Die schlimmste Strafe

Die Sonne brennt ihr auf den Leib. Schützend bindet sie sich das Tuch um den Kopf. Zwar ist es nicht so heiß wie erwartet, doch beißen sich die UV-Strahlen durch ihre Haut. Die Hand ruht lässig auf dem Griff ihres Rollkoffers, während sie sich gelangweilt die laut quasselnden Menschen um sich herum ansieht. Es sind mit ihr noch insgesamt zehn weitere Ärzte nach Herat geflogen. Chloe fragt sich, wen sie wohl verärgert haben. Keiner tut sich das freiwillig an. Die Gruppe hat zwei Männer und der Rest besteht aus unreifen, Selfie-Süchtigen Frauen, die etwas jünger sind als Chloe.

Der eine Mann scheint um die vierzig zu sein. Er sieht wie ein typischer Versager aus, doch das soll um Himmels Willen kein Vorurteil sein.
Chloe kann sich ja selbst so nennen.

Nun steht sie schon eine Ewigkeit vor dem Flughafengebäude und wartet auf ihre Mitfahrgelegenheit. Man hat sie nur darüber Informiert, dass sie mit einem Hubschrauber abgeholt werden müssen. Offensichtlich bleibt sie nicht lange in Herat. Wo zur Hölle schickt Dr. Martin sie nur hin? Die Welt ist nicht groß genug, als dass er sie dauerhaft verstecken kann.

Die anderen vertreiben sich die Zeit mit ihren Smartphones oder unterhalten sich. Chloe interessiert sich schnell nicht mehr für sie. Vielleicht ein Fehler, denn schließlich muss sie die nächsten acht Wochen mit ihnen verbringen.

Anscheinend hat niemand von ihnen eine Ahnung, was sie erwartet. Das bedeutet keiner hier ist für das Team zuständig. Nur wer ist es dann?
Eine weitere Viertelstunde vergeht, bis Chloe endlich in der Ferne das Schlagen der Rotorblätter eines Hubschraubers wahrnimmt. Suchend blickt sie in den Himmel. Da zur Zeit kein Flugzeug auf dem Rollfeld hinter dem Gebäude ist, kann man ihn sehr deutlich hören.

Er kommt schnell näher. Ein riesiges Flugobjekt, dass durch die grelle Sonne im Hintergrund richtig beeindruckend wirkt.
Erst als er ein Stück weiter fliegt und Chloe nicht mehr gegen die Sonne anblinzeln muss, erkennt sie die kakifarbene Außenhülle. Was denn...ein Militärhubschrauber?

Das hat Chloe jetzt nicht erwartet.
Er landet circa dreihundert Meter entfernt. Die Rotorblätter drehen sich noch geschwind, als sich die Seitentür aufschiebt und vier stramme amerikanische Soldaten aussteigen. Chloe glaubt noch an einen schlechten Scherz, während sie mit zügigen Schritten auf die kleine Truppe zukommen. Sie tragen alle Sonnenbrillen und eine eng sitzende Felduniform mit Camouflage-Muster.

Hinter ihr werden die jungen Ärzte ebenfalls auf die Soldaten aufmerksam. Chloe hört sie kaum. Ihre Augen sehen auf den Mann, der voran geht und sich klar und deutlich von den Kammeraden abhebt.

In dem Moment, als er wortlos und ohne einen Blick an ihr vorbei geht und knapp hinter ihr stehen bleibt, denkt Chloe: Das ist die schlimmste Strafe, die sich Dr. Martin ausdenken konnte.
Und das Schicksal ebenso.

„Willkommen in Herat. Ich bin Captain Christian Hale und für Ihre Sicherheit verantwortlich. Wir begleiten Sie ins Trainingslager, doch können Sie die Koffer aus Sicherheitsgründen nicht in den Hubschrauber mitnehmen."
Seine Stimme versetzt Chloe einen Stich ins Herz. Da fliegt sie um die halbe Welt und trifft ihn nach gerade mal einer Woche in Afghanistan wieder.

Sie dreht sich um und sieht wie die Soldaten einige grüne Beutel verteilen.
„Bitte packen Sie alles Wichtige in die eben verteilten Taschen. Ihr restliches Gepäck wird innerhalb eines Tages nachgesendet. Wenn Sie Glück haben, haben sie es schon heute Abend."

Christian nimmt seinem Kammeraden einen Beutel ab, dreht sich zu Chloe um und reicht ihn ihr.
Sie nimmt ihn und beginnt ihre wichtigsten Sachen dort hinein zu stopfen, sowie Kleidung für einen Tag.

Sobald alle umgepackt haben, führen die Männer sie zum Hubschrauber. Nur einer bleibt zurück und kümmert sich um das restliche Gepäck.
Im Innenraum des Hubschraubers befinden sich mehrere Sitze entlang der Seitenwand. Jeder wird ordentlich angeschnallt, dann geht es los. Der Flug dauert auch nochmal zwanzig Minuten. Chloe wirft immer wieder einen Blick auf ihre Armbanduhr. Dann auf den lästigen Verband an ihrem Handgelenk. Als sie aufschaut, bemerkt sie, dass Christian ebenfalls auf ihre verletzte Hand schaut.

Doch als er ihrem Blick begegnet, erkennt sie keinerlei Emotion. Fragt er sich, was sie angestellt hat oder ist es ihm mittlerweile egal?
Er sieht desinteressiert weg. Ja, es ist ihm egal. Offenbar ist er auf ihren Besuch bestens vorbereitet. Nur Chloe wird mal wieder vor vollendete Tatsachen gestellt.

Nach zehn Minuten landet der Hubschrauber in einer Kleinstadt. Von dort aus werden alle mit insgesamt drei offenen Militärjeeps in die Berge gefahren. Dort gibt es immer weniger Zivilisation und immer mehr trockenes Land. Nicht ein Fahrzeug kommt ihnen entgegen.

Nach fünfzehn weiteren Minuten erreichen sie einen recht trostlosen Hof. Ruinen ragen dem blauen Himmel entgegen. Nichts als Staub und Steine ringsum. Da ist kaum etwas grünes zu sehen. Nur vereinzelte durstige Bäume und Gestrüpp bei den Häusern.

Kann man das überhaupt noch Häuser nennen? Das eine sieht wie eine Scheune aus, das andere wie ein einigermaßen bewohnbares Haus. Fünfzehn Meter daneben steht ein großer Turm, der vielleicht mal zu einer Moschee gehört hat. Davon ist jetzt nicht mehr viel übrig. Dahinter beginnt ein leicht hügeliger Anstieg, der sich weiter bis zu den Spitzen Bergen zieht.

Chloe dreht sich um und bewundert die Aussicht. Die Ruinen wurden auf einer Anhöhe gebaut. Darunter erstreckt sich das weitläufige Tal. Karg bewachsene Hügel ziehen sich bis zu dem kleinen Ort, in dem sie vorhin gelandet sind. Man kann ihn gerade so mit bloßem Auge erkennen. Jetzt erscheint Chloe die Strecke bis dahin gar nicht mehr so lang. Doch das täuscht. Durch die vielen Kurven wird sie länger.

„Kommen Sie, zu Ihren Schlafräumen geht es dort lang."
Man führt sie ins große Wohnhaus, das von innen gemütlicher wirkt, als erwartet. Säulen aus dunklem Holz verteilen sich über den Raum. Auch die Decke zeigt einige Holzbalken. Davon sind auch nicht mehr alle ganz heile.
Über eine Holztreppe gelangt man in den ersten Stock.

Dorthin führt man die Gäste und verteilt sie zu jeweils drei Personen auf ein Zimmer. Wobei die zwei Herren ein Zimmer für sich bekommen.
Die kleine Brünette sieht, dass die Treppe noch ein Stockwerk hinauf führt.
„Wo geht es da hin?"
„Zu den Schlafräumen der Offiziere", antwortet der Muskelprotz und gibt gleichzeitig ohne Worte zu verstehen, dass die Mediziner dort unerwünscht sind.

Chloe packt ihre wenigen Sachen aus und begibt sich dann wieder ins Erdgeschoss. Es gibt eine kleine Führung für alle durch das Haus und über das restliche Gelände. Am Ende kommt die wohl wichtigste Frage für alle jungen Menschen:
„Gibt es hier Internet?"
Die Soldaten schmunzeln.
„Es gibt zwar Internet, aber das Stromnetz ist nicht gut. Deshalb ist das Surfen im Netz hier nicht erwünscht. Außer im Notfall. Den einzigen halbwegs funktionierenden Rechner hat der Captain. Nur er hat die Befugnis ihn zu benutzen."

Enttäuschung verbreitet sich unter den Ärzten.
Dann tritt ein junger Soldat vor, den Chloe irgendwo schon einmal gesehen hat. Ist er nicht auch bei der Katastrophe am Hafen gewesen?
„Wir fahren regelmäßig in den Ort, um Besorgungen zu machen. Dort gibt es die Möglichkeit ins Internet zu gehen und über das Telefon können sie täglich zwanzig Minuten ihre Verwandten erreichen", erklärt er mit seiner hellen Stimme.
Er deutet auf das altmodische schwarze Telefon, dass noch eine Drehscheibe hat.

„Da wir nicht die Bank von Amerika sind, möchten wir Sie bitten Ihre Anrufe auf ein Minimum zu reduzieren was Häufigkeit und Dauer betrifft", erklärt der Typ neben ihm. Die Beiden sind gleich groß und scheinen einheimische zu sein.

Nachdem alle Fragen geklärt sind, führt man sie in Richtung Scheune. Dort hat man doch tatsächlich die Wände von innen mit Beton verstärkt und eine medizinische relativ hochwertige Einrichtung aufgebaut. Die anderen staunen und bringen gleichzeitig ihr Unverständnis zum Ausdruck.
„Das haben sie, aber kein vernünftiges Internet."

Chloe sieht sich alles in Ruhe an. Es gibt mehrere Liegen und sogar einen sterilen Operationssaal. Er ist klein, dafür ist die Ausstattung in Ordnung. Nur fragt sich Chloe was sie hier eigentlich soll. Sie ist keine richtige Ärztin, also was macht sie hier? Gedankenverloren schaut sie aus einem schmalen Fenster nach draußen.

Ein Wagen rollt auf den Hof. Es ist ein moderner grauer SUV. Doch Chloe schenkt ihm erst besondere Aufmerksamkeit, als Christian aus dem Haus kommt.
Ein Mann und eine Frau steigen aus. Der ältere Herr sieht nicht nach einem Soldaten aus. Tatsächlich hat er einen abgenutzten Arztkittel an und in der Hand hält er einen schwer aussehenden kleinen Koffer.

Ansonsten trägt er eine halblange braune Hose und ein dunkles Hemd. Seine grau melierten Locken hängen ihm wirr ins Gesicht. Auf seiner dicken Nase klebt eine viel zu kleine Brille und sein rundes Gesicht wirkt angestrengt und beschäftigt. Er huscht schnell hinein ins Haus und verschwindet aus Chloes Sichtfeld.

Die Frau scheint ebenfalls von hier zu sein. Sie ist jung und vor allem mehr als hübsch. Ihr schlanker Körper steckt in einem dunkelblauen Kleid, dass ihre schlanke Taille betont. Nach unten fällt es locker und wirft leichte Wellen.

Sie hat glatte, braune Haut und wunderschöne schulterlange schwarze Locken. Mit ihrem Gesicht könnte sie durchaus als Model auftreten. Chloe beneidet die Dame um ihre Erscheinung. Dagegen fühlt sie sich eher wie ein Kartoffelsack.

Sie holt einige Tüten aus dem Kofferraum, doch Christian nimmt sie ihr gleich ab. Mit der anderen Hand schließt er den Kofferraum.
Die Frau legt ihm plötzlich die Arme um den Hals und küsst ihn. Chloe holt hörbar Luft und starrt mit offenem Mund auf das Paar.
Jemand rammt ihr einen unsichtbaren Dolch ins Herz, als Christian seine nun wieder freie Hand um ihre Taille legt und den Kuss erwidert. Das ist keine flüchtige Begrüßung, nein das ist ein sehr intimer und leidenschaftlicher Kuss.

Autsch! Das tut weh! Ja das tut verdammt weh. Doch was hat sie erwartet? Sie hat Christian dreimal zurückgewiesen. Sie kann nicht davon ausgehen, dass er ewig auf sie wartet.
Der Anblick ist unerträglich. Chloe wendet sich ab und lehnt sich gegen die Wand. Lange hält sie es nicht aus. Erst recht als ihre Kollegen sie komisch anstarren. Bevor sie vor all den Leuten die Nerven verliert rennt sie nach draußen. Sie geht um die Scheune herum und immer weiter, Hauptsache weg.

Sie folgt einem unebenen Weg und kommt zu einem Trainingsplatz. Doch Chloe sieht nicht zur Seite noch zurück. Sie geht einfach weiter. Solange, bis der Weg endet und sie an einer Klippe steht. Dort setzt sie sich auf einen der vorstehenden Felsen, vergräbt den Kopf zwischen den Armen und versinkt in Selbstmitleid. Das ist wirklich die schlimmste Strafe der Welt.

Sie ist allein unter Fremden, hat kaum Kontakt zu ihren Freunden zuhause und dann ist da auch noch Christian - da ist Christian wie er eine andere küsst. Das Bild geht ihr nicht aus dem Kopf. Weder mit geöffneten noch mit geschlossenen Augen.
Das ist die Hölle!

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