~𝙁𝙚𝙧𝙣𝙨𝙚𝙝𝙖𝙗𝙚𝙣𝙙~
Die beste Gelegenheit Christian nicht mehr wie ein Schwerverbrecher zu behandeln. Zumindest waren das Izzys Worte. Sie mag Christian. Na toll, dann soll sie ihn doch fragen. Warum muss das Chloe machen?
Nervös kaut sie auf ihrer Unterlippe und sieht zu ihm hinüber. Er hält eine wahnsinnig schwere Kiste bloß mit einer Hand. Chloe hat zuvor versucht diese Kiste hoch zu heben und ist kläglich gescheitert. Nun räumt Christian sie aus. Onkel Freddy ist mal wieder mit der Kasse beschäftigt und hat keine Zeit sich um andere Dinge zu kümmern. Doch genau dafür ist Christian doch da.
Langsam schlendert Chloe auf ihn zu. Sie ist nervös. Warum muss sie das tun? Er bemerkt sie und schaut zu ihr rüber. Chloe ist kurz davor umzudrehen. Nein, sie tut es für Izzy. Also los!
„Ähm...Christian...", beginnt sie zögerlich, „kann ich dich mal was fragen?"
Er grinst leicht.
„Du fragst doch schon was."
Chloe verdreht genervt die Augen.
„Okay, dann nicht."
„Hey..."
Er dreht sich zu ihr und hält ihren Arm fest, als sie sich umdrehen und weggehen will.
„Frag schon", sagt er ruhig.
Sie guckt nur auf seine Hand, die immer noch auf ihrem Arm ruht. Sofort nimmt er sie weg. Ja die kleinste Berührung ist schon für sie zu viel. Andererseits wunderst es Chloe, dass sie dieses Mal keine Panik bekommen hat. Selbst dann nicht, als seine Hand sie immer noch berührt hat.
„Ich...ähm...also es ist so...hast du Sonntag schon was vor?"
Oje das klang jetzt gar nicht so wie gewollt.
Christian hebt erstaunt die Augenbrauen. Diese Frage hätte er selbst auch nicht erwartet.
„Nein", antwortet er nach einer Weile.
„Also meine Freunde und ich machen normalerweise einmal im Monat einen Fernsehabend. Da ich nicht gerne ins Kino gehe, findet das bei Izzy zu Hause statt. Sie hat mich gebeten dich einzuladen, falls du für sowas Interesse hast. Rick kommt natürlich auch."
Er starrt sie an, als wäre sie ein Alien. Ganz verübeln kann Chloe es ihm nicht.
„Das ist sehr nett von euch, wirklich, aber ich komme nur, wenn du damit kein Problem hast."
Auweia, sowas musste ja kommen. Chloe beißt sich auf die Zunge. Es muss so merkwürdig für ihn sein. Die ganze Zeit ist sie so wütend und misstrauisch ihm gegenüber und dann lädt sie ihn zu einem Fernsehabend ein. Er muss sie für bescheuert halten.
~
Es fällt ihr sichtlich schwer ihn einzuladen. Sie wird ihm niemals vertrauen, was kein gute Zeichen ist. Irgendetwas muss er doch tun, damit sie ihm endlich vertraut. Doch er kommt nicht an sie heran. Jetzt ist Christian schon mehrere Wochen in ihrer Nähe und versucht nicht mal ihr näher zu kommen und trotzdem misstraut sie ihm. Das macht die Sache echt kompliziert. Wie soll er weiter vorgehen, wenn diese Frau riesige Mauern um sich herum auftürmt?
Er hätte nicht erwartet, dass sie als erstes auf ihn zugeht, aber vielleicht ist das ja die Lösung. Vielleicht muss Christian einfach mehr Geduld haben. Wenn er sich ihr zu schnell nähert, wird sie sich wie ein scheues Reh zurück ziehen. Dann wird er es noch schwerer haben ihr Vertrauen zu gewinnen.
„Ich habe kein Problem damit," versichert sie ihm halb lächelnd. Christian glaubt ihr zwar nicht ganz, sieht aber den guten Willen hinter der Aussage.
„Schön, dann sag mir wo und wann."
„Willhelmsstreet 35 an der Ecke, Samstagabend um 19 Uhr geht's los."
„Alles klar, vielen Dank, Chloe."
Sofort ist sie wieder verschwunden. Christian lächelt nur und schüttelt den Kopf. Immerhin kann er so offiziell in ihrer Nähe sein und muss es nicht heimlich tun.
Der Samstag Abend kommt schneller, als erhofft. Bis dahin verhält sich Chloe wie gewöhnlich und achtet auf ihren Sicherheitsabstand von zwei Metern zu Christian. Er holt sie - natürlich unter Vorwarnung - um Halbsieben von zuhause ab und begleitet sie zu ihren Freunden.
„Warum?", fragt sie neugierig.
„Naja ich wohne direkt um die Ecke und dachte, es wäre nicht schlimm, wenn wir zusammen hingehen."
Das lässt sie unkommentiert, geht ein Stück hinter ihm und bleibt sofort stehen, wenn er es tut. Diese Frau braucht echt Hilfe. Warum hat sie aufgehört zum Psychiater zu gehen?
Das Haus ihrer Freundin Izzy ist echt groß. Sie wohnt dort mit ihrer älteren Schwester und deren beiden Scheidungskindern. Diese sind allerdings übers Wochenende verreist.
„Christian! Chloe! Kommt herein und macht es euch gemütlich. Rick sortiert schon die Filme."
Man ist wohl nie zu alt für einen gemütlichen Abend mit Freunden, wobei Christian sich noch viel zu fremd fühlt, um diese Menschen als seine Freunde zu betrachten. Er würde sie sonst eher als „Zielpersonen" bezeichnen oder ihnen andere Codenamen verpassen.
Wenig später sind alle auf dem gigantischen Sofa der gemütlich eingerichteten Wohnung gelandet. Es ist alles in warmen Beigetönen gehalten. Nur der Boden ist mit dunkelbraunem Laminat ausgelegt. Dazu gibt es weiße, bodenlange Gardinen vor den großen Fenstern und einen eindrucksvollen Keramikamin. Doch den braucht man im Sommer eher weniger. An der Wand daneben hängt ein moderner Flachbildschirm. Ja so kann man Kino auch nachstellen, denkt Christian, als er die Größe des Bildschirms bewundert.
Er sagt es nur nicht. Stattdessen wundert er sich darüber, das Chloe irgendwie neben ihm auf dem Sofa landet - sich dabei sichtlich unbehaglich fühlt und dementsprechend klein macht, um ihn ja nicht zu berühren. Izzy stellt Knabberzeug auf den Tisch und fragt nach Getränken.
„Magst du vielleicht Wein oder Bier?", fragt Izzy und geht zur gegenüberliegenden Theke, an die direkt die Küche anschließt.
„Ich trinke nicht, danke."
„Gar nicht?"
Christian schüttelt den Kopf.
„Rauchst du?"
„Nein", antwortet Chloe für ihn und hypnotisiert den Bildschirm, der gerade das Herstellersymbol aufblinken lässt. Schon wieder ertappt sich Christian beim schmunzeln. Sie muss es ja wissen.
„Du rauchst nicht, trinkst nicht...", Izzy macht eine kurze Pause und überlegt, „irgend ein Laster musst du doch haben."
Sie lächelt verschmitzt.
„Also...", Christian überlegt sich ganz schnell etwas, „wen du mich so fragst, ich könnte jetzt gleich über diese Schale Chips herfallen."
Rick und Izzy lachen.
„Nur zu! Sie gehören alle dir", bestärkt ihn Rick.
„Nicht doch, sonst bekomme ich noch einen Rettungsring."
„So ein Quatsch!", bestreitet Izzy sofort und kommt mit den Salzstangen zurück und nimmt neben Chloe Platz. „Hast du zuhause keinen Spiegel? Du könntest zehn Tüten Chips essen und man würde nichts sehen."
Sie übertreibt eindeutig. Christian kann sein Grinsen nicht mehr zurück halten. Chloes Freunde sind schon lustig. Sein Blick trifft ihren und bleibt eine Sekunde zu lange bei ihren forschenden Augen hängen. Wieso hat er das Gefühl immer etwas falsch zu machen? Etwas, das ihr Misstrauen und Unwohlsein bestärkt.
Der Film fängt an und schließlich landet auch Rick auf dem Sofa. Der Film ist eine Komödie. Gut gewählt von Rick, doch Christian kennt den Film schon. Das ist gut, sonst ist er vielleicht zu abgelenkt. Nicht, dass er sich heute Abend sonderlich konzentrieren müsste. Er ist Chloe so nahe, wie noch nie zuvor. Was soll da schon schief gehen? Zu seiner Überraschung fühlt er sich neben ihr wohl. So wohl hat er sich schon lange nicht gefühlt.
Der Abend wird länger. Rick legt schon den dritten Film in das Abspielgerät.
„Ich hatte ihn vorübergehend Dean geliehen. Hoffentlich ist er noch in Ordnung."
„Wahrscheinlich nicht", merkt Izzy an.
Dean ist einer der Kommilitonen aus Ricks Physikkurs.
Der Film fängt an und und zuerst passiert nichts. Dann ein Kratzen und plötzlich ein Schrei. Es folgt ein Ausschnitt aus einem Horrorfilm. Irgendein Monster verfolgt eine junge Frau - so typisch für einen Horrorfilm. Sie rennt verängstigt durch den dunklen Wald und blickt ständig nervös über ihre Schulter, bis sie plötzlich hinfällt.
In dem Moment verliert Christian die Aufmerksamkeit für das weitere Geschehen. Rick versucht den Film anzuhalten und ruft laut: „Mist!"
Neben Christian sitzt keine Chloe mehr. Das sieht mehr nach einem blassen, verängstigten Häufchen Elend aus. Sie hält sich die Ohren zu und blickt starr auf den Boden.
„Sorry, Chloe, das habe ich nicht gewusst. Dean muss den Film überspielt haben."
„Chloe!" Izzy berührt ihre Freundin kurz an der Schulter, woraufhin Chloe zusammenzuckt und panisch die Augen zukneift. Sie schlingt beschützend die Arme um sich selbst. Ihr Atem beschleunigt sich.
Christian kann kaum glauben, was er da mitbekommt. Chloe so verängstigt zu sehen löst etwas in ihm aus. Er kennt die Anzeichen. Er weiß, was sie gerade durchmacht. Sie ist in ihren Erinnerungen gefangen, spürt die Berührungen des Angreifers aufs neue, muss diesen Alptraum aufs neue durchmachen. In dem Moment wünscht sich Christian irgendetwas tun zu können, doch noch während er fieberhaft darüber nachdenkt, steht Chloe plötzlich auf und geht zum Kühlschrank. Keiner sagt ein Wort, als sie die Tür aufreißt und eine von zwei Flaschen Saft herausholt, aufschraubt und in einem Zug zur Hälfte leert.
Danach wirkt sie etwas beruhigter.
„Chloe es tut mir leid!", entschuldigt sich Rick immer wieder.
„Wenn ich Dean in die Finger bekomme, kann er was erleben!", meutert Izzy.
Chloe kommt langsam wieder zurück - mit der Flasche in der Hand und nimmt wieder Platz. Es dauert eine Viertelstunde, bis sie endlich wieder halbwegs normal atmet.
Izzy wirft Christian dauernd prüfende Blicke zu, als ob sie seine Reaktion fürchten würde. Dabei weiß er doch genau, was los ist.
„Mach einfach einen anderen Film an", bittet Chloe und trinkt noch einen Schluck Saft.
„Bist du sicher? Ich kann es verstehen, wenn du die Nase voll hast?"
„Rick, es ist okay. Mir geht's gut."
Von wegen, sie ist weiß, wie ein Handtuch.
„Alles klar", erwidert Rick nur und wechselt den Film. Christians Hand krallt sich förmlich in das Kissen neben ihm. Er fühlt sich hilflos. Ein Gefühl, welches es durch und durch verabscheut. Nur weiß er einfach nicht, was er tun soll. Er kann einfach nicht mit Menschen umgehen und bei Chloe ist das womöglich besser so. In diesem Fall ist Nichtstun die Lösung, sonst hasst sie ihn noch mehr.
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