Manchmal muss das Schicksal nachhelfen

Er sagt das so selbstverständlich und so gelassen, als hätte er diesen Satz einstudiert. Ist das ein schlechter Film oder was?

„Christian..."

Ihre Stimme klingt seltsam weit weg. So hat sie sich das eigentlich nicht vorgestellt. Sie wollte doch stark sein, ihm entgegen treten und ihm sagen wie sehr sie ihn vermisst hat. Doch anscheinend sind ihre Worte überflüssig angesichts dieses ausdruckslosen Blickes von ihm. Er steht genau vor ihr und wirkt weiter weg denn je. Ihr wird übel. Dieser Mann bringt sie vollkommen aus dem Konzept. Er schafft es sie total zu verwirren und ihr jeglichen Mut zu nehmen.

„Sie sind zurück?", fragt Dr. Kang an ihn gerichtet.
Christian schenkt Chloe nicht weiter Beachtung und lässt sie stehen.
„Ja, wir haben eben den Tunnel geöffnet. Wir beginnen gleich mit der Rettungsaktion. Bitte stellen Sie ein Team bereit."

„Oh ja, natürlich."
Sie wendet sich an Chloe und Simon.
„Sie beide gehen vorerst mit, bis das neue Team eingetroffen ist."

Was? Sie soll mit gehen? Zwar will Chloe unbedingt helfen, aber warum ausgerechnet mit Christian? Das wird unangenehm so viel steht fest.

Ihn scheint das gar nicht zu kratzen. Seine Ignoranz und Ablehnung sind auch dann noch zu spüren, obwohl er sie nicht ansieht. Tja, das hat sie jetzt davon. Sie hat ihn ja weg geschickt. Doch eigentlich will sie alles rückgängig machen. Sie hat ihn so sehr vermisst. Aus anfänglicher Freude wird Unbehagen in seiner Gegenwart. Sie fühlt sich ganz klein und wagt kaum noch ihn anzusehen.

Er wartet bis Simon und sie die Versorgungstaschen neu befüllt haben und führt sie dann ohne ein weiteres Wort zum Tunnel.
Nie hätte Chloe geahnt, dass Schweigen manchmal mehr weh tun kann, als jegliche Art von Beleidigung.

Sie klettern über die großen Betonbrocken neben der Brücke. Dabei muss Chloe Simon etwas helfen. Er ist etwas unbeholfen und hat keine gute Kontrolle über seinen schweren Körper. Es täte ihm wirklich gut das ein oder andere Kilo zu verlieren.

Chloe sieht das große Loch oberhalb des Tunnels. Haben sie das etwas hinein geschlagen?

„Wie ist die Lage?", fragt Christian als sie fast ganz oben angekommen sind. Ein blonder, großer Typ kommt zu ihm. Er hat eine Menge Staub auf den Schuhen. Er scheint wie die meisten hier in Christians Alter zu sein. Nur wenige scheinen älter oder jünger zu sein.
„Noch hat sich keiner runter getraut, wir wollten deine Befehle abwarten."

Er bemerkt Chloe und Simon, denen gerade von zwei jüngeren Offizieren jeweils ein Schutzhelm aufgesetzt wird. Zudem vergewissert sie sich, dass ihre Schuhe fest zugeschnürt sind. Sie hat leider keine Stiefel, aber ihre Turnschuhe sollten einigermaßen rutschfest sein. Trotzdem sollte sie es vermeiden zu stolpern.

„Was ist mit den Beiden?"
„Sie bleiben hier draußen. Ich checke erst die Lage."
„Wir sollten mitkommen. Dort unten sind Menschen, die unsere Hilfe brauchen", bittet Chloe an Christian gewandt. Sie will so schnell wie möglich da runter und ihre Arbeit machen. Die Leute dort unten warten schon so lange auf Hilfe.

„Ich diskutiere nicht darüber", gibt er forsch zurück und geht zu dem Kranwagen, an dem ein langes Seil hinab in das schwarze Loch reicht.
Auch wenn er nicht darüber diskutieren will, muss er das noch lange nicht in so einem Ton sagen. Chloe verzieht das Gesicht.

Dann tritt der blonde Mann vor und sagt mit einem halben Grinsen und einem verständnislosen Kopfschütteln: „Was er eigentlich damit meint, ist dass er vorerst nicht noch weitere Personen in Gefahr bringen will. Deshalb geht jemand vor, um die Sicherheit abzuklären. Wir wissen nicht, was uns dort unten erwartet."

Also das ist der Grund? Er will sie bloß in Sicherheit wissen? Warum kann er das nicht einfach sagen?
„Und welcher Verrückte geht voran?", fragt der kleine Kerl mit dem viel zu jungen Gesicht. Er ist doch selbst noch ein Kind. Was macht er hier?

„Ich mache das."
„Du gehst selbst rein, Captain?"
Christian nickt und legt sich den Gurt an. So ist er mit dem Kran verbunden.
Chloe versucht sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen. Stattdessen holt sie das Erste-Hilfe-Set aus der Tasche und macht sich bereit. Simon tut es ihr gleich.

Ein paar Minuten später verschwindet Christian in dem dunkeln Loch.
„Wie sieht es da unten aus?", spricht der Blonde in das Funkgerät.
„Dunkel, Staubig und...", hört man Christians Stimme gegen ein Kratzen ansprechen. Es ist undeutlich.
„Und was?"
„Scheiße!"

Diesen Fluch wollte keiner hören.
„Was ist denn?"
„Ich komme wieder hoch...das hat keinen Sinn. Wir müssen doch von unten ran."
Enttäuschung verbreitet sich unter den Soldaten.
Also ziehen sie Christian wieder hoch und beginnen sich weiter von vorne durch den Schutt zu graben.

Die Wasserkissen stabilisieren die einzelnen großen Betonbrocken. Es dauert eine weitere Stunde bis sie endlich einen Zugang geöffnet haben und weiter ins Innere des Tunnels vordringen können. Chloe hüpft unruhig auf ihren Füßen auf und ab. Ihr ist kalt und sie will unbedingt sehen, was los ist. Doch vorerst lässt sie keiner auch nur in die Nähe des Eingangs.

Dann endlich kommen Leute heraus. Sie sind total verwirrt und angeschlagen, doch sie scheinen größtenteils unversehrt. Sofort kümmert sich Simon um sie. Immer wieder bringt ein Soldat eine Person ins Freie. Das ist echt mal ein schöner Anblick.

Nach einer Weile treffen auch mehr Hilfskräfte ein. Chloe und Simon könnten sich langsam zurückziehen, denken aber gar nicht daran. Sie kümmern sich um einen Patienten nach dem anderen. Ausruhen gibt es nicht. Chloe spürt ihren Körper kaum. Sie ist so beschäftigt, dass sie nicht mal ihre kalten Hände wahrnimmt. Erst als eine Frau sie darauf hinweist, bemerkt es Chloe.

Sie will ihr gerade ein Pflaster auf die Stirn kleben, als ein paar dunkle Stiefel neben ihr auf dem steinigen Boden anhalten.
Sie sieht auf und erkennt Christians ausdruckslose Miene.
„Komm mit, ich brauche deinen Rat."

Sie nickt und folgt ihm zügig. Er bringt sie in den mittlerweile vorläufig beleuchteten Tunnel. Dort liegen noch mehr Betonbrocken, Autos sind halb verschüttet und in einander gefahren oder überschlagen.
Viele Menschen waren hier drin eingeschlossen und sind es noch, wie Chloe schnell feststellen muss. Ein Mann, etwa um die fünfzig Jahre alt, liegt mitten zwischen den dicken Brocken. Es sieht so aus, als wäre ein Teil der Decke auf ihn gestürzt. Seine Beine sind eingequetscht.

Er ist noch bei Bewusstsein. Sofort eilt Chloe zu ihm und checkt seine Vitalzeichen. Er kann nur schwer atmen und hat einen unregelmäßigen Puls. Vermutlich sind lebenswichtige Organe verletzt, von seinen Beinen gar nicht erst zu sprechen. Sie stellt ihre Tasche neben ihm ab und beugt sich über ihn.

„Können Sie mich verstehen?"
Der Mann nickt gequält. Er muss sofort ins Krankenhaus. Chloe hat nicht die richtige Qualifikation, um ihn zu behandeln.

Er hat zumindest geantwortet. Der Schock hält ihn bei Bewusstsein.
Christian zieht sie vorsichtig auf die Beine und ein Stück außer Hörweite.
„Kannst du ihn behandeln?"
„Dazu muss er erst einmal hier raus."
Christian zögert. Irgendwas stimmt nicht.

„Die Sache ist die, hinter ihm liegt noch eine Person. Ein Student ist in seinem Auto eingeklemmt. Noch geht es ihm einigermaßen gut, aber wenn wir den Mann hier vorne rausholen, bricht alles über dem Auto zusammen und wir verlieren den anderen. Die Brocken sind unglücklich miteinander verbunden."

Oh-oh. Das klingt gar nicht gut.
„Und was werden wir jetzt tun?"
„Nun...", beginnt Christian ernst und sieht auf den Mann hinter Chloe, „du muss eine Entscheidung treffen."
Was?
„Wie darf ich das verstehen? Du willst, dass ich entscheide..."
„...wen wir retten sollen", beendet Christian ihren Satz.
Chloe starrt ihn entsetzt an.

„So oder so, wir können nicht beide retten."
„Und warum muss ich das entscheiden?", fragt sie leicht panisch.
„Weil ich nun mal deinem Urteil von allen hier am meisten vertraue."
Hat er das gerade wirklich gesagt? Er hat doch gar keine Ahnung über ihr Urteilungsvermögen.

Chloe sieht sich nervös um. Sie ist leicht überfordert. Sie kann doch nicht einfach so über Leben und Tod entscheiden. Er kennt die Lage besser, als sie.
„Kannst du das nicht entscheiden?"
„Laut Vorschriften muss das jemand mit medizinischen Fachkenntnissen tun. Ich gebe nur den Befehl."

„Triffst du jeden Tag auf solche Situationen?"
Sein Schweigen ist Antwort genug.
„Ich nicht. Ich bin auf so etwas nicht vorbereitet."
„Chloe, ich weiß, dass du überhaupt nicht darauf vorbereitet bist, aber so ist das Leben. Manchmal zwingt es uns dazu Entscheidungen zu treffen. Ich kann es dir nicht erleichtern. Du kennst die Situation. Bitte triff möglichst schnell eine Entscheidung. Wir müssen uns weiter vorarbeiten. Hinter dem Geröll sind noch viel mehr Menschen, die unsere Hilfe brauchen. Je länger wir zögern, desto schlechter geht es ihnen."

Zack! Das hat gesessen. Das waren deutliche Worte von Christian.
Wie handelt er sonst in so einer Situation? Macht es ihm gar nichts aus ein Leben zu verurteilen? Chloe hat für einen Moment vergessen, dass ein Soldat vor ihr steht. Genau aus diesem Grund wollte sie nie mit einem ausgehen. Soldaten sind einfach zu herzlos. Er ist genau wie ihr Vater.

Sie holt tief Luft und geht zurück zu dem eingeklemmten Mann. Dann sieht sie sich genau die Situation des jungen Mannes im Auto an. Durch einen kleinen Spalt zwischen den Brocken, kann sie ihn sehen. Er scheint bis auf ein paar Schrammen in Ordnung zu sein. Wenn sie den älteren zuerst raus ziehen, bricht hier alles zusammen und seine Überlebenschancen stehen nicht gerade sehr hoch. Dagegen hat der junge Mann noch fast sein ganzes Leben vor sich.

Es fällt Chloe wirklich nicht leicht diese Entscheidung zu treffen. 
Sie denkt hin und her, doch wie sie es auch dreht und wendet, es gibt keine Möglichkeit beide zu retten.
Ihr Inneres verkrampft sich, als sie zu Christian zurückkehrt. Die Worte sind so schwer, als sie über ihre Lippen kommen. Sie kann niemanden in die Augen sehen.
„Holt...holt ihn aus dem Auto."
Es muss einfach die richtige Entscheidung sein.

Christian will ihr seine Hand auf die Schulter legen. Zum Trost vielleicht? Chloe kann seine Berührung gerade nicht ertragen. Sie ist kurz davor den Verstand zu verlieren. Sie muss hier raus. Also dreht sie sich einfach um und geht davon. Sie kann nicht mitansehen, wie der Mann stirbt, den sie eben zum Tode verurteilt hat.

Sie kann nicht verhindern, dass ihre Augen sich mit Wasser füllen. Sie ist echt am Ende. Das war nun wirklich zu viel. Ist sie deshalb Ärztin geworden? Für so etwas?
Ihre Beine bleiben stehen. Sie sind schwer wie Blei. Chloe stützt sich auf die Knie und gibt ihren Emotionen nach.
„Chloe?"

Nein, geh weg. Bitte geh weg!, denkt sie innerlich. Sie kann ihn jetzt nicht ansehen. Er soll nicht ihre verheulten Augen sehen.
Sie richtet sich auf und wischt sich das Gesicht trocken, doch die Tränen kommen immer wieder. Egal wie oft sie über ihr Gesicht wischt. Das macht sie wütend und noch mehr verzweifelt.

„Chloe..."
Christian tritt neben sie und dreht sie zu sich um. Scheiße, jetzt sieht er sie doch. Hoffentlich drückt er ihr keinen dummen Spruch. Ach was, das würde er nicht tun.
„Sei tapfer, Chloe. Ich weiß es ist schwer."
„Warum musste ich unbedingt diese Entscheidung treffen?", fragt sie schluchzend.

Hinter ihnen wird fleißig am Geröll gearbeitet. Sie ist weit genug weg, um nichts zu sehen. Doch über ihr regnet es kleine Bröckchen herab. Sie fallen auf seinen Helm und rollen dann langsam zu Boden.
„Weil ich wollte, dass du diese Entscheidung triffst. Ich will, dass du daran wächst."
„Deswegen hast du das gemacht?"

Er schüttelt den Kopf.
„Nicht nur deswegen. Es ist, weil ich dir vertraue. Andere wären an dieser Aufgabe verzweifelt und hätten einen Fehler gemacht. Du aber nicht. Ich wusste, dass du die richtige Entscheidung treffen würdest. Trotzdem durfte ich dich nicht beeinflussen."

„Du wusstest, was die richtige Entscheidung ist? Wieso hast du es mir nicht gesagt?"
Ihre Stimme wird immer lauter und auch Christians Stimme wird immer erregter.
„Wie schon gesagt musste ein Arzt diese Entscheidung treffen."

Chloe kann sich langsam nicht mehr zwischen Frust und Verzweiflung entscheiden. Sie ballt die Fäuste und starrt wütend in Christians braune Augen, in denen sich ihr inneres Chaos wiederspiegelt. Ihr Körper zittert vor Anspannung, während er da ganz ruhig steht und sie nur weiterhin ansieht.

Ein lautes Krachen fährt durch den gesamten Tunnel. Ehe Chloe überhaupt weiß, wie ihr geschieht, wirft Christian sie zu Boden. Sie spürt seinen Arm auf ihr liegen, als eine Welle von Staub und Steinen über sie hereinbricht. Chloe bekommt kaum Luft. Sie kneift die Augen zusammen und wartet, bis es wieder leise wird.

Von irgendwo kommen Stimmen. Jemand ruft etwas, aber Chloe kann es nicht verstehen. Vorsichtig versucht sie den Kopf zu heben. Sie bewegt die Arme und Beine und stellt fest, dass ihr nichts passiert ist. Vor ihr liegen einige Betonteile und über ihrem Kopf klafft ein großes Loch, durch das sie den mit Rauch überzogenen Himmel sehen kann.

Sie sieht neben sich. Ihr Herz setzt aus. Christian liegt neben ihr und rührt sich nicht.
„Christian?"
Sie dreht sich auf die Seite, setzt sich auf und rüttelt vorsichtig an seiner Schulter, bis sie das Blut an ihrer Hand sieht. Ein Betonklotz muss ihn an der Schulter getroffen haben.
„Christian!", ruft Chloe panisch, doch er antwortet immer noch nicht.
Die Angst in ihr ist kaum zu beschreiben.

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