~𝙎𝙚𝙧𝙥𝙚𝙣𝙩𝙞𝙣𝙚𝙣 𝙯𝙪𝙢 𝙆𝙤𝙩𝙯𝙚𝙣~
Wenn man sie danach fragen würde, wie es ihr geht, wäre die Antwort wohl dieselbe wie immer: Es geht ihr gut. Natürlich ist alles in Ordnung, denn Chloe ist ja stark. So glaubt sie zumindest. Sie kann alles hinter sich lassen und jedes Hindernis überwinden, solange sie nicht allein ist. Doch gegen eine Sache scheint Chloe überhaupt nicht gewachsen zu sein.
„Wenn du möchtest, dass sich ihre Gesichtsfarbe langsam wieder von dunkelgrün zu blass rosa verwandelt, zügelst du etwas das Tempo, Christian."
Liam wirft Chloe immer wieder nervöse Blicke zu. Nein sie wird sich nicht im Auto übergeben. Nicht nach allem, was sie überstanden hat. Sie hat sogar in einem Hubschrauber gesessen und ihr ist nicht schlecht geworden.
„Ich fahre doch gar nicht schnell. Es sind diese Kurven. Ich kann den verlauf der Straße leider nicht ändern."
Christian wirft einen amüsierten Blick in den Rückspiegel und trifft den von Chloe. Doch Chloe ist alles andere als amüsiert. Sie funkelt ihn böse an, was ihn noch mehr zu erfreuen scheint. Was ist bloß schief gegangen bei ihm?
„Bitte Christian!", fleht sie und muss ernsthaft gegen die Übelkeit ankämpfen. Ihre kalten Hände krallen sich um den Türgriff, um ihr wenigstens etwas Halt zu gewährleisten.
„Du darfst hinterher das Fahrzeug schrubben."
In dem Mercedes wäre Chloe mit Sicherheit nicht so schlecht geworden. Doch dieser Jeep hat eine Federung, wie...er hat gar keine Federung und jede Kurve fühlt sich an wie in der Achterbahn. Ganz sicher macht es den Männern nichts aus. Sie sind an solche Bedingungen gewöhnt und Christian macht sich einen Spaß daraus Chloe ein wenig zu ärgern.
Sie ahnt, warum er das tut. So ist sie daran gehindert Trübsal zu blasen. Ziel erreicht, Chloe hat gerade ganz andere Gedanken: Sie würde Christian am liebsten umbringen.
Andererseits ist sie ihm unglaublich dankbar, dass er weder den Alptraum noch den Kuss erwähnt. Er hat sich entschuldigt und damit ist das Thema wohl beendet. Schon erstaunlich wie leicht er einen Korb wegstecken kann, wie sie beide einfach so tun können, als wäre das niemals geschehen.
Sie sind wie ihre Freunde. Sie können Izzy und Rick zwar nicht ersetzen, sind Chloe aber in den letzten Tagen sehr nahe gekommen. So wirkt es beinahe, als wären sie nicht auf der Flucht vor den Terroristen, sondern auf dem Weg zu einem Campingausflug – nur ohne Camping.
„Komm schon, Chris", nennt Liam seinen Freund nur bei der Abkürzung seines Namens, „mir wird auch langsam übel."
Chloe ahnt, dass Liam das nur ihr zu Liebe sagt. Trotzdem ist sie ihm dankbar, denn gleich darauf fährt Christian langsamer und schnaubt verächtlich.
„Ihr seid solche Memmen."
„Mag sein, aber wir sitzen auch nicht hinter dem Steuer."
Es fühlt sich immer unterschiedlich an, ob man selber fährt oder nur mitfährt. Chloe sucht nach Christians Augen im Rückspiegel und tatsächlich, treffen sich ihre Blicke kurz. Sie kann ihm das Grinsen deutlich vom Gesicht ablesen, auch wenn sie nur seine Augen erkennen kann.
Sogar nachdem Christian seinen Fahrstil etwas gesitteter fortsetzt, hält es Chloe nicht mehr lange im Auto aus. Sie hat Hunger und muss dringend mal eine Toilette aufsuchen.
Nach zehn weiteren Minuten herumnörgeln erklärt sich Christian bereit, beim nächsten Gasthof anzuhalten.
Tatsächlich muss Chloe auch nicht allzu lange warten. Trotz der abgelegenen Straße mitten im Nirgendwo, gibt es hier ein Diner. Davor ist ein kleiner Parkplatz angelegt und ein paar Meter dahinter befindet sich sogar eine Tankstelle mit genau zwei Zapfsäulen.
Liam begleitet Chloe ins Restaurant, während Christian den Wagen betankt.
Wenig später findet sie sich an einem Tisch wieder, vor ihren Teller mit Salat, Steak und Pommes. Das hat sie lange vermisst. Endlich mal was ungesundes. Auch Liam isst eine Kleinigkeit. Nur Christian nicht. Er hat seit Beginn der Fahrt - und das war früh am Morgen - nichts mehr gegessen. Er muss doch hungrig sein.
Er schaut nur kritisch umher, als er das Restaurant betritt und sich neben Chloe nieder lässt. Als sein Arm ihre Schulter berührt, fühlt sie sich von ihrem Körper mal wieder teuflisch verraten. Ihr Puls beschleunigt sich und sie spürt ihre Wangen erröten. Alles nur, weil er sie geküsst hat. Nein, sie darf nicht darüber nachdenken.
Es klappt nicht, weil Christian ein Pommes-Stäbchen von ihrem Teller klaut und sie dabei ganz frech angrinst. Allerdings hält es nur Sekunden, denn sobald jemand durch die Tür kommt, ist er abgelenkt und nimmt jeden neuen Gast genauestens unter die Lupe. Natürlich nur mit den Augen. Chloe hat das schon einmal bei ihm gesehen, als es damals bei Freddy ausgeholfen hat. Auch dort schien er jeden Kunden ordentlich gescannt zu haben.
„Was ist los?", fragt Liam ohne Umschweife, der Christians innere Unruhe ebenfalls bemerkt hat.
„Ich kann dir mit absoluter Sicherheit sagen, dass mindestens drei der Gäste bewaffnet sind."
„Und? Es ist ja nicht verboten Waffen zu tragen. Auch der Wirt hat bestimmt ein Gewehr unter seinem Tresen versteckt. Also was ist das Problem?"
„Ich habe einfach kein gutes Gefühl. Mir wäre es lieber wenn wir wieder gehen."
„Nicht bevor ich meine Pommes auf habe", protestiert Chloe mit halb-vollem Mund. Er schenkt ihr einen schrägen Seitenblick und stopft ihr noch eine weitere Pommes in den Mund, um sie zum Schweigen zu bringen. Sie murrt und blickt ihn weniger begeistert an. Doch Christian kümmert sich nicht weiter um sie.
Er behält seine Nervosität bei und setzt Chloe damit ebenfalls unter Spannung. Irgendwann hält sie es nicht mehr aus.
„Könnt ihr das bitte lassen?", bittet sie und legt die Gabel nieder.
„Vor allem du, Christian. Du machst mir Angst."
„Sollen wir so tun als wäre nichts und dich belügen?"
„Nein", antwortet Chloe kopfschüttelnd. „Wenn eine Bedrohung unmittelbar bevorsteht und nicht mehr zu verhindern ist, dann kannst du mir das sagen. Doch dieses unsichere Gehabe, wo du noch nicht einmal sicher bist, dass uns hier drinnen irgendetwas bedroht, das geht mir an die Substanz. Wenn du mir sagst ‚Renn!', dann renne ich. Wenn du mir sagst ‚Versteck dich!', verstecke ich mich. Nur hör auf mir wegen nichts unnötig Angst zu machen."
Nach ihrer kleinen Ansprache sagt erstmal keiner mehr was und Chloe isst weiter. Doch kaum dass sie aufgegessen hat, steht Christian auf und bezahlt die Rechnung, während Liam sie zum Wagen zurück begleitet. Die ganze Zeit herrscht Funkstille. Hoffentlich sind sie jetzt nicht böse. Nur will Chloe nicht unbedingt noch einmal den Verstand verlieren vor lauter Angst.
Sie setzt sich auf den Rücksitz und schaut etwas verdrießlich aus dem Fenster. Liam holt eine schwarze Reisetasche aus dem Kofferraum mit auf den Beifahrersitz und wühlt darin herum. Also Kleider sind da jedenfalls nicht drin. Zwei Minuten später erscheint auch Christian. Er lässt den Motor an und rollt den Wagen langsam ein Stück vor.
Chloe sieht seinen kritischen Blick im Rückspiegel. Doch keiner sagt ein Wort.
Chloe seufzt innerlich und schaut wieder aus dem Fenster, als sie die enge und kurvenreiche Straße weiter bergauf fahren. Ihr wird dieses Mal nicht schlecht, doch kann sie langsam den monotonen Ausblick nicht mehr ertragen. Tannen und noch mehr Tannen. Das nervt langsam und bereitet ihr schlechte Laune. Die Stimmung tut ihr übriges. Hat sie denn einen so großen Fehler gemacht, als sie die Beiden bat nicht mehr so viel Wind um gar nichts zu machen? Herrje man wird ja wohl noch seine Meinung kund tun dürfen.
„Was macht der denn?"
Liams Stimme lenkt Chloe wieder ab. Sie sieht nach vorne und erkennt einen großen Truck, der mitten auf der Straße fährt.
Christian bremst abrupt ab und lenkt den Wagen zur Seite. Doch der Truck wird weder langsamer noch fährt er mehr zur Seite. Wenn das so weiter geht gibt es einen Crash.
„Ist er irre?", brüllt Liam und kann gar nicht fassen, dass der Truckfahrer sein Monstrum immer noch nicht unter Kontrolle bringt.
„Raus hier! Schnell!"
Keiner zögert lange. Chloe ist noch nie so schnell aus einem Fahrzeug ausgestiegen.
„Los weg vom Jeep", ruft Liam und zieht sie von der Straße hinunter Richtung Wald. Der kalte Wind peitscht ihr ins Gesicht, als sie einen Blick über die Schulter wirft und sieht wie der Truck mit vollem Tempo in den Jeep kracht, der durch Gewicht und Geschwindigkeit des Trucks ein paar Meter weiter gedrückt wird. Bis hin zu einem etwas dickeren Baum, wo beide Fahrzeuge mit einem lauten Knall gegen rammen und letztendlich stehen bleiben. Es raucht und der Jeep ist zur Hälfte klein gefaltet.
Chloe ist völlig erschrocken über diesen Anblick. Vor wenigen Augenblicken hat sie noch darin gesessen.
„Liam, ich kann mich nicht erinnern in den vergangenen fünf Stunden auf dieser Straße einen Truck gesehen zu haben", erklärt Christian wie ein Todesurteil.
„Was soll das heißen?"
„Dass Trucks hier gar nicht fahren dürfen. Er hat uns mit Absicht gerammt."
Chloe dreht sich zu Christian um und starrt ihn entsetzt an. Das ist jetzt nicht sein Ernst.
Die Tür des Fahrerhäuschens öffnet sich und ein großer stämmiger Mann steigt aus. Er sieht echt schlecht gelaunt aus, doch das ist nicht das Schlimmste. Er hält ein großes Gewehr in der Hand und lädt es durch, bevor er den Arm hebt und zielt.
„Los runter!", schreit Christian schon fast und wirft Chloe so schnell auf den Boden, dass sie gar nicht weiß, wie ihr geschieht. Im nächsten Moment knallen laute Schüsse durch die Luft und schleudern Kugeln nur knapp an ihnen vorbei.
Einige treffen den Baum, der unmittelbar vor Chloe steht. Dahinter hat Liam Deckung genommen und hält auf einmal ebenfalls ein Gewehr in der Hand. Hat er das etwa in der Tasche versteckt gehalten?
Er erwidert das Feuer auf den Truckfahrer, der irgendwie kein richtiger Truckfahrer zu sein scheint.
Chloe spürt wie ihre Hände anfangen zu zittern. Christian bemerkt es und greift mit seiner Hand nach ihnen.
„Sieh nicht hin, Chloe."
Wie auf Knopfdruck wendet die den Blick ab und verliert sich in den großen schoko-braunen Augen, während Christian sie festhält und ihr den bestmöglichen Schutz bietet. Komisch auch jetzt macht es ihr nichts aus, dass er sie berührt und ihr nahe ist.
Dafür glaubt sie in einem schlecht gedrehten Film zu sein. Wer hat sie über Nacht zu einem Hollywoodstar gemacht? Wer hat ihr Leben über Nacht in die Hölle verwandelt? Wer hat ihr nur diese zwei Schutzengel geschickt?
Sie kennt die Antworten eigentlich genau.
Christians Hand drückt ihre. Er muss sich keine Sorgen machen. Es geht ihr gut, wie immer. Sie ist stark und sie wird das überleben. Ganz sicher wird sie das. Sie muss doch erst noch richtig leben. Bisher hat sie nicht wirklich gelebt. Doch das muss sich ändern. Chloe will leben! Nach zehn Jahren festigt sich dieser Wunsch in ihr.
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