~𝙑𝙖𝙩𝙚𝙧𝙡𝙞𝙚𝙗𝙚~

Der Flug dauert etwa eine halbe Stunde und bringt sie zu einem abgelegenen Militärlager. Ein hoher Zaun umrandet das Gelände und verhindert durch viele Patrouillen fremdes Eindringen. Der einzige Zugang führt durch ein Tor, welches ebenfalls schwer bewacht wird. Die Meter bis dorthin laufen sie. Chloe staunt nicht schlecht, als man das Tor öffnet und etwa zehn Soldaten sich um sie herum tummeln. Sie geleiten sie ins Innere des Lagers. Dort befindet sich eine Vielzahl von großen Zelten, Fahrzeugen und noch mehr Soldaten. Überall nur Soldaten.

Christian bleibt vor einem Offizier höheren Ranges stehen und salutiert.
„First Lieutenant Hale meldet sich zurück."
Der Offizier salutiert ebenfalls und sieht dann zu Chloe.
„Willkommen, Miss Anderson. Bitte folgen Sie mir."
Ohne auf Antwort zu warten dreht der große, kantige Mann sich um und schreitet voran. Chloe zögert, doch Christian beugt sich zu ihr vor und grinst.

„Eine ganze Menge unverheirateter Männer hier, Chloe, aber keine Angst ich passe schon auf dich auf."
Sie verzieht das Gesicht zu einer Schnute. Was soll das jetzt? Glaubt er etwa sie hat Angst?
Er drückt die Hand gegen ihren Rücken und schiebt sie vor sich her.

Sie gehen an den vielen Leuten und Zelten vorbei. Es ist relativ viel Betrieb, dafür dass es so spät ist. Chloe fühlt langsam die Müdigkeit, die bis jetzt von der Aufregung verdrängt wurde.
Vor ihr taucht ein großes Gebäude auf. Vermutlich hatte es früher mal einen anderen Nutzen, doch jetzt wird es als Hauptquartier genutzt. Man führt sie mehrere Korridore entlang. Christian weicht nicht von ihrer Seite, bis sie vor einer Tür stehen bleiben.
Er klopft, wartet auf die Erlaubnis einzutreten und führt Chloe dann hinein.

Der Raum ist groß und sieht aus wie ein ganz normaler Büroraum. Vorne steht ein langer Tisch mit sechs Lederstühlen. An den Wänden hängen ein paar Bilder, die das Antlitz mehrerer Offiziere und Generäle zeigt. Das erkennt Chloe zumindest an ihrer Uniform. Zu ihrer Linken befindet sich ein großen Schreibtisch aus hellem Holz, mit allerhand Papierstapeln und Schreibkram darauf. Dahinter stehen zwei Nationalflaggen.

Der Raum wird durch viele kleine Deckenlämpchen erhellt und wirkt eher langweilig und ungemütlich auf Chloe. Christian bleibt vor dem Schreibtisch stehen und wirkt eher unbeteiligt. Erst als sich die Tür erneut öffnet, nimmt er Haltung an.

Als Chloe sich umdreht, erkennt sie den Grund für sein Verhalten. Ein hochrangiger General tritt ein. Er sieht aus, wie aus dem Ei gepellt. Seine Uniform ist sauber und ordentlich. Die Stiefel glänzen, und sein Barett sitzt wie angeklebt auf seinen kurzen, glatt gekämmten braunen Haaren. Seine blauen Augen wirken ernst, geben keine einzige noch so kleine gefühlsmäßige Regung von sich. Sie fügen sich perfekt in das Bild von seinem kantigen Gesicht, wo sich kein Muskel rührt, bis er vor Chloe stehen bleibt und sie mit einer nie erwarteten Erleichterung mustert.

„Chloe, ich bin froh, dass du sicher hier angekommen bist."
„Dad..."
Sie weiß gar nicht, was sie sagen soll. Sie hätte jetzt mit allem gerechnet, aber nicht mit ihrem Vater.
Dieser wendet sich an den stummen Soldaten, der wie angewachsen neben ihr steht und seinerseits jetzt keinen Muskel rührt.
„Gute Arbeit, Lieutenant", lobt der General und tritt hinter seinen Schreibtisch.

„Sir!"
Christian salutiert eifrig.
„Rühren, Lieutenant."
Christian nimmt eine halbwegs entspannte Haltung an, indem er die Beine leicht auseinander stellt und sie Arme hinter dem Rücken hält.
Irgendwie sieht er komisch aus, wie er da in zivilen Kleidern vor seinem Oberbefehlshaber steht und den angemessenen Respekt zeigt.
Chloe hat ihn echt kein Stück gekannt.

„Wie viel haben Sie meiner Tochter erzählt?"
„Keine Details, Sir. Sie weiß nur, dass sie in Gefahr ist."
„Also gut. Ich brauche Sie momentan nicht. Lassen Sie sich von Colonel Graham den Einsatzplan geben und gehen Sie ihn zusammen mit Lieutenant Mitchell durch."
„Wird er Teil der Mission sein?"
„Ja. Er wird voraus fahren und alles nötige vorbereiten."
„Sir!"
Christian nimmt erneut Haltung an und salutiert. Dann verlässt er ohne ein weiteres Wort oder einen Blick zu Chloe den Raum.

Dann ergreift ihr Vater wieder das Wort:
„Es ist schön, dich nach so langer Zeit wieder zu sehen. Du hast dich sehr verändert."
„Du nicht", antwortet sie trocken.
Es ist seltsam mit ihrem Vater zu sprechen, wo sie seit Jahren kein einziges Wort mit ihm gewechselt hat.

„Es tut mir leid, dass wir uns unter solchen Umständen wiedersehen müssen."
„Was für Umstände?",will sie ungeduldig wissen. Es fällt ihr schwer sich zurück zu halten.
„Eine Notfallsituation, könnte man so sagen."
„Würdest du es mir bitte endlich erklären, ohne dass ich dir jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen muss?"
„Setz dich."

Ihr Vater nimmt sein Barett ab, legt es vor sich auf den Schreibtisch und deutet auf einen der Stühle hinter Chloe.
Sie zieht einen davon an sich heran und nimmt Platz.
„Seit einigen Jahren bin ich aktiv in die Terrorbekämpfung eingeteilt. Sowohl Inlands als auch im Ausland. Was leider auch der Grund dafür ist, dass ich so selten für dich und deine Mutter da war. Das soll jetzt keine Entschuldigung sein, nur eine Erklärung. Es war einfach zu gefährlich während wichtigen militärischen Einsätzen mit euch zu kommunizieren."
Das weiß Chloe. Schließlich ist das das Leben eines Soldaten. Trotzdem hat das doch nichts mit ihr zu tun.

„Jedenfalls hat meine Einheit vor drei Monaten ein Terroristenlager hochgenommen, von dem wir stark ausgingen, dass es zum IS (Islamischer Saat) gehört. Dabei sind uns einige wichtige Drahtzieher in die Hände gefallen. Somit konnten wir viele Anschläge verhindern. Jedoch fordert der IS nun die Freilassung einer für sie wichtigen Persönlichkeit. Die Tochter ihres militärischen Oberbefehlshabers wurde verhaftet. Wir wissen nicht genau in wie weit sie in die Aktivitäten von IS verstrickt ist. Dennoch wird sie vorübergehend in Haft gehalten.
Das lassen sich die IS-Anhänger natürlich nicht gefallen und haben mit schweren Anschlägen und vielen Toten gedroht, wenn wir unsere Gefangenen nicht freilassen."

Oha! Das klingt gar nicht gut. Der IS ist doch hauptsächlich in Asien aktiv gewesen und sollte schon längst geschwächt sein.
„Außerdem wollen sie dich gefangen nehmen, als Druckmittel sozusagen", fährt der General fort. „Wenn du dabei umkommst ist es ihnen wohl egal."
„Aber die Männer, die mich angegriffen haben, waren Weiße", wirft Chloe ein.
„Der IS findet leider auch in unserem Land einige Anhänger, die konvertiert sind."
„Und was geschieht jetzt?"

Chloe gefällt die Sache überhaupt nicht. Ihr war immer schon bewusst, dass es einige Nachteile haben würde einen Soldaten in der Familie - geschweige denn als Vater - zu haben. Doch nun stellt sich die Situation als noch komplizierter heraus.
„Wir lassen natürlich nicht zu, dass du ihnen in die Hände fällst."
„Wie lange kannst du mich denn vor ihnen beschützen?"

„Solange bis ich neue Befehle im weiteren Verfahren mit den Gefangenen bekomme. Es kann sich höchstens um ein paar Wochen handeln. Dann wird über die Freilassung dieser Leute verhandelt. Bis dahin ist es wohl das Klügste für dich unterzutauchen."

„Untertauchen? Wie das?"
„Man wird dich zu einem sicheren, gut bewachten Ort bringen, bis diese Krise vorbei ist."
„Und was soll das für ein Ort sein?"
„Ich kann dir keine Details verraten. Nicht hier. Doch Lieutenant Hale kennt die Einzelheiten. Er ist für diese Zeit für deine Sicherheit verantwortlich."

Chloe schluckt. Immerhin kennt sie ihn schon ein paar Tage. Wobei „kennen" dabei eher relativ ist. Trotzdem ist ihr das weitaus lieber, als jemand, den sie noch nie zuvor gesehen hat. Außerdem hat er sie schon mehrmals beschützt. Dreimal um genau zu sein und Chloe glaubt langsam daran, dass sie ihm vertrauen kann. Nun versteht sie, warum ihr Vater so gehandelt hat. Er hätte ihr nicht einfach die Wahrheit sagen können. Wie hätte er auch, nachdem Chloe seine letzten Anrufe ignoriert und seine Briefe nicht beantwortet hat? Außerdem wäre sie mit einem Fremden niemals mitgegangen.

Obwohl er nie da gewesen ist, kennt ihr Vater sie ausgesprochen gut. Was beruhigend und erschreckend zugleich ist. Doch eine Sache versteht sie nicht so ganz.
„Warum kann ich nicht einfach bei dir bleiben? Ich denke, dass ich bei den Truppen sicher wäre."
Ihr Vater schüttelt den Kopf.
„Dies ist kein Ort für Zivilisten und schon gar nicht für Frauen. Du bist hier nicht sicher, Chloe. Deshalb bringt Lieutenant Hale dich morgen von hier fort."

Er steht auf, faltet die Hände vor dem Rücken und schaut Gedanken versunken aus dem Fenster neben sich.
„Ich weiß, es fällt dir schwer, aber bitte versuche ihm zu vertrauen. Nur dann kann er dich angemessen beschützen."
„Ich verstehe", sagt Chloe und nimmt sich die Zeit das wellenreiche Holzmuster des Schreibtisches mit dem Zeigefinger nachzuziehen.
Nach ein paar Minuten des Schweigens wendet sich der General wieder seiner Tochter zu und mustert sie eindringlich.
„Hast du Angst?"
„Wer hätte in meiner Situation keine Angst?", fragt sie halb ironisch.

„Seid Mums Tod bin ich nicht mehr aktiv in Gefahr gewesen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es ist sowas noch einmal durchzumachen. Sie haben...sie haben mich gefesselt und wollten mich verschleppen. Kein Mensch bleibt dabei cool."

„Ich weiß, Chloe. Für dich ist es ja noch schlimmer, weil du immer noch vorbelastet bist. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurück drehen und deine Mutter wieder lebendig machen. Doch das kann ich nicht. Ich bereue jeden Tag nicht dabei gewesen zu sein, euch nicht beschützt zu haben. Heute will ich alles tun, damit so etwas nicht wieder passiert."
„Deshalb hast du Christian zu mir geschickt", stellt Chloe leise fest und ihr Vater nickt.
„Ist er gut? Als Soldat meine ich."

„Er ist der Beste seiner Einheit und macht so einen Schutzauftrag nicht zum ersten Mal. Er hat sogar gute Chancen bald zum Captain oder Major befördert zu werden. Auch aufgrund seiner Beliebtheit als Gruppenführer und Einsatzleiter. Ich vertraue ihm zu hundert Prozent."
Er macht eine Pause und kommt um den Tisch herum zu ihr.

„Chloe lass mich endlich für dich da sein. Ich mag dir in den vergangenen Jahren kein guter Vater gewesen sein. Doch jetzt möchte ich all das wieder gut machen, wenn du mich lässt. Sie es als Beweis meiner Liebe zu dir."
Sie erhebt sich. Auch wenn es ungewohnt ist, sie beschließt ihr Herz doch noch einmal für ihren Vater zu öffnen. Schließlich verdient jeder eine zweite Chance. Gerührt von seinen Worten und irgendwie auch erleichtert umarmt sie den strammen General, der in diesem kurzen Moment einfach nur ihr Vater ist. Er will für sie da sein. Er will sie beschützen. Mehr braucht Chloe nicht, um ihm zu verzeihen.

Nachdem alle Anspannung von ihr weicht und sie endlich ein Gefühl von Sicherheit empfindet, entschlüpft ihr ein herzhaftes Gähnen. Sie wagt gar nicht auf die Uhr zu schauen.
Ihr Vater schmunzelt und führt sie hinaus.

„Lieutenant Gibson wird dich zu einem Quartier bringen. Ruh dich aus. Du hast es dir verdient. Für heute bist du auf jeden Fall sicher, Chloe."
Sie nickt und folgt dem Lieutenant ohne Protest durch die hellen, schlichten Gänge. Sie ist viel zu geschafft, um sich irgendwie unwohl zu fühlen. Ihre Tasche hat man ihr bereits aufs Zimmer gebracht, in dem sie später wie ein müder Sack aufs Bett fällt und sofort einschläft.

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