Eine grausame Bitte
Sie spürt, wie sie abwechselnd heiße und kalte Schauer überkommen. Das kann doch nicht sein Ernst sein? Wieso will er Christian aufwecken?
Hilfe suchend schaut sie zu Dr. Kang. Auch sie ist entsetzt über eine solche Frage.
„Bei allem Respekt, Sir, aber er schwebt immer noch in Lebensgefahr. Er kann jeder Zeit weitere Blutungen bekommen. Sein Herz ist sehr schwach und wir wissen nicht einmal, ob er die nächsten vierundzwanzig Stunden überlebt."
„Das ist mir bewusst", erwidert der große Mann und weiß genau, was er da verlangt. Er weiß es und er fühlt sich unwohl dabei. Das sieht Chloe.
„Dann ist Ihnen auch bewusst, dass ich das unmöglich tun kann. Ihn jetzt aufzuwecken bedeutet ihn gleichzeitig in noch größere Gefahr zu bringen. Es könnte ihm das Leben kosten. Er hängt eh schon am seidenen Faden. Wir sind froh ihn gerade halbwegs stabil zu bekommen. Also vergessen Sie den Gedanken."
Leicht empört stemmt Dr. Kang die Arme in die Seiten und zieht die Stirn in Falten.
„Ich kenne die Gefahr. Trotzdem will ich von Ihnen wissen, ob es rein technisch möglich ist."
„Sie haben wohl immer noch nicht verstanden. Ich werde das nicht tun, Sir. Abgesehen davon, dass Sie ihn gleich umbringen können, würde ich meine Lizenz verlieren. Das spricht gegen alles wofür ich stehe und mein halbes Leben für gearbeitet habe."
„Machen Sie sich um die Konsequenzen keine Sorgen. Dafür werden Sie nicht behelligt, das versichere ich Ihnen. Nur habe ich leider keine Wahl, als sie darum zu bitten. Mir gefällt der Gedanke ebenso wenig. Nur hat dieser Mann", er deutet auf Christian neben sich, „Informationen, welche die Nationale Sicherheit betreffen. Es geht hier darum einen Krieg mit China zu verhindern."
Was, einen Krieg mit China? Chloes Blick wandert hinter sich. Was kann Christian schon für Informationen haben, die Thomas nicht hat? Und was ist mit dem Asiaten von vorher. Der Mann wurde mit Christian zusammen ins Krankenhaus gebracht. Weiß er nicht mehr? Können sie nicht ihn fragen?
„Der Mann muss unglücklich auf den Kopf gefallen sein. Er hatte schwere Hirnblutungen, die anfangs nicht aufgefallen sind. Er hatte vor einer halben Stunde einen Schock und ist verstorben," erklärt Thomas nüchtern, als Chloe ihn fragt.
Ihr bleibt der Mund offen stehen. Vorhin war sie noch bei ihm. Er schien relativ munter zu sein, trotz der Schusswunden. Doch auf einmal ist er tot? Deshalb wollen sie jetzt Christian aufwecken und sein Leben für ein paar Informationen riskieren.
„Dad", spricht Chloe ihren Vater nun direkt an, „mag sein, dass Christian wichtige Informationen hat. Doch kann das nicht warten, bis es ihm besser geht? Er muss zumindest stabil sein, um..."
„Ich habe keine Zeit, Chloe", unterbricht der General sie. „Ich weiß wie grausam dir das vorkommt und ich wünschte wir hätten eine andere Lösung. Allerdings läuft mir die Zeit davon."
Er wendet sich erneut an Dr. Kang.
„Wenn es möglich ist, bitte wecken Sie ihn auf."
Die Frau stöhnt verzweifelt und zögert.
„Wie schon gesagt, ich übernehme die volle Verantwortung dafür."
„Nein, Dr. Kang das dürfen Sie nicht tun. Sie bringen ihn damit um", fleht Chloe und geht auf ihre Chefärztin zu, doch Thomas hält ihren Arm fest.
Verdutzt dreht Chloe sich zu ihm um. Sie erschreckt über seinen Gesichtsausdruck. So vollkommen ernst und bereit sie notfalls irgendwo festzubinden oder einzusperren. Auch ihn kann das nicht unberührt lassen. Er hat Christian immer bewundert. Er kann das nicht gut heißen.
Wahrscheinlich tut er das auch nicht. Wahrscheinlich fällt ihm dieser Zug genauso schwer wie ihr. Trotzdem hält er sie auf. Weil es ein Befehl ist. Chloe weiß, dass es so ist.
Sie liest es in seinen blauen Augen.
„Bitte Doktor, ich würde das nicht verlangen, wenn es nicht wirklich wichtig wäre", redet Chloes Vater auf die Ärztin ein.
„Nein, bitte tut das nicht!", fleht Chloe und spürt die Panik erneut in ihr aufsteigen. Christian ist nicht stark genug, um das zu überstehen. Wenn sie nur etwas warten würden.
„Dad, das kannst du ihm nicht antun. Er verdient eine Chance. Die Chance gesund zu werden und zu leben."
Chloe regt sich immer mehr auf und Thomas muss sie mittlerweile mit beiden Armen festhalten. Sie wehrt sich und will sich seinem festen Griff entziehen, doch gegen seine Kraft ist sie machtlos.
„Es ist rein technisch möglich, allerdings kann ich nichts versprechen."
Das klingt als würde Dr. Kang nachgeben.
Oh nein! Das darf nicht wahr sein. Chloe glaubt nicht was sie hier erlebt. Was für wichtige Informationen können das denn sein?
„Versuchen Sie es", bittet Chloes Vater erneut.
Wenn sie ihn jemals verabscheut hat, dann jetzt. Sie hat so eine unbeschreibliche Wut auf ihn. Hat er überhaupt kein Herz mehr? Wahrscheinlich ist es erstickt unter den vielen Orden an seiner Brust.
Dr. Kang zögert noch einen kleinen Moment und ruft dann zwei Schwestern zu sich. Sie sollen die nötigen Vorbereitungen treffen und einen Notfall-OP bereit halten.
Chloes Seele schreit. Genauso wie ihre Stimme. Sie drückt gegen Thomas Arme, die sich um ihren Bauch legen und sie aus dem Zimmer ziehen. Sie haut ihn und tritt auf seine Füße. Er redet beruhigend auf sie ein, doch es bringt nichts. Chloe will das nicht zulassen. Sie ist so furchtbar wütend auf ihn und auf ihren Vater. Nur leider hindert Thomas sie daran sich auf ihn zu stürzen oder die Ärzte an ihrer Arbeit zu hindern.
Eine ganze Weile noch zetert Chloe auf dem Flur herum. Es kümmert sie nicht wen sie damit stört oder wer sie für eine Irre hält.
Irgendwann verwandelt sich die Wut in Verzweiflung und ohne groß darüber nachzudenken bricht sie vor allen Leuten in Tränen aus. Sie lässt es sogar zu, dass Thomas sie in den Arm nimmt.
„Es tut mir so leid, Chloe. Glaub mir bitte."
Sie schluchzt an seine Schulter und weint so lange, bis ihr Vater aus dem Zimmer tritt.
Kaum sieht sie ihn, befreit sich Chloe aus Thomas Umarmung. Dieser reagiert nicht schnell genug und kann nicht verhindern, wie Chloe sich auf ihren Vater stürzt und auf seine Brust einschlägt. Nicht so fest, dass es ihm etwas ausmachen würde. Er bleibt wie ein Fels in der Brandung stehen und lässt ihren Frust über sich ergehen.
„Ich hasse dich! Du bist so ein ignoranter Mistkerl. Endlich habe ich etwas in meinem Leben, was mir wichtig ist und du willst es mir weg nehmen. Genauso wie du mir Mum genommen hast. Du warst nie für uns da. In der Zeit, wo ich dich am meisten gebraucht habe, hast du am anderen Ende der Welt Menschen umgebracht. Du hast ihr nicht helfen können, weil du nicht da warst. Deinetwegen werde ich von Terroristen entführt und von Söldnern bedroht. Deinetwegen ist Christian aus meinem Leben verschwunden und nun lässt du es zu, dass er stirbt. Was willst du noch alles zerstören? Wann hört das endlich auf, Dad?"
Es tut so unglaublich weh. Etwas sehr mächtiges zerreißt Chloe von innen und droht ihre gesamte Welt zu zerstören. Sie war schon einmal in der Hölle. Warum nicht ein weiteres Mal? Nur wird es diesmal keiner mehr schaffen sie zu retten. Denn dann wird es Christian nicht mehr geben. Kein anderer vermag Chloe aus der Dunkelheit zu holen, so wie er es getan hat.
„Sei doch vernünftig, Chloe", bittet Thomas ruhig und hält ihre Hände fest.
„Ich habe jegliche Vernunft über Bord geworfen", faucht sie wütend zurück.
Sie funkelt ihren Vater immer noch wütend an, der ihrem Blick absichtlich ausweicht.
Er setzt sich auf einen Stuhl auf dem Flur und sieht bedrückt aus. Chloe weiß, dass ihre Worte verletzend waren. Sie kommt eigentlich nicht so aus sich heraus, doch sie kann einfach nicht mehr still sein.
Es dauert eine Weile, bis Chloe sich langsam beruhigt. Sie lehnt sich an die Wand gegenüber und ignoriert Thomas, der sie argwöhnisch beobachtet. Sie ist nicht wütend auf ihn. Er hat sie nur daran gehindert aus der Wut heraus einen ganz dummen Fehler zu machen. Vielleicht war das auch besser so. Wer weiß zu was Chloe fähig wäre in ihrem Zorn. Sie ist immer noch unruhig und sauer. Stinksauer. Nur kann sie nichts machen.
Eine Dreiviertelstunde stehen sie auf dem Flur und schweigen einander an. Chloe kratzt nachdenklich an der weissen Tapete, die an einer Stelle einen kleinen Riss hat. Ihre Gefühle schwanken die ganze Zeit zwischen Wut, Verzweiflung und Hoffnung. Ja, sie hofft auf ein Wunder. Sie betet, dass Christian stark genug ist und sein Herz das alles übersteht.
Es ist nach Mitternacht, als sich die Tür zu dem Krankenzimmer öffnet und Dr. Kang eine Blick in die Runde wirft. Außer den Dreien steht keiner mehr auf dem Flur. Als Chloes Theater nachgelassen hat, hat auch der restliche Trubel im Krankenhaus nachgelassen.
Dr. Kangs dunkle Augen bleiben bei Chloes Vater hängen, der erwartend zur Ärztin schaut.
„Wir hatten Erfolg. Er ist wach, Sir."
Chloe verlässt die Wand und will ins Zimmer gehen, doch die Chefärztin versperrt ihr den Weg.
„Ich kann nicht zulassen, dass Sie mir dort drinnen eine Szene machen. Sie bleiben hier."
„Bitte, Dr. Kang, Sie können mir das nicht antun. Ich will ihn sehen."
„Das können Sie auch von hier draußen. Wir lassen die Tür auf, doch sie setzen keinen Fuß über die Schwelle."
Dr. Kang wendet sich an Thomas.
„Sie passen auf."
Er nickt flüchtig. Verdammt auf wessen Seite steht er eigentlich?
Chloes Vater und Dr. Kang gehen zusammen zu Christian. Chloe geht so nahe ans Zimmer heran, bis ihre Schuhe schon halb in der Tür stehen. Thomas räuspert sich laut. Chloe hat ihn nicht vergessen. Wie könnte sie auch?
Angespannt knabbert sie auf ihrer Unterlippe und knibbelt an ihren Fingern. Dass sie dort noch nicht wund ist, scheint auch ein Wunder zu sein.
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