Was meinst du?"
„Na das eben? Wie kann jemand so stark sein?"
„Glaubst du ich habe diese Muskeln nur zur Zierde?"
Er lächelt, sieht sie aber immer noch nicht richtig an. „Ich habe in Kalifornien mal einen Judo-Club geführt."
In Kalifornien? Ist er dort vorher gewesen? Das würde zumindest seine Bräune erklären. Es sei denn er geht regelmäßig ins Sonnenstudio.
„Aha", antwortet Chloe und tut desinteressiert. In Wahrheit ist sie mehr als das. Sie kann gar nicht aufhören zu denken.

Als der Wagen vor ihrem Haus anhält, schmerzt ihr Kopf und sie fühlt sich immer mehr unwohl. Christian hat ihr heute das Leben gerettet und trotzdem wirkt er nicht gerade Vertrauen erweckend.
Es ist doch verrückt. Sie hat sich in den letzten zehn Jahren wie ein Psycho benommen und nichts ist passiert. Dann taucht er auf einmal auf und schreckliche Dinge geschehen. Seit zehn Jahren hat sich Chloe nicht mehr so gefürchtet.

Christian begleitet sie bis in ihre Wohnung. Bloß um sicher zu stellen, dass dort alles in Ordnung ist. Es scheint niemand hier gewesen zu sein. Wieso erleichtert ihn das? Es ist deutlich zu sehen.
„Geht's dir wirklich gut?", fragt er jetzt zum wiederholten Male.
„Sicher."
Nichts ist in Ordnung! Wer waren diese Kerle? Hatten sie das geplant? Haben sie auf Chloe gewartet oder war sie nur mal wieder zur falschen Zeit am falschen Ort?
„Ich mache dir einen Tee."

Christian geht in die Küche.
„Hör mal, das brauchst du nicht."
Chloe schlurft ihm hinter her. Doch Christian hat schon den Wasserkocher in der Hand und lässt Wasser in der Spüle hinein laufen. Dabei fällt ihm auf wie dreckig doch seine Hände noch sind.
„Sorry...ähm...kann ich mal kurz dein Bad benutzen?"
Chloe nickt und deutet auf die gegenüberliegende Tür im Flur.
„Danke."

Während Christian sich erfrischt, macht sich Chloe einen Tee und geht mit der Tasse zur Couch im Wohnzimmer. Hier ist bisher immer ihr Zufluchtsort gewesen. Unbewusst lehnt sie sich zurück und will sich erneut in die Jacke von Christian kuscheln, als plötzlich ein Handy klingelt.
Es ist seines! Chloe holt das klingelnde Handy vorsichtig aus der rechten Brusttasche. Sie will gerade nach Christian rufen, da liest sie den Namen auf dem Display.
„Big Boss...", murmelt sie leise und wundert sich über den komischen Namen. Wer nennt sich denn bitte so? Sein Vater vielleicht?

Es hört auf zu klingeln. Ups! Sie hat ganz vergessen es Christian zu sagen. Naja er kann ja gleich zurück rufen. Chloe legt das Handy auf den Couchtisch vor sich und zieht die Jacke aus. Langsam wird es Zeit sich davon zu trennen. Schließlich gehört sie nicht ihr.
Gerade als sie die Lederjacke auf die braune Couch neben sich legen will, plumpst etwas auf den Boden.

Chloe bückt sich vor und sieht auf das silbrig metallene Ding, dass sich deutlich von ihrem weichen beige-weißen Teppich abhebt.
Chloe erstarrt. Eine Pistole! Es ist eine verdammte Pistole! Chloe hebt sie auf wie einen ekelhaften Käfer. Sie kann es nicht glauben. Wieso hat Christian eine Waffe bei sich? Und wieso hat er sie vorhin nicht benutzt? Chloe ist doch in Gefahr gewesen. Er hätte ihre Angreifer ganz einfach mit dieser Waffe bedrohen können.
Es ergibt alles einfach keinen Sinn.

„Chloe?"
Seine raue Stimme wirkt beunruhigt und lässt sie zu ihm herumwirbeln. Dabei lässt sie sowohl die Jacke als auch die Pistole fallen. Es gibt einen dumpfen Aufschlag, als sie den Boden berührt.
„Wer bist du, Christian?"
Er sieht verzweifelt aus. Wieso sagt er denn nichts?

„Antworte mir! Wer bist du?", fragt Chloe erregt. Sie will es jetzt endlich wissen.
„Du hast vorher in Kalifornien gelebt? Warum kommst du dann hier her? Hier gibt es nichts. Keine Partys, keine Action, nur ein langweiliges Kaff, wo jeder jeden kennt. Jemand wie du scheint hier geradewegs heraus."
Chloe erinnert sich an die Reaktionen ihrer Kommilitonen. Klar gibt es gut aussehende Männer hier, aber nicht so wie Christian.

„Ich weiß nichts über dich. Du bist immer dort, wo ich auch bin. Zufall? Vielleicht. Und was, wenn nicht? Du hast diese Typen besiegt, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne dabei selbst einen Kratzer abzubekommen. Noch dazu hast du..."
Chloe holt kurz Luft. Sie regt sich schon wieder zu sehr auf.
„...eine Waffe."

Er starrt sie schweigsam an. Steht nur mitten in ihrem Wohnzimmer und wirkt total fehl am Platz.
„Bist du ein Cop?"
Er schüttelt kaum merklich den Kopf.
„Was dann? Woher wusstest du, dass sie mich verfolgen?"
„Ich habe es nicht gewusst", sagt er endlich und tritt ein paar Schritte vor, doch Chloe weicht vor ihm zurück.
„Ich war zufällig in der Gegend und habe gesehen, wie sie hinter dir her sind."
Das klingt nach einer ganz schlechten Ausrede.

Chloes Augen schweifen ab, wandern zu der türkisfarbenen Raufasertapete und zu den Bildern an der Wand. Bilder aus ihrer Kindheit. Hauptsächlich mit ihrer Mutter zusammen. Ihr Vater ist nur selten da gewesen und deshalb nur selten auf einem Foto drauf. Chloe zwingt sich dazu nicht wieder durch zu drehen. Wenn er ihr wirklich etwas tun wollte, hätte er es längst getan, redet sie sich immer wieder ein.

„Willst du, dass ich gehe?"
Was ist denn das auf einmal für eine Frage? Sie will nur Antworten.
„Hör zu, Chloe, ich weiß welche Schatten dich verängstigen. Doch nicht alles im Leben ist schlecht. Nicht jeder Mensch ist böse."
„Das weiß ich!", schreit sie immer noch wütend auf ihn. „Ich brauche keine Weisheiten, Christian. Ich will die Wahrheit. Wieso hast du eine Pistole?"
„Bloß zur Selbstverteidigung."
„Und wieso hast du sie vorhin dann nicht benutzt?"

„Weil es zu gefährlich gewesen wäre." Auch seine Stimme wird lauter. „Ich hätte dich damit verletzen können. Außerdem hasst du doch Waffen."
Halt! Moment! Woher weiß er das?
„Ich meine das ist doch offensichtlich. Du kannst Gewalt und Waffen nicht sehen, sonst leidest du unter panischen Angst-Attacken und bekommst keine Luft."

„Hast du mir deshalb die Jacke übergeworfen?"
Er geht nervös im Zimmer auf und ab. Hat er wirklich erkannt, dass sie unter posttraumatischen Belastungsstörungen leidet?
„Ich kenne so etwas. Du bist nicht der erste Mensch, der unter sowas leidet. Ich habe viele Männer nach dem Krieg getroffen, die noch viel schlimmer dran sind, als du. Sie haben schreckliches erlebt und können niemals wieder normal leben."

Chloe brauch es nicht zu leugnen. Christian hat ihr nicht nur das Leben gerettet sondern auch genau erkannt, was ihr Problem ist. Nicht, dass sie ein Geheimnis draus gemacht hätte. Trotzdem hätte sie es gerne noch ein klein wenig länger für sich behalten. Es kommt ihr so vor, als wüsste er noch mehr über sie. Doch wie? Sie kennt ihn doch erst seid ein paar Wochen.
Nichtsdestotrotz hat sie das Gefühl er kennt sie, wenn er sie ansieht. Wenn sie ihn dagegen ansieht, sieht sie nicht Christian, sondern ein lebensgroßes Fragezeichen.

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