~𝘼𝙪𝙨𝙯𝙚𝙞𝙩~
„Es ist nur für eine Nacht. Morgen fahren wir weiter", sagt Christian ohne sie anzusehen.
Er ist schlecht gelaunt und absolut enttäuscht von sich selbst und allen anderen Personen, die Chloe beschützen sollten.
Auf jeden Fall wird er nicht mehr von ihrer Seite weichen. Komme was da wolle.
Er sieht bewusst aus dem Fenster, um nicht ihre verängstigten, glänzenden Augen zu sehen. Sie so erschüttert zu sehen, hat ihn bis ins Innerste geprägt. Er möchte sie festhalten und nichts und niemanden an sie heran lassen.
Doch das würde eindeutig zu weit gehen. Zudem ist er sich sicher, dass er Chloe damit für immer verschrecken würde.
Sie hält sich tapfer, zeigt ihre Angst nicht in dem Ausmaß, wie es eigentlich sein müsste. Dabei hat sie so viel durchgemacht.
Christian hat das Video gesehen. Er hat ihre Reaktion gesehen und auch den Ort des Verstecks erkannt. Auch wenn die Terroristen versucht haben ihn geheim zu halten. Christian kann von Glück sagen schon einmal dort gewesen zu sein. Ansonsten hätte er Chloe nie wieder gesehen.
Nach ein paar Minuten kommt Liam zurück.
„Wir haben ein Zimmer. Kommt mit."
Liam führt beide zu einer der vielen blauen Türen und schließt sie auf. Dahinter liegt ein kleines Zimmer mit Bett, zwei Stühlen und einem kleinen runden Tisch. Zu seiner Linken ist ein Fenster. In der Ecke darunter steht ein Fernsehtisch mit einem mittelalterlichen Kasten darauf.
Geht der überhaupt noch? Unwichtig. Am anderen Ende des Zimmers führt eine Tür wahrscheinlich in das angrenzende Badezimmer.
Chloe sieht sich um und setzt sich dann auf die Bettkante.
„Kein Palast, aber es reicht für eine Nacht", lächelt Liam unsicher. Doch seine Worte erreichen weder Chloe noch Christian. Die Stimmung ist mehr als angeschlagen.
Christian setzt sich auf einen der Stühle, legt die leeren Pistolen auf den Tisch neben sich und tippt dann auf seinem Handy herum. Es ist abhörsicher und kann nicht verfolgt werden. So ein Gerät hat er auch für Chloe besorgt. Doch das liegt noch im Wagen. Liam holt die Tasche mit Ersatzmunition und Waffen aus dem Kofferraum.
Er stellt sie hinter den anderen Stuhl. Man muss ja nicht gerade darüber fallen. Außerdem mag Chloe keine Waffen. Nicht dass das nach allem noch Bedeutung hätte. Trotzdem will Christian sie nicht noch mehr beunruhigen.
Ein Blick zu ihr verrät, wie geschafft sie ist. Sie starrt auf etwas unsichtbares vor sich und wirkt teilnahmslos. Also lässt man sie besser für eine Weile in Ruhe. Sie muss die schrecklichen Dinge verarbeiten.
„Ich frage mal den Manager, ob sie hier ein Erste-Hilfe-Set haben", sagt Liam als einziger, der nicht erledigt wirkt.
Christian ist seine Wunde an der Schulter total egal. Sie ist nicht die Erste und ganz sicher nicht die Letzte. Außerdem spürt er sie kaum.
„Wir brauchen noch ein paar Dinge mehr."
Christian erhebt sich wieder und gibt Liam seine Kreditkarte.
„Könntest du gleich etwas frisches zum Anziehen für uns alle besorgen?"
„Klar."
Christians Blick wandert kurz zu Chloe, die immer noch teilnahmslos auf dem Bett sitzt. Ihre Sachen sind staubig und zerrissen, ihre Haare sind zerzaust und wirken durch den Staub aus dem Versteck mindestens einen Ton heller, als sonst.
Dann sieht er die roten Stellen an ihren Handgelenken.
Er bespricht die kurze Einkaufsliste mit Liam, der sogleich in den kleinen Ort fährt, um alles zu besorgen, plus ein paar Salben, die nicht in dem Erste-Hilfe-Set vorhanden sind. Zudem wäre es klüger das Auto loszuwerden. Es kann hier leicht aufgespürt werden.
Es ist nicht schlimm. Christian hat eh schon damit gerechnet es irgendwann zurücklassen zu müssen. Nun muss es sogar verschwinden.
Er setzt sich erneut auf den niedrigen Stuhl, der mit einem bunt gemusterten Polster aus verschiedenen Stoffen überzogen ist. Dabei achtet er darauf nicht alles mit seinem Blut zu verschmieren. Leider tut die Schulter mehr weh, als er versucht das Shirt auszuziehen. Mühselig versucht er es über den Kopf zu ziehen. Ihm fehlt mindestens eine Hand.
Als hätte er diesen Gedanken laut ausgesprochen, kniet Chloe auf einmal vor ihm und hilft dabei das Shirt loszuwerden. Wobei sie eher nach der Schere aus dem Verbandskasten greift und es aufschneidet. Er lässt sie einfach machen. Ist wohl der Tag der zerschnittenen Kleider.
Ohne Kommentar sieht er ihr zu, wie sie behutsam die Wunde reinigt und desinfiziert. Sie weiß genau, was sie da tut. Christian kann sie sich gut als Ärztin vorstellen. Nicht nur weil sie Medizin und Biologie studiert, sondern auch wegen ihrer kompetenten Erste-Hilfe-Leistung.
So holt sie vorsichtig die Kugel aus der Wunde und verbindet ihn anschließend fachgerecht, als ob sie das regelmäßig üben würde. Eigentlich hätte Christian das auch alleine gekonnt, doch nur unter größeren Schmerzen. So ist es angenehmer.
Chloe ist gerade fertig, als sich ihre Blicke treffen. Er forscht in ihren braunen Augen nach irgendetwas, was ihm Aufschluss auf ihre Gedanken und Gefühle gibt. Doch es ist, als habe sie beschlossen ein Pokerface aufzusetzen.
Sie räumt die restlichen Materialien zurück und steht auf. Dabei stolpert die ungeschickt über das zerschnittene Shirt von ihm und droht sich der Länge nach auf die Nase zu legen, als er blitzschnell reagiert und sie auffängt.
Peinlich berührt und mit hochrotem Gesicht sucht Chloe Abstand zu ihm, was ihn schon wieder etwas amüsiert. Deshalb kann er sich das Schmunzeln gar nicht verkneifen.
Um ihr die restliche Pein zu ersparen zieht er sich das Shirt einfach wieder an. Nur die rechte Seite ist zerschnitten und hängt fransig über den Verband.
Es ist absolut der falsche Augenblick. Christian weiß das. Chloe hat momentan ganz andere Sorgen. Dennoch hält ihn nichts zurück, als er langsam zu ihr geht. Sie legt automatisch den Verbandskasten auf dem Bett ab und erwidert seinen Blick. Christian rechnet damit, dass sie das nicht lange durchhält und sich im nächsten Moment umdreht. Tatsächlich tut sie das auch.
Es hindert ihn nicht dran, sich dicht hinter sie zu stellen und ein leises „Danke" zu murmeln. „Ich weiß das wirklich zu schätzen, Chloe. Nach allem, was du durchgemacht hast, hätte ich sogar erwartet, wenn..."
„...ich durchdrehe?", beendet sie seinen Satz mit einer Frage. „Glaub mir, ich war mehrmals kurz davor. Nur hält mich eines bei Verstand."
„Und was ist das?"
„Du", antwortet sie ohne sich umzudrehen. Im ersten Moment glaubt Christian sich verhört zu haben.
„Worum auch immer es geht, bisher hast du mich immer irgendwie gerettet. Sei es deine vergessene Brieftasche, der Moment als ich heraus fand, dass du ein Soldat bist oder jetzt das Verbinden deiner Verletzung. Du hinderst mich immer daran durchzudrehen. Dafür muss ich dir danken."
Chloe kann sich nicht einmal entfernt vorstellen, was ihre Worte gerade in ihm auslösen.
~
Das war längst überfällig. Auch wenn er eigentlich nur seinen Job macht, für Chloe ist es wirklich so, als wollte Christian ihr gleichzeitig auch die Gelegenheit bieten gegen ihre Belastungsstörungen anzukämpfen. Zumindest ist sie schon mal so weit, dass sie in seiner Gegenwart nicht durchdreht. Es erscheint ihr selbst als Wunder, wo sie Soldaten gegenüber doch gar nicht so aufgeschlossen ist.
Als sie sich halb umdreht, bemerkt sie erst wie nahe Christian ihr wirklich ist. Es ist, als würde man ihr eine Adrenalinspritze verpassen. Sofort wird ihr unnatürlich heiß und ihre Brust zieht sich krampfhaft zusammen. Das hat absolut nichts mit Angst zu tun, oder? Das hat eher was damit zu tun, dass sie sich zu Christian hingezogen fühlt. Nun ist der Fall eingetroffen, den sie absolut nicht haben wollte.
Seine braunen Augen fixieren sie, ja halten jede Regung von ihr fest. Geht es ihm genauso?
Es muss so sein. Andernfalls wäre er ihr nicht mehr so nahe. Chloe will sich nicht der Versuchung hingeben. Nach den Geschehnissen der letzten Tage, ist sie schwach geworden. Sie hat die unsichtbaren Mauern um sich herum zum Einsturz gebracht und ist jetzt für jedes noch so winzige Detail empfänglich.
Für seinen angenehmen und vertrauten Duft, seine glatte Haut, seinen attraktiven Körper und sein hübsches Gesicht, das mittlerweile wieder einen Bartschatten trägt.
Es macht ihn männlicher, rauer und gleichzeitig noch attraktiver. Chloe sollte sich diese ganzen Sachen nicht bewusst machen. Er ist nur ein Mann von vielen. Warum sollte sie ihr Herz für ihn öffnen? Ausgerechnet ihm, der sie beschützen soll. Ihm, der ein Soldat ist und ein gefährliches Leben führt.
Die Schusswunde and der Schulter ist der beste Beweis dafür.
Christian durchbricht den Wall an Gedanken, als er seinen rechten Arm hebt und sie halb umschlingt. Er dreht ihren Kopf weiter in seine Richtung und senkt sein Gesicht dem ihren entgegen. Chloe rechnet damit, wieder Angst zu bekommen, ihn von sich zu stoßen und sich völlig verstört und kindisch zu verhalten. Doch nichts dergleichen geschieht.
Es ist so intim, dabei berührt er sie kaum. Die einzige wirkliche Berührung kommt von seinen weichen Lippen, die sich sanft auf ihre legen. Automatisch schließt Chloe die Augen und lässt ihn gewähren.
Sanft streichen seine Finger über ihre Wange. Die andere Hand umarmt sie von hinten. Reflexartig legt sie ihre Hand auf seinen starken Unterarm vor ihrem Bauch, lehnt sich an seine warme Brust und genießt die völlige Ruhe in ihrem Kopf.
Plötzlich ist er leer. Alle Gedanken weg. Da ist nur noch die Empfindung seiner Berührungen und die vollkommene Stille um sie herum.
Bis unerwartet die Tür aufgeht und jemand herein kommt.
„Christian, du hast vergessen mir das Passwort...zu...geben."
Augenblicklich weicht Chloe von ihm zurück, erschrocken über Liams Auftauchen und dem eben passierten Kuss.
Er hat es gesehen. Chloe fühlt sich, als hätte sie etwas ganz schlimmes getan. Schlimmer noch, als in einem Video ihren Vater zu bedrohen und zu beleidigen. Sie hat Christian geküsst. Man kann nicht mehr sagen, dass nur er sie geküsst hat. Sie hat es schließlich zugelassen. Dabei war sie nicht einmal betrunken.
Verlegen dreht sie sich weg. Sie will nicht, dass Liam jetzt ihr Gesicht sieht.
Noch immer hüpft ihr Herz auf und ab, wie ein durchgeknallter Flummi.
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