Widersehen
„Hier spricht Wolf, was gibt es?"
„Der Pumpschlauch ist verstopft."
„Was? Wie kann das passieren? Kümmert euch darum und zwar schnell. Wir müssen den Tunnel so schnell wie möglich öffnen. Dazu müssen die Kissen befüllt werden."
„Ja, Sir!"
„Melde dich erst wieder wenn das Problem gelöst ist, ich bin hier noch einen Moment beschäftigt- over."
Das Gespräch endet und der Captain geht weiter und hilft seinen Männern dabei, die Leute in Sicherheit zu bringen. Chloe steht immer noch am selben Fleck und starrt auf den Soldat.
Das ist doch wohl ein schlechter Witz oder sowas. Will der liebe Gott sie einfach nur verarschen oder warum tut er ihr das an? Warum taucht Christian ausgerechnet jetzt wieder vor ihr auf? Chloe spürt wieder einen Kloß im Hals. Sie würde gerne schreien vor Wut, aber kein Laut schlüpft aus ihrer Kehle.
Sie kann nicht anders. Ihre Augen verfolgen ihn aufmerksam, prägen sich jede seiner Bewegungen ein und ihre Seele hört jedes seiner Worte. Unbewusst setzen sich ihre Füße in Bewegung und folgen ihm. Er sieht noch genauso aus, wie vor zwei Jahren. Er scheint immer noch ein sehr guter Soldat zu sein. Er gibt einen Befehl nach dem anderen und bringt langsam aber sicher Ordnung in die Truppe von Soldaten. Er lässt oberhalb vom Tunnel ein Kranfahrzeug aufstellen, damit zumindest schon mal ein Teil der Leute aus dem Tunnel geholt werden kann.
„Wir gehen zu erst von oben rein. Das ist sicherer, solange wir den Zugang von der Brücke aus nicht frei gelegt haben."
Chloe versteht es einfach nicht. Ausgerechnet jetzt, wo sie sich dazu entschieden hat ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen, taucht diese wieder auf.
Der Klang seiner Stimme ist unverändert und verpasst ihr eine Gänsehaut am ganzen Körper. Wieso hat sie seine Stimme vorhin nicht erkannt? Warum erst, als sie seinen Codenamen gehört hat?
Die kurzen Bartstoppeln geben ihm eine raue Attitude und lassen ihn älter erscheinen. Mit seinen dunkelbraunen Stiefeln tritt er sicher über das Geröll und seine Augen blicken erfahren auf die Situation vor ihm.
Chloe geht einfach hinter ihm her. Er bemerkt sie nicht. Dabei starrt sie ihn die ganze Zeit an ohne auf irgendetwas oder jemanden sonst zu achten. Da ist er, der einzige Mensch in Chloes Leben, dem sie wirklich vertraut. Mal abgesehen von ihrer Zuneigung zu ihm, fühlt es sich auch gut an dieses vertraute Gefühl von Sicherheit zu haben, welches er ausstrahlt.
Chloe wird aus ihren Gedanken gerissen, als ein junger Soldat sie anspricht.
„Miss, Sie müssen bitte gehen. Es ist nicht sicher hier."
Sie sieht ihn an, reagiert aber nicht. Sie hört was er sagt, kann es aber nicht so schnell im Kopf verarbeiten. Seine Hand legt sich sachte auf ihren Rücken und schiebt sie in die andere Richtung, fort von Christian.
„Bitte Miss, sie müssen hier weg."
Seine braune Haut zeigt, dass er Ausländer ist. Kommt er aus dem Süden oder aus dem Osten? Dunkle Augen und Haare, könnte ein Asiate sein.
Langsam kommt ihr Verstand zurück und sie dreht Christian den Rücken zu. Der komische Asiate verfolgt sie noch einen Moment, bis er sicher gestellt hat, dass sie auch wirklich nicht zurück geht. Dann läuft er zu seinem Trupp zurück und Chloe geht viel zu langsam zu ihrem Versorgungslager. Noch immer hört sie ihr Herz aufgeregt schlagen. Noch immer kann sie es nicht fassen, dass er hier ist. Einerseits hat sie das Gefühl von Sicherheit vermisst, andererseits kommt es absolut ungelegen. In einer solchen Situation kann sie diese Art von Ablenkung nicht gebrauchen.
Sie versucht sich zu beruhigen und nicht weiter an ihn zu denken. Er hat sie eh nicht gesehen. Würde er überhaupt mit ihr sprechen wollen? Sie würde ihm zu gerne sagen, dass sie alles bereut. Sie würde ihm so gerne mitteilen, wie sehr sie ihn eigentlich vermisst hat. Doch wie stellt sie das an? Wird er ihr zuhören?
Im Augenblick kommt sie eh nicht an ihn heran und wer weiß wie lange er hier sein wird.
In Chloes Kopf rattert es unaufhörlich. Ihre Gedanken überschlagen sich. Solange, bis Dr. Kang ihr eine Hand auf die Schulter legt und sie besorgt fragt, ob es ihr gut geht. Chloe bringt nur ein schwaches Nicken zu Stande.
„Ich brauche Sie, Dr. Anderson. Bitte reißen Sie sich zusammen."
Chloe verspricht ihr bestes zu geben. Doch am liebsten würde sie jetzt mit Izzy sprechen. Wo ist ihre beste Freundin, wenn sie sie braucht?
Chloe streift sich die verirrten Haarsträhnen nach hinten und trinkt eine kleine Flasche Wasser komplett leer. Dann macht sie sich wieder ans Werk. Die Bergungsarbeiten ziehen sich noch über Stunden in die Nacht hinein. Der Tunnel ist immer noch nicht offen. Anscheinend gibt es dort größere Probleme.
Chloes Blick schweift immer wieder zu dem eingestürzten Tunnel. Irgendwo dort ist Christian. Hoffentlich geschieht ihm nichts. Sie muss doch noch unbedingt mit ihm reden. Also darf ihm nichts passieren.
Gegen 20 Uhr etwa, sitzt Chloe auf einem Plastikstuhl unter dem Zelt und bekommt die Füße nicht mehr hoch. Sie darf noch nicht aufgeben. Sie muss weitermachen. Die vielen Menschen um sie herum geben auch nicht auf. Doch es ist schwer. Alles ist so schwer. Ihre Beine, ihre Arme - ihre Seele. Chloe hat das Gefühl in ein schwarzes Loch gezogen zu werden. All das Grauen um sie herum macht es nicht besser. Doch sie darf nicht klagen. Sie hat sich diesen Job ausgesucht. Die Arbeit an sich macht ihr auch Spaß, es ist nur alles etwas viel.
„Entschuldigung!"
Das ist Dr. Kang. Sie steht draußen vor dem Zelt und behält einen genauen Überblick und verwaltet alles, wenn sie nicht gerade die Hände an einem schwer verletzten Patienten hat.
„Sind sie hier der Zuständige Befehlshaber?"
„Ja, warum?"
Sofort richtet sich Chloe auf. Die Götter wollen sie wirklich in den Wahnsinn treiben. Sie steht auf und guckt vorsichtig an der Zeltplane vorbei. Sie hält überrascht die Luft an, als sie Christian nur wenige Meter vor dem Zelt stehen sieht. Als Dr. Kang ihn angesprochen hat, kommt er sogar noch näher.
„Wie lange wird es noch dauern, bis Sie den Tunnel öffnen können?"
„Äh...", er zögert und scheint kurz zu überlegen. „Nun, es ist etwas kompliziert. Die Wände sind auf beiden Seiten instabil. Wenn wir von vorne rein gehen, kann es sein, dass der gesamte Beton über uns zusammen bricht. Momentan versuchen wir einen Eingang von oben zu schaffen, doch das dauert eine Weile, weil wir nicht die richtige Ausrüstung zur Verfügung haben."
„Hm, verstehe. Wie sieht es dort hinten mit den Opfern aus."
„Es hält sich in Grenzen. Doch sobald wir in den Tunnel gelangen, wäre es gut wenn sich ein medizinisches Team in der Nähe bereit hält."
„Ich kümmere mich darum."
„Danke. Ich lasse Sie wissen, wenn wir so weit sind."
Dr. Kang nickt und lächelt freundlich. Dann lässt Christian sie wieder alleine zurück.
Erst jetzt pustet Chloe die Luft aus. Hat sie sie die ganze Zeit angehalten? Ihr wird leicht schwindelig und sie muss erst ein paar tiefe Atemzüge nehmen, bevor es besser wird.
Warum hat sie sich eigentlich versteckt? Mist, das war doch die beste Gelegenheit ihn anzusprechen.
Leicht verärgert über sich selbst haut sie sich mit der Faust gegen den Kopf und schlurft aus dem Zelt. Bianca kommt prustend mit einer leeren Versorgungstasche und lässt sie auf einen der vier Tische plumpsen.
Chloe ist noch viel zu beschäftigt damit Christian hinterher zu schauen. Ein Fehler, denn Bianca bemerkt ihren abschweifenden Blick.
„Wow, Chloe, das ist das erste Mal, dass du einem Mann derart hinterhersiehst."
Chloe fühlt sich ertappt und spürt wie ihre Wangen rot werden. Auf einmal ist es nicht mehr kalt. Sie spürt einen Wall der Hitze in sich aufsteigen. Verdammt ist das peinlich.
„Aber du hast einen guten Geschmack. Er ist wirklich zum Anbeißen."
„Was zum...Bianca!", ruft Chloe empört.
„Hast du nicht vorhin noch vom Feuerwehrhauptmann geschwärmt?", fragt Judith, die plötzlich neben Chloe steht, ohne dass sie es bemerkt hat.
„Nun ja, ich habe den Ring an seinem Finger gesehen, als ich vorhin in seiner Nähe gestanden habe. Er ist wohl unerreichbar für mich. Aber nichts spricht gegen einen Mann in Uniform, nicht wahr Chloe."
Bianca zwinkert ihr zu und macht sie noch mehr verlegen.
„Schluss jetzt, macht euch an die Arbeit", ermahnt Dr. Kang. Daraufhin beeilen sich Judith und Bianca und verschwinden ganz schnell. Doch Chloe seufzt nur müde und knetet ihre verspannte Schulter. Wo ist Simon überhaupt?
~
Christian geht langsam. Er hat es nicht eilig - ausnahmsweise nicht. Er hat nicht mit ihr gerechnet. Er weiß noch nicht ob er sich glücklich oder traurig fühlen soll. Zumindest hat sich Cloe nicht gefreut ihn wieder zu sehen. Sie hat sich vor ihm versteckt, als sie ihn gesehen hat und beschlossen ihm aus dem Weg zu gehen. Erst hat Christian angenommen sich das Einzubilden, aber es ist wirklich Chloe gewesen, die er zuvor gesehen hat.
Es war nur der Bruchteil einer Sekunde, in der er ihr Gesicht gesehen hat, bevor Kinan sie fort gescheucht hat. Seine erste Reaktion war ein ironisches Lachen. Da geht er zwei lange Jahre ins Ausland und kaum ist er wieder in Amerika, läuft er Chloe wieder über den Weg. Es hat nicht einmal vierundzwanzig Stunden gedauert. Ob ihr Vater, dass mit Absicht getan hat? Wusste er, dass sie sich hier befindet?
Selbst wenn, es gehört schon eine Menge Glück dazu sich in diesem Chaos über den Weg zu laufen. Gute und negative Erinnerungen kommen in ihm auf und mit ihnen ein Schwall von drückender Kopfschmerzen.
Christian musste sich einfach noch einmal davon überzeugen, dass er sie wirklich gesehen hat. Also ist er herum gelaufen. Er hat es dieser asiatischen Ärztin zu verdanken, dass er Chloe so schnell gefunden hat. Hätte sie ihn nicht angesprochen, wäre er vermutlich an ihr vorbei gelaufen. Doch die Tatsache, dass sie sich vor ihm versteckt, zeigt, dass sie ihn überhaupt nicht sehen will.
Eigentlich sollte ihn das nicht wundern und eigentlich sollte ihm das auch nichts ausmachen. Doch selbst nach zwei Jahren schafft es Chloe ihn erneut zu verletzen.
Hätte sie nicht wenigstens so tun können, als wäre es ihr alles egal? Als würden sie einander nur flüchtig kennen und ganz normalen Umgang miteinander pflegen.
Plötzlich knistert sein Funkgerät.
„Wir haben den Tunnel offen. Ich wiederhole: Tunnel ist offen."
Großartig. Auf seine Jungs ist immer verlass. Das sind wirklich mal gute Neuigkeiten. Da fällt ihm ein, dass er der Ärztin zugesagt hat sie zu informieren. Bevor er jetzt dreimal hin und her läuft, beschließt Christian einfach umzudrehen und zu ihr zurück zu gehen. Auch auf die Gefahr hin, dass Chloe ihm dann nicht mehr ausweichen kann.
~
Wann wird dieses Horrortag endlich vorbei sein? Chloe schämt sich zwar für diesen Gedanken, wenn sie an all die Opfer denkt, aber irgendwann sind auch ihre Reserven verbraucht. Sie streckt kurz die Arme in die Luft und nimmt sich noch eine Flasche Wasser. Sie trinkt eindeutig zu wenig. Obwohl ihr ein warmer Tee jetzt lieber wäre. Sie zupft sich gerade den Kragen zurecht, als sie Simon entdeckt. Natürlich sieht er sie im selben Moment. Er winkt unmotiviert und kommt ebenfalls zum Lager. Er sieht noch müder aus, als sie.
„Alles okay?", fragt sie besorgt.
„Ja, abgesehen von den Gliederschmerzen, Hunger und Müdigkeit geht es mir ganz gut. Wie ist es bei dir?"
„Ähnlich."
„Keine Sorge ihr müsst nur noch eine Stunde durchhalten, dann werdet ihr von einem anderen Team abgelöst", sagt Dr. Kang beruhigend.
„Wirklich?"
Das zaubert gleich bessere Laune in Simons Gesicht. Er rückt sich die Brille zurecht und strafft die Schultern.
„Ja. Ich weiß, dass ihr solche Einsätze nicht gewöhnt seid. Die Konzentration lässt nach und Fehler können wir uns hier nicht erlauben. Trotzdem habt ihr bis jetzt gute Arbeit geleistet."
Chloe hat ein schlechtes Gewissen jetzt zu gehen. Auch wenn sie erschöpft ist. Sie kann nicht einfach so gehen und die vielen hilflosen Menschen zurück lassen. Das wäre unmenschlich. Sie beschließt noch etwas länger hier zu bleiben. Damit sie nicht umfällt lässt sie sich von Simon einen Schokoriegel reichen und trinkt viel Wasser. Sie darf nicht umfallen. Sie muss durchhalten.
Sie setzt gerade die Flasche an, als ihr Blick eine wohl bekannte Silhouette erkennt. Sofort verschluckt sie sich und dreht sich um. Verdammt, warum ist er denn schon wieder hier? Sie weicht Simons fragendem Blick aus. Sie versteht ihr Verhalten ja selbst nicht. Warum ist sie so kindisch? Meine Güte wie alt ist sie? Dreizehn?
Sie atmet tief durch und dreht sich wieder nach vorn. Vor Schreck lässt sie die Flasche fallen. Er steht genau vor ihr. Kaum fünf Schritte entfernt und sieht sie direkt an. Shit! Seine Augen wirken nicht sonderlich überrascht. Sie wirken kühl und beherrscht.
„Lange nicht gesehen...Chloe."
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