~𝘿𝙖𝙨 𝙃𝙞𝙜𝙝𝙡𝙞𝙜𝙝𝙩 𝙙𝙚𝙧 𝙐𝙣𝙞~

Christian hat die ganze Nacht kein Auge zugetan. Immer wieder hat sich das Bild von Chloe unter der Laterne vor seinem Inneren Auge manifestiert. Er weiß, was damals mit ihr passiert ist. Selbst wenn man es ihm nicht vorab schon gesagt hätte, würde er es wissen. Ihr Verhalten ist eindeutig.

Nur kann Christian nicht verstehen warum es Menschen gibt, die solche Dinge mit einem jungen Mädchen machen. Er ist auch ein Mann, aber so etwas würde ihm nie in den Sinn kommen. Manche Menschen sind einfach krank. Wie kann Chloe jemals normal werden, ohne Angst zu haben? Sie wird doch bis an ihr Lebensende nicht mehr froh. Erst recht, wenn so etwas wieder passiert.

Unruhig hat er sich auf der Matratze gewälzt und keinen Schlaf gefunden. Also ist er aufgestanden und hat sich angezogen. Seine dunklen Haare stehen ihm immer noch vom Kopf ab, als er über die Straße hinüber zu Chloes Haus geht. Er schließt den Reisverschluss seiner Lederjacke, in dessen Innentasche eine Pistole steckt. Er hofft, dass sie nicht zum Einsatz kommt. Doch im Notfall hat er keine Wahl.
Er geht ums Haus herum, sieht sich abermals im Garten um, weckt versehentlich den Hund der Nachbarn und prüft als letztes die Eingangstür. Was erwartet er zu finden?

Er sieht das parkende graue Auto auf der anderen Straßenseite. Er geht zum Zaun und macht ein Handzeichen. Einen Moment später geht der Motor an. Die Scheinwerfer blenden Christian kurz. Die Limousine fährt an ihm vorbei, sodass er den beiden Herren darin zunicken kann. Sie tun es ihm gleich und verschwinden.
Christian kann eh nicht schlafen, also kann er den Job auch selbst machen, denkt er sich.



~


Chloe steigt aus dem Bus und sieht auf das orange angestrichene Gebäude. Sie hat heute morgen drei Kurse, dann Mittagspause und um Vier Uhr geht es mit einer Runde Sport weiter. Sie hat immer viel Wert auf Bewegung gelegt. Da sie sich sonst nicht alleine irgendwo hin traut, hat sie diesen Kurs beibehalten. Ihre Leistung ist zwar nur durchschnittlich, aber sie hält mit.

In ihrem Kursraum sind schon fast alle da. Chloe ist eine der Letzten. Sie setzt sich wie üblich an ihren Fensterplatz und holt ihre Unterlagen aus ihrer Tasche. Rick und Izzy sitzen am anderen Ende des Raumes und winken ihr freundlich zu. Chloe lächelt zurück, kommt aber nicht zum Winken, weil sich drei kichernde Mädchen vor sie stellen. Nein, sie tapsen geschäftig Richtung Tür und schauen verschmitzt in den Gang.
„Oh mein Gott, du hattest ja so recht, Samantha", meint das rothaarige Mädchen und kichert ununterbrochen. Was soll das?

Ihre beste Freundin und Sitznachbarin Samantha dreht ihre blonden Locken um den Zeigefinger und lächelt selbstsicher. Das sieht ganz nach Beutezug aus. Die Drei sind immer auf Männerfang. Leider sind sie auch sehr wählerisch und können einfach nicht den richtigen Mann finden. Na das sind doch mal Probleme, denkt sich Chloe. Wenigstens normale Probleme.
Sie würde sich wünschen solche Probleme zu haben. Jeder in der Stadt weiß, was ihr vor zehn Jahren zugestoßen ist und dass sie keinen Mann an sich heran lässt. Manche verstehen es, andere wiederum nicht. Das kümmert Chloe nicht.

„Er ist so heiß."
„Er ist neu, oder hat eine von euch ihn schon einmal hier gesehen?"
Chloe verfolgt nur ungern das Gespräch der drei Frauen.
Die kurzhaarige Brünette bückt sich etwas nach vorne.
„Nein, der wäre uns aufgefallen, Mädels. Er sieht außerdem so suchend aus. Er kennt sich hier offensichtlich nicht aus", erklärt Olivia schlau.

Chloe weiß, wen sie meinen. Das kann nur Christian sein. Gutaussehend und keiner kennt ihn. Wer sonst sollte es sein. Chloe verdreht die Augen und lacht innerlich über den albernen Mädchenverein. Sie benehmen sich tatsächlich wie Teenager und nicht wie erwachsene Frauen. Ist es normal für Frauen so auf Männer zu fliegen wie die Bienen auf den Honig?
„Achtung er kommt hier her."

Die Weiber kreischen erregt und weichen von der Tür zurück. Einen Augenblick später erscheint Christian auch schon in der Tür. Natürlich ist er es. Zugegeben, er sieht echt gut aus; braune Augen, dunkle modisch frisierte Haare, ein ebenmäßig geschnittenes Gesicht, frisch rasiert und Muskeln wie Arnold Schwarzenegger – nagut nicht ganz so aufgepolstert – und einen Waschbrettbauch. Er trägt ein eng sitzendes Shirt und eine einfache blaue Jeans. Der Hit ist wohl die schwarze halboffene Lederjacke.

Okay, Chloe räumt es ein, der Mann ist echt heiß. Er fährt sich mit der Hand durchs gekämmte Haar, bringt es damit durcheinander und blickt sich suchend im Kursraum um. Seine Augen bleiben bei Chloe hängen. Oh nein. Sofort kommt er zu ihr – sehr zum Leidwesen seines weiblichen Fanclubs.
„Hey", grüßt er mit seiner rauen Stimme und bleibt vor ihrem Tisch stehen, sodass Chloe zu ihm aufsehen muss.

„Warum hat sie wieder so ein Glück? Dabei interessiert sie sich nicht einmal für das andere Geschlecht", jammert Samantha nicht weit entfernt, als sie das mitbekommt.
„Morgen", bringt sie nur schwach hervor. Was will er von ihr? Muss er sie denn ausgerechnet im Kurszimmer anquatschen?
„Kannst du mir bitte sagen, wo ich die Verwaltung finde?"

Ähm - wozu fragt er das Chloe? Kann er das nicht jeden anderen Studenten fragen? Die weiblichen Kommilitonen halten alle die Luft an, so laut, dass man es gar nicht überhören kann. Sie brennen darauf ihm die gewünschte Information zu geben.
Chloe versucht sie zu ignorieren. „Im ersten Stock, wenn du die große Treppe hoch kommst links, dann immer den Gang geradeaus durch, auf der rechten Seite. Es ist auch ausgeschildert."

„Ah, vielen Dank", sagt er mit einem zuckersüßen Lächeln und fügt dann noch ein „Chloe" hinzu. Na toll, jetzt weiß jeder, dass sie sich kennen.
Verlegen wendet sie den Blick ab und kümmert sich nicht länger um ihn.
Ein weiteres Zischen geht durch den Raum.
Kaum ist Christian im Flur verschwunden drängen sich die Weiber alle um ihren Tisch herum zusammen.
„Wie heißt er? Wie alt ist er? Nun sag schon, woher kennt ihr euch?", will Olivia sogleich wissen.

„Er ist doch nicht dein Freund, obwohl ich es mir eigentlich nicht vorstellen kann. Chloe hat keinen festen Freund", sagt Samantha hochmütig. Es klingt eher wie: Chloe wird niemals einen Freund haben.
„Nein, er ist nicht mein Freund", erklärt Chloe schnell, um Missverständnisse gleich aus dem Weg zu schaffen. „Gott bewahre, nein."
Samanthas Augen werden groß und sie strahlt übers ganze Gesicht. „Ah, dann ist es ja nicht so schlimm, wenn ich ihn um ein Date bitte."

„Mach doch was du willst, Samantha. Brauchst du dafür meine Erlaubnis?"
Chloes Reaktion überrascht die Blondine. Irritiert kehrt sie ihr den Rücken zu und zieht ab. Zum Glück folgen die Anderen ihr und der Dozent betritt den Raum.
Die Vorlesung beginnt.

Zu Chloes Bedauern kommt Christian nach einer halben Stunde wieder in den Raum und setzt sich ganz hinten in die letzte Reihe. So kommt es, dass Samantha und andere Frauen sich stets umdrehen und ihm verstohlene Blicke zuwerfen, anstelle dem Dozenten zuzuhören. Dabei schafft es Christian sie gekonnt zu ignorieren. Wahrscheinlich ist er solches Verhalten schon gewöhnt.

Chloe kann sich leider auch nicht mehr richtig konzentrieren und wird immer wieder von dem Schauspiel abgelenkt. Sehr ärgerlich für sie.
In der Mittagspause geht sie in die Mensa und holt sich eine warme Mahlzeit. Es ist nichts besonderes, stillt aber den Hunger.
Sie setzt sich an einen leeren Tisch und sieht ihre Unterlagen von der letzten Stunde durch. Sie hat einfach zu viel verpasst. Vielleicht können Rick und Izzy ihr helfen. Sie haben einige Kurse mit Chloe zusammen belegt.

Es dauert auch nicht lange, bis die beiden sich zu ihr an den Tisch setzen. Nur haben sie viel mehr Interesse daran über Christian zu sprechen, als den Stoff zu widerholen.
„Also du kannst es uns nicht übel nehmen, wenn wir neugierig sind. Du sprichst - abgesehen von Rick - sonst mit keinem männlichen Wesen. Da du das in diesem Fall so einfach getan hast, sind wir dem entsprechend überrascht."

Chloe brummt nur und weicht Izzys forschendem Blick aus.
„Jetzt sag schon, wer ist der Typ?", fordert Rick sie auf und stupst Chloe an die Schulter. Er darf das. Ihn kennt sie seit Kindertagen.
„Sein Name ist Christian Hale, er arbeitet seit kurzem im Laden meines Onkels."
„Ach, gestern hast du doch noch etwas anderes gesagt."
„Da wusste ich das ja auch noch nicht, Izzy."

Die Neugier der beiden Freunde ist kaum zu stillen. Sie stellen Fragen über Fragen, dabei ist es Chloe nur unangenehm. Wenn sie ihn kennen lernen wollen, sollen sie selbst zu ihm gehen und ausfragen.
Christian Hale ist heute ganz eindeutig das Gesprächsthema Nummer Eins an der gesamten Uni. In der Großstadt würde er mit Sicherheit nicht so auffallen, doch sie leben ja in einem Dorf. Da sprechen sich solche Dinge schnell herum.

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