~𝙎𝙘𝙝𝙢𝙚𝙧𝙯𝙡𝙞𝙘𝙝𝙚 𝙀𝙧𝙞𝙣𝙣𝙚𝙧𝙪𝙣𝙜𝙚𝙣~

Warum fürchtet man sich so sehr vor seinen Erinnerungen? Ein schreckliches Erlebnis kann jemandem bis zum Tod nachhängen. Einige Menschen sind stärker und verarbeiten schlechte Erinnerungen schneller als andere. Die Schwachen haben vielleicht etwas länger zu kämpfen. Doch kann man sie wirklich als schwach bezeichnen, nur weil sie länger brauchen schlechte Ereignisse hinter sich zu lassen? Vielleicht sind sie ja auch die Starken.

Chloe rätselt oft darüber nach, ob sie nun stark oder schwach ist. Eigentlich hatte sie das Gefühl etwas mehr an Stärke und Vertrauen zu gewinnen. Die letzten Tage hatten ihr aber doch gezeigt, dass sie nicht so stark ist, wie sie gerne sein würde. Genauer gesagt hat Christian ihr das vermittelt. Wohl eher unbewusst, als bewusst, aber dennoch eine unumstrittene Tatsache.

Seit er in ihrem beschaulichen und kaputten Leben aufgetaucht ist, steht ihre Welt Kopf. Er ist faszinierend, mysteriös, attraktiv und gefährlich. Auch wenn er nicht ihr Feind ist, hat sie Zweifel und Ängste was ihn betrifft. Es mangelt ihr auch nicht an Vertrauen. Sie weiß nun, dass sie Christian ihr Leben anvertrauen kann. Das wäre auch durchaus genug, wenn sie ihn nicht auch gleichzeitig anziehend finden würde. Das kann gar nicht gut enden.

Eine Beziehung zu einem Soldaten ist niemals einfach. Chloes Eltern sind das beste Beispiel dafür. Sie würde jedoch niemals so enden wie ihre Mutter. Chloe wünscht sich ein einfaches und gefahrloses Leben mit einem Job und einem ganz normalen Ehemann. Vorausgesetzt sie lässt überhaupt jemanden an sich heran.

Warum hat sie Christian an sich herran gelassen? Warum hat sie diesen Kuss zugelassen? Damit hat sie sich nur verwundbar gemacht und das beweisen die abscheulichen und düsteren Schatten die sich in der Nacht in ihre Träume schleichen. Abermals taucht schemenhaft das Gesicht des Mannes auf, der sie vor zehn Jahren vergewaltigt hat. Warum sieht sie ihn ausgerechnet jetzt? Sie spürt ihn, den Schmerz und seine groben Finger, die jeden Zentimeter ihrer Haut zu zerreißen drohen.

Doch nicht nur seine Finger zerreißen Chloe. Es ist auch die Demütigung und die Verzweiflung, das Wissen absolut machtlos zu sein. Ihre Schreie durchbrechen die Nacht und ihre dünnen Arme versuchen gegen sein Gesicht zu schlagen, welches sich leider nur noch verschwommen vor ihr zeigt.

Es sind die Tränen, die ihre Sicht wie ein Schleier bedecken und alles so unwirklich erscheinen lassen. Noch kämpft sie dagegen an, noch wehrt sie sich verbittert und hoffnungsvoll. Doch als er sich tief in sie drückt und ihr gesamter Körper verräterisch zittert und sich ihm ergibt, verendet auch ihre letzte Gegenwehr. Er hat sie getötet. Nicht ihren Körper, nicht ihr Herz, nur ihre Seele. Er hat ihr die Ehre genommen, aber niemals ihren Verstand und ihr Herz.

Trotzdem begleitet sie die Erinnerung an dieses schreckliche Ereignis durch ihr Träume und Chloe kann sich einfach nicht von ihrer Befangenheit lösen. Es ist bestimmt der Kuss, Christians Nähe und seine Berührungen, die sie erneut an ihre Ängste aus der Vergangenheit erinnern.

Sie hasst es! Oh ja, wie sehr sie ihr Leben und ihren Zustand haßt. Sie kann kaum die Nähe eines Mannes ertragen, geschweige denn das Geräusch seines Atems oder seine Berührungen. Also wieso hat sie dann zugelassen, dass Christian ihren Schutzwall durchbricht und ihr zu nahe tritt? Das darf sie nie wieder zulassen.



~



Christian weiß nicht wie spät es ist. Er wollte eigentlich gar nicht einschlafen, aber auch er ist kein Gott und muss sich seine Erschöpfung eingestehen. Wahrscheinlich ist er deshalb kurz nach Chloe eingeschlafen. Doch nun wird er durch ihren unruhigen Schlaf aufgeweckt. Er hängt müde ihm Stuhl, der am Fenster steht und schaut zu dem breiten Bett hinüber, in dessen Decken sich Chloe eingemummelt hat und nun wild hin und her wälzt.
Erst zögert Christian. Soll er sie wirklich aufwecken? Was wenn er sie erschreckt? Sie scheint einen ziemlich schlimmen Traum zu haben.

Nervös richtet er sich auf und sieht aus dem Fenster. Liam steht draußen ein paar Meter vor dem Haus und gähnt. Auch er ist müde. Vielleicht sollte Christian ihn gleich mal ablösen. Doch zuerst muss er etwas gegen Chloes Alpträume machen. Er muss es einfach riskieren, dass sie sich vor ihm erschreckt. So kann das nicht weiter gehen. Schließlich ist er ein Stück weit für ihr Gefühlschaos verantwortlich.

Als sie beginnt panisch um sich zu schlagen und zu treten, erhebt er sich schnell und geht zu ihr. Behutsam berührt er ihre Schulter und will sie aufwecken, doch Chloe wacht nicht auf. Sie wird nur unruhiger und schreit verzweifelt gegen etwas an. Christian kann sich gut vorstellen wovon sie träumt. Das schlechte Gewissen sorgt dafür, dass sich seine Brust unangenehm zusammen zieht.

„Chloe, wach doch auf!", ruft er gegen ihre Schreie an.
Auch Liam wird auf das Theater aufmerksam und betritt das Zimmer.
„Was ist denn los?"
Die Antwort erübrigt sich, als er Chloe sieht.
Aus dem Augenwinkel sieht Christian, wie sein Freund sich die nicht vorhandenen Haare rauft und ziemlich ratlos aussieht.

Er hat Chloe auch nicht am Anfang kennen gelernt. Dagegen ist sie jetzt schon beinahe normal. Doch Christian hat sich schon gefragt, wann die Nachwirkungen von all dem Horror der letzten Tage hervortreten würden. Da sind sie nun und rauben ihm fast den Verstand. Diese arme Frau ist kurz davor durchzudrehen.

Irgendwie schafft Christian es Chloe aus ihrem Alptraum zu reißen – nicht ohne ein paar blaue Flecken am Arm. Er muss nur aufpassen, dass sie ihn nicht aus Versehen an der Schulter trifft und seine Wunde wieder aufreißt.

Mit kreidebleicher Haut, weit aufgerissenen Augen und hektischer Atmung schreckt sie hoch und stößt beinahe gegen seinen Kopf. Christian kann sich gerade noch rechtzeitig zurück ziehen.
„Schon gut, Chloe, wir sind es nur. Du bist in Sicherheit."
Das ist alles, was er ihr zur Beruhigung sagen kann. Seine Hand legt sich sachte auf ihren Rücken. Das Bedürfnis sie mit Wärme und Trost zu beruhigen ist überwältigend. Doch Chloe zuckt verstört zusammen, woraufhin Christian seine Hand wieder entfernt.

Das ist gar nicht gut. Jetzt kann er sie nicht einmal anfassen. Was hat er nur angerichtet? Zwar kann er sich nicht ausschließlich die Schuld an ihrem Verhalten geben, doch ganz unschuldig ist er auch nicht.

„Chloe, beruhige dich, es ist alles gut."
„Glaube nicht, dass das hilfreich ist, Chris", meint Liam nur trocken und starrt Chloe an, als ob sie verrückt sei. Christian kennt diesen Ausdruck in seinen Augen. Früher hat er die Leute immer verurteilt, die sich so benehmen und kein Verständnis für kranke Menschen zeigen.

Eigentlich müsste Liam es auch besser wissen. Sie haben so viel gemeinsam durchgemacht. Von Schutzmissionen über Kriegsgeschehen. Da kann er doch nicht so locker mit Chloes Angst umgehen.
Diese kauert immer noch zitternd in ihrer Decke eingewickelt, wie eine Raupe in einem Blatt. Als ob sie einen Schutzpanzer um sich herum wickeln wolle.

Christian kann Chloes Situation nur verbessern, indem er nie wieder zulässt, dass ihr etwas geschieht. Er hat seinen Auftrag nicht ernst genug genommen. Er hätte sie nicht allein lassen dürfen.

Er bekommt Bauchschmerzen und kniet sich vor das Bett hin. Er fühlt sich zum ersten Mal in seinem Leben nutzlos und als Versager. Chloe lebt und ist unverletzt, aber der Preis für sein Versagen, ist einfach zu hoch.

Christian setzt sich mit dem Rücken zu Chloe vors Bett und legt die Arme auf seine Knie. Er kann sein Mitgefühl nicht vor seinem Freund verbergen. Nicht nachdem dieser den Kuss gesehen hat. Dafür hat er einfach zu viel für Chloe übrig. Noch nie hatte er so sehr das Bedürfnis ihr zu helfen. Sie ist nicht der erste Mensch mit PTBS. Doch dieses Mal kann Christian das nicht einfach ausblenden.

Nach einer Weile setzt sich auch Liam auf einen Stuhl und sieht genauso hilflos aus, wie Christian sich fühlt. Er will die ganze Zeit etwas sagen, einfach nur damit es nicht so still im Zimmer ist. Doch was könnte er in diesem Moment sagen?
Es dauert lange, bis Chloe aus ihrem Panzer aus Decken schlüpft, sich die klebrigen Haare aus dem Gesicht wischt und sich auf die Bettkante setzt.

Sie ist immer noch blass, hat sich aber etwas beruhigt.
„Es tut mir so leid", flüstert Christian und wagt einen Blick zu ihr rauf.
Was kann er schon mehr sagen?
„Es ist nicht deine Schuld", erklärt Chloe schüchtern.
„Bist du dir sicher?"
Sie nickt. „Ich habe einfach zu angestrengt versucht nicht wieder in ein Loch zu fallen. Dabei war genau das der Fehler. Ich hätte meine Gefühle nicht unterdrücken sollen, das weiß ich jetzt."

„Können wir irgendwas für dich tun, Chloe?", will nun Liam wissen, der sich nervös die Hände reibt und sich auf den Knien abstützt.
„Ihr könnt mich beschützen, so gut es eben geht. Lasst nicht zu, dass sie noch einmal in meine Nähe kommen."
Damit meint sie die Terroristen.

„Wir können es nur versuchen. Jedenfalls werde ich in Zukunft auch aufmerksamer sein. Ich gebe zu, dass sich diesen Auftrag nicht ernst genug genommen habe."
Er sieht zu Christian und fügt mit einem leichten Vorwurf im Unterton hinzu: „Und du solltest nicht vergessen, was..."
„...was meine Stellung ist", beendet Christian den Satz und steht auf. „Schon klar."

Auf einmal hat er das dringende Bedürfnis nach einer kalten Dusche. So nimmt er sich die von Liam besorgten Sachen, wo eine komplette Garderobe für ihn bei ist, und verschwindet im Badezimmer. Es kommt ihm seltsam vor im selben Hotelzimmer wie Chloe zu sein, doch ein weiteres Zimmer war nicht mehr frei.

So bleibt ihm gar nichts anderes übrig.
Als er in den Wohnraum zurück kommt, ist Chloe zum Glück wieder eingeschlafen. Wobei sie sich vorher noch bequemere Kleidung angezogen haben muss. Der Bademantel hängt lässig über der Stuhllehne.
Christian kämmt sich die Haare zurück und zieht sich eine Lederjacke über das helle Shirt. Bald wird diese Art von Kleidung nicht mehr ausreichen. Sie werden in die Berge gehen. Dort kennt er sich aus, der Feind aber nicht.

Außerdem gibt es dort viele Wege und Bergpässe, wo sie nicht so leicht aufzuspüren sind. Das ist der Weg den Christian sich in einem solchen Fall überlegt hat. Doch eigentlich ist es fast egal, ob sie in den Bergen Schutz suchen, oder in der stark überlaufenen City untertauchen. Es war seine persönliche Entscheidung, weil er die City nicht mag und Chloe dort allzu leicht verlieren kann.

Doch das Wichtigste in den kommenden Tagen wird sein niemals stehen zu bleiben. Sie müssen in Bewegung bleiben. Er hofft nur, dass Chloe das alles überstehen wird, ohne hinterher ein nervliches Wrack zu sein. Falls sie das nicht jetzt schon ist.

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