Notaufnahme

Chloe arbeitet nicht gerne in der Notaufnahme. Viel lieber würde sie bei Operationen assistieren, um mehr zu lernen. Zwar lernt sie auch viel in der Notaufnahme, doch es ist hier viel zu hektisch. Im OP hat sie ihre Ruhe und kann sich voll und ganz auf ihre Aufgaben konzentrieren. Hier muss alles zack, zack, schnell, schnell gehen.

Ein sechzehnjähriger Junge wird eingeliefert und Chloe darf sich ganz allein um ihn kümmern. Er hat ein paar gebrochene Rippen und ein verstauchtes Bein. Zudem hat er mehrere blaue Flecken am ganzen Körper.

„Wurdest du etwa verprügelt?"
Die Frage muss Chloe stellen. In einem solchen Fall muss sie die Polizei informieren.
„Nein, ich bin die Treppe runter gefallen."
Chloe glaubt ihm nicht wirklich.
„Hör mal, wir können dafür sorgen, dass derjenige seine gerechte Strafe bekommt, also sag besser die Wahrheit. Du brauchst keine Angst zu haben."

„Ich...ich hab's verdient", gesteht der Junge ehrlich und etwas kleinlaut.
„Wieso das?"
„Ich habe gestohlen."
Chloe schüttelt den Kopf und verbindet sein Bein.
„Ich sollte deine Eltern informieren."
„Nein bitte nicht!"
„Wieso? Ist dein Vater bei der Polizei?"
Er schüttelt den Kopf.

„Das nicht, aber er ist sehr streng."
„Ich habe leider keine andere Wahl. Ich muss deine Eltern und die Polizei benachrichtigen."
Warum auch immer der Junge gestohlen hat, er kommt in weitaus größere Schwierigkeiten, wenn Chloe für ihn schweigt und sie ebenfalls.

„Die Schwester wird deine Familie anrufen. Du wirst wohl für ein paar Tage hier bleiben müssen. Ich möchte nur ernsthafte Verletzungen ausschließen."
"Ernsthaft ich darf bleiben?"
Wieso freut er sich so darüber?
Chloe nickt.
„Nur ein paar Tage. Bleib liegen, man wird sich gut um dich kümmern. Ich habe leider noch andere Patienten zu sehen."
„Danke, Doktor..."

„Anderson", verrät Chloe ihm ihren Namen und lächelt. Dann geht sie weiter. Es sind einige Leute die Hilfe brauchen. Eine Frau hat sich beim Kochen so schwer den Arm verbrannt, dass sie nicht zu ihrem Hausarzt gehen konnte. Also nimmt Chloe sich die Zeit und behandelt die Hautverletzung. Die Frau ist ca. vierzig und stöhnt vor Schmerzen. Chloe möchte nicht mit ihr tauschen. Das muss höllisch wehtun.

Nach einer Viertelstunde kommt ein Verband um den Arm und Chloe schickt die Frau mit starken Schmerzmitteln nach Hause.
Es ist fast Mittag. Vielleicht kann Chloe gleich eine kleine Pause machen. Sie muss gestehen, dass sie langsam Hunger bekommt.

Dr. Kang gestattet ihr eine kleine Pause, so dass Chloe wenigstens was essen kann. Leider ist so viel zu tun, dass eine längere Pause noch warten muss. Auch Izzy hat keine Zeit sich mit Chloe zu unterhalten. Dabei hat Chloe langsam das Gefühl zu platzen. Sie muss endlich mit jemandem über Christian reden. Vorzugsweise nicht mit Simon, der schon wieder an ihr klebt wie eine Klette. Wann wird er es endlich aufgeben?

Chloe setzt sich vor den Eingang zur Notaufnahme und knabbert an ihrem Brötchen, dass sie sich heute morgen noch schnell beim Becker geholt hat. Dabei tippt sie desinteressiert auf ihrem Handy herum. Sie hat versucht Christian anzuschreiben, doch sie hat seit zwei Tagen nichts mehr von ihm gehört. Vermutlich ist er sehr beschäftigt und kann nicht antworten.

Trotzdem will Chloe ihn anrufen. Ist ja nicht schlimm, wenn er sich nicht meldet. Dann hat er eben keine Zeit.
Sie wählt seine Nummer. Es klingelt zwar, aber niemand geht ran. Das hat sie schon erwartet. Enttäuscht steckt sie das Handy weg und isst auf.

Ein Krankenwagen hält direkt vor ihrer Nase. Das sieht nach Arbeit aus. Ein verletzter Bauarbeiter. Anscheinend gab es einen Unfall auf einer Baustelle.

Chloe geht zügig wieder an die Arbeit. Im laufe des Tages halten noch mehrere Krankenwagen vor der Tür. Jedes Mal werden die jungen Assistenzärzte aufgeregt. Für jeden hier ist das etwas besonderes und spannend. Auch Chloe findet langsam Gefallen daran und schon bald entsteht ein kleiner Konkurrenzkampf um die nächsten Patienten.

„Dr. Kang wollte mich bei diesem Patienten", behauptet Bianca eifrig und klammert ihre Hände eisern an die Metallstange der Liege.
„Musst du dich so kindisch aufführen, Bianca?", faucht Izzy leicht gereizt. Sie fällt voll auf Biancas Provokation herein. Chloe amüsiert sich über die Beiden und geht zu Dr. Kang. Diese sieht den kleinen Streit zwischen den jungen Frauen und seufzt.

„Die Zwei scheinen anscheinend beschäftigt zu sein und haben den Sinn ihrer Ausbildung ganz vergessen. Sie kümmern sich um den Patienten."
Damit reicht Dr. Kang Chloe die Patientenakte und Chloe grinst in sich hinein. Wie heißt es doch so schön: Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte.

Die Zeit vergeht. Draußen sinkt die Sonne langsam zum Horizont und die großen Gebäude werfen Schatten auf die Straßen.
Christian hat sich immer noch nicht gemeldet. Hat er überhaupt gesehen, dass Chloe angerufen hat? Sie will ihn nicht nerven, doch ein Wort von ihm würde sie etwas aufmuntern.

„Okay Leute, hört mal zu. Wir bekommen zwei Sonderfälle rein", ruft Dr. Kang und holt dass Team zusammen.
„Es gab eine Schießerei auf einer Baustelle. Wir erwarten zwei Patienten mit schweren Schussverletzungen. Ich möchte, dass ihr euch bereit haltet und euren lächerlichen Wettstreit beendet. Das hier ist ernst zu nehmen."

„Müssen wir nicht die Polizei verständigen?", fragt Simon und rückt wie immer seine Brille zurecht.
„Die Polizei hat uns das gemeldet. Sie treffen jeden Moment ein, also haltet euch in Bereitschaft."
„Was mag da wohl passiert sein?", flüstert Izzy zu Chloe und zieht sich Handschuhe und einen Plastikkittel an.

„Keine Ahnung, aber mit Schusswunden ist nicht zu spaßen."
Sie stellen sich mit Dr. Kang vor den Eingang und warten etwa fünf Minuten, bis der Krankenwagen vorfährt. Die Sanitäter springen heraus und öffnen die hinteren Flügeltüren.
„Was haben wir?", fragt Dr. Kang.

„Ein Mann, Mitte Dreißig, schwere Schusswunden nach einer Schießerei. Er ist bei Bewusstsein, hat aber viel Blut verloren."
Sie rollen die Trage raus. Chloe sieht entsetzt auf das ganze Blut. Den Mann hat es echt schlimm erwischt.
„Oh mein Gott."

Der Mann scheint Asiate zu sein. Seine Haare sind verklebt durch das viele Blut und seine schmalen Augen blicken wachsam umher. Er wirkt trotz der Schmerzen ziemlich aufgeweckt und misstrauisch.
Im selben Moment fährt der zweite Krankenwagen auf den Hof.
„Kümmern Sie sich um diesen Mann, Dr. Anderson. Ich nehme den zweiten in Empfang."

„Sicher", antwortet Chloe und hilft den Verletzten nach drinnen zu schieben. Sie begleitet ihn mit Simons Hilfe und wird drinnen von Dr. Grant erwartet. Er führt sie in ein Behandlungszimmer. Durch die wenigen Fenster kann man auf den Flur hinaus sehen. Simon dreht die Schalousien um, während Chloe dabei hilft dem Mann erste Hilfe zu leisten. Dr. Grant – ein fünfzigjähriger erfahrener Arzt – kümmert sich darum die Kugeln zu entfernen. Er ist ziemlich geschickt dabei.

„Geben Sie ihm noch etwas gegen die Schmerzen", bittet er Chloe ruhig. Ihn scheint so leicht nichts aus der Ruhe zu bringen. Bewundernd schaut Chloe dabei zu, wie er den jungen Mann behandelt.

Als er fertig ist, schickt er Chloe hinaus, um die Tücher zu wechseln. Chloe wirft die blutigen Fetzen in einen Korb und bringt sie aus dem Zimmer. Anscheinend wird der Mann wohl durchkommen. So etwas erleichtert einen Arzt immer, auch wenn Chloe den Mann persönlich überhaupt nicht kennt.

Als sie zurück kommt, herrscht rege Unruhe im Patientenzimmer.
„Ich bitte Sie, bleiben Sie doch liegen. Sie dürfen noch nicht aufstehen", bittet Izzy eindringlich. Simon und sie versuchen verzweifelt den Mann festzuhalten, der immer wieder versucht aufzustehen.

„Ich muss mit ihm reden..."
„Sie müssen jetzt gar nichts. Sie sind schwer verwundet. Wenn sie nicht wollen, dass die Wunden erneut bluten, bleiben sie liegen."
„Er hat mir das Leben gerettet", sagt der Asiate unter Schmerzen und sinkt erschöpft aufs Kissen.

„Wer?"
„Der andere Mann...er wurde mit mir hier her gebracht...Sie müssen mir sagen...wie es ihm geht."
Izzy stöhnt genervt und blickt Hilfe suchend zu Chloe.

„Schon gut, ich kümmere mich darum."
Sie verlässt das Zimmer wieder und fragt am Empfang nach dem zweiten Patienten mit Schussverletzungen.
„Ich glaube sie behandeln ihn noch in Zimmer 4", informiert die kleine Schwester Chloe und deutet hinter sie in den Flur.
„Danke."

Chloe will schon loslaufen, da hält die Schwester sie noch einmal auf.
„Ach äh...das sind die persönlichen Sachen des Patienten. Die Sanitäter haben sie eben abgegeben. Sie haben ein Handy, diese Uhr und eine Pistole bei ihm gefunden."

Wow, eine Pistole? Chloe sieht in den kleinen Korb.
„Was sollen wir damit machen?"
„Woher soll ich das wissen? Ich bin nicht für den Patienten verantwortlich."
„Können Sie das zu ihm bringen?"
Chloe ist genervt. Seit wann macht sie den Job einer Krankenschwester? Er wird die Sachen wohl kaum jetzt brauchen. So weit Chloe weiß, schwebt er in Lebensgefahr.

Widerwillig nimmt Chloe den kleinen Korb und stapft den Flur entlang.
Plötzlich klingelt das Handy im Korb.
Chloe bleit stehen und nimmt es in die Hand. Es wäre besser dem Anrufer mitzuteilen, dass der Besitzer des Handys im Krankenhaus ist.

Chloe will gerade den Anruf annehmen, als sie den Namen des Anrufers sieht. Ein eiskalter Schauer läuft ihr über den Rücken. Das kann nur ein Zufall sein. Nein, eigentlich nicht. Es gibt nicht so viele Leute mit diesem Codenamen.

Chloe starrt auf das Handy, das in ihrer Hand vibriert und immer wieder klingelt. Sie wagt kaum den Anruf anzunehmen. Sie will es nicht.
Ihr Finger zittert, als er das Display berührt.
„Hallo?"
Chloe saugt scharf die Luft ein. Diese Stimme.
„Hallo? Mit wem spreche ich? Können Sie mir sagen in welches Krankenhaus der Besitzer dieses Telefons gebracht wurde? Hallo? Hören Sie mich?"
„Thomas?", fragt Chloe mit rauer Stimme.

„Chloe?"
Er klingt genauso überrascht sie zu erkennen.
„Thomas...das ist...Christians Handy?"
Er antwortet nicht. Sein Schweigen sagt jedoch alles.
„Chloe ich bin unterwegs. Ich komme zu deinem Krankenhaus..."
Mehr bekommt sie nicht mehr mit. Ohne auf irgendjemanden oder etwas zu achten, lässt sie den Korb fallen und rennt zum Behandlungszimmer. Davor ist ein kleiner Zwischenflur. Chloe stößt laut die Tür auf und bleibt wie angewurzelt stehen.

Vor ihr befinden sich bodenlange Glasscheiben. Eine davon ist eine Tür. Dahinter befindet sich ein abgelegenes Behandlungszimmer.
Dr. Kang und mehrere andere Ärzte stehen um die breite Liege herum und versuchen dem Mann vor ihnen das Leben zu retten.

Sie drückt entsetzt die Hände an die Scheibe und starrt auf den bewusstlosen Mann auf der Liege. Da ist Blut, überall so viel Blut. Seine Augen sind geschlossen. Wie schlimm sind die Verletzungen?

Panik bricht in ihr aus. So große Panik, wie Chloe noch nie verspürt hat. Ein Alptraum ist das. Ein absoluter Alptraum.
„CHRISTIAN!"

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