Das Unglück
Dr. Kang bereitet ihr Team von jungen Ärzten darauf vor, dass jeden Augenblick ein Überlauf von Patienten stattfinden wird. Sie verteilt Handschuhe an vier von den Ärzten aus Chloes Team.
„Sie werden den Ärzten hier in der Notaufnehme assistieren und gegebenenfalls auch bei den OPs. Diejenigen, denen ich keine Handschuhe gegeben habe, fahren mit mir zum Katastrophenort und helfen dort."
„Dr. Kang", unterbricht Chloe gleich. Sie ist an solche Situationen überhaupt nicht gewöhnt und würde lieber hierbleiben.
„Ich würde es vorziehen hier in der Notaufnahme zu bleiben."
„Das Leben ist nicht immer ein Wunschkonzert, Dr. Anderson. Außerdem hatten Sie heute schon ihre Glanzstunde. Geben Sie Ihren Kollegen auch eine Chance."
Daraufhin lachen einige der anderen Assistenzärzte. Vor allem Bianca und Matt sind vorne dabei. Dabei geht es Chloe doch gar nicht um die OPs. Sie will einfach nur nicht zu einem Katastrophengebiet. Jedenfalls noch nicht. Sie fürchtet sich vor ihren Belastungsstörungen. Auch wenn es besser geworden ist, sie sind noch nicht ganz weg.
Nur weiß das keiner außer Izzy.
Bianca grinst nicht mehr, als Dr. Kang ihr ebenfalls eine Ausrüstungstasche in die Hand drückt. Ebenso wie Simon. Während er sich stumm seinem Schicksal fügt, verdreht Bianca nur die Augen.
Kaum zehn Minuten später sitzt Chloe mit den beiden und der stillen Judith in einem Krankenwagen und sie fahren Richtung Hafen. Alle sind angespannt und wagen nicht zu sprechen. Dr. Kang hört dem Funk zu. Dort gibt es immer mehr Meldungen über Verletzte und Anrufe nach Krankenwagen.
Chloe reibt sich die Hände. Ihr ist kalt. Sie hat zwar warme Kleidung und Handschuhe an, doch sie zittert immer noch. Auch weil sie überhaupt keine Ahnung hat, was sie dort erwartet.
Die Sirene des Krankenwagens geht an und Chloe erschreckt sich etwas.
„Keine Sorge, wir schaffen das. Wir sind Ärzte, da zu da, um zu helfen."
Chloe holt tief Luft und lächelt zaghaft zu Simon, der sie nur trösten möchte.
„Ich weiß Sie sind alle nervös. Das ist ihr erster Großeinsatz. Ich wünschte Sie müssten nicht so früh diese Erfahrung machen, aber irgendwann kommt jeder mal in so eine Situation. Keine Angst ich lasse keinen von euch im Stich. Nur tut mir bitte einen Gefallen und tut nichts Unüberlegtes. Wenn ihr euch nicht sicher seid und nicht mehr weiter wisst, kontaktiert mich sofort. Die Feuerwehr wird Funkgeräte für uns bereit stellen, sodass wir uns auch über eine gewisse Entfernung erreichen können."
Eine kleine Beruhigung. Mit Funkgeräten kennt Chloe sich aus.
„Nun zieht noch sie Schutzwesten über und ich wiederhole noch einmal: Versorgt die Verletzten nur so weit ihr könnt. Überschätzt euch nicht."
Alle Nicken gehorsam und nach fünf Minuten haben sie endlich ihr Ziel erreicht. Der Wagen hält und die hinteren Türen werden aufgeklappt. Sofort springen alle hinaus, Dr. Kang voran.
Chloe folgt ihren Kollegen und muss erst einmal stehen bleiben, als sie draußen ist. Der Anblick, der sich ihr bietet ist einfach überwältigend.
Mit offenem Mund sieht sie die vielen Verletzten, die vor ihr am Boden hocken, liegen oder sitzen. Überall Versorgungstrupps, Feuerwehrleute und sogar Soldaten. Es ist ein unübersichtliches Chaos. Doch das beeindruckendste Bild ist das gigantische Schiff, dessen Bug quer im Beton eines Verkehrstunnels steckt. Es ist doch was anderes das im Fernsehen oder live zu sehen. Über ihrem Kopf schwebt ein Pressehubschrauber.
Vom Schiff selbst steigen riesige Rauchschwaden auf, sie verbreiten sich über die gesamte Fläche vor Chloe und nehmen ihr sie klare Sicht.
„Kommt mit."
Dr. Kang geht voraus und führt die kleine Truppe hinter sich her, quer durch die vielen Menschen. An einem Versorgungszelt hält sie an, legt die vielen Ausrüstungstaschen ab und weist die anderen an es ihr gleich zu tun. Dann verteilt sie Bänder in unterschiedlichen Farben.
„Schwarz für tot, Rot für schwer Verletzte, blau für diejenigen mit leichten Verletzungen, um die ihr euch hauptsächlich kümmern dürft. Und weiß für die Nichtidentifizierbaren."
Jeder bekommt einen ganzen Haufen von Bändchen und eine Versorgungstasche in die Hand und damit schickt Dr. Kang die Assistenzärzte los.
Nun liegt es an Chloe sich um die vielen Verletzten hier zu kümmern. Izzy wird sie im Augenblick wohl kaum beneiden.
Sie macht sich ans Werk und geht zu einem Mann mittleren Alters, der stöhnend am Boden sitzt und sich den Arm hält.
„Verzeihen Sie, Sir, lassen sie mich das sehen."
Er hat einige offene Wunden. Nicht nur am Arm, sondern auch am Kopf. Ob er in der Nähe des Tunnels gewesen ist?
Der Mann lässt sich ohne große Mühe verarzten. Chloe hilft ihm zu einem Versorgungstrupp, doch er scheint nicht sehr schwer verletzt zu sein. Seine Beine sind auch okay. Trotzdem sollte er die Wunde am Kopf im Krankenhaus näher untersuchen lassen, nur um eine Gehirnerschütterung auszuschließen.
Bianca kümmert sich ebenfalls um einen Mann mit offenen Wunden. Chloe kann sich gar nicht vorstellen, was diese Menschen alles erleiden müssen. Dagegen hat sie unbeschreibliches Glück gehabt. Ihr hätte bei der Flucht vor zwei Jahren weitaus schlimmeres passieren können. Ein Glück, dass es gut ausgegangen ist.
Chloe arbeitet sich nach und nach durch die Verletzten und verteilt Bändchen. Doch es werden immer mehr anstatt weniger. Die Feuerwehr holt einige Menschen von Bord und Soldaten versuchen den Tunnel zu öffnen, um dort an die Verletzten heran zu kommen.
Jeder packt an so gut es geht. Zwischendurch rufen Leute nach ihren Familienangehörigen. Manchmal hat Chloe Glück und erlebt wie sie sich wiederfinden. Manche knien vor abgedeckten Leichen und trauern. Ein schrecklicher Anblick.
Chloe geht zurück zum Versorgungszelt und will ihre Aufrüstung auffrischen, als sie vor einer Tafel stehen bleibt. Darauf stehen die Zahlen der Opfer. Bis jetzt 48 Verletzte und 21 Tote und das ist nur die Zählung ihrer Station. Es gibt noch dutzende Stationen. Chloe seufzt und gönnt sich einen Schluck Wasser.
In dem Moment treffen auch Bianca und Judith ein. Sie wischen sich erschöpft den Schweiß aus der Stirn. Sie sehen genauso aus wie Chloe sich fühlt. Das war schon ein langer Tag und er ist noch lange nicht vorbei. Sie holt ihre Uhr aus der Tasche und stellt fest, dass es erst vier Uhr nachmittags ist.
Sie trinkt noch einen Schluck und sieht zu dem immer noch brennenden Schiff. Die Feuerwehr versucht die Flammen weitestgehend in Schach zu halten um größeren Schaden zu vermeiden.
„Ich bewundere diese Männer. Sie sind so mutig. Das Ding kann jeder Zeit erneut hochgehen und sie müssen sich trotzdem dort aufhalten und den Brand bekämpfen", sagt Bianca und sieht ebenfalls mit abschweifendem Blick zu den Männern der Feuerwehr.
„Ich habe vorhin den Feuerwehrhauptmann gesehen. Er ist schon ein Sahneschnittchen. Wäre doch zu schade wenn ihm was passiert."
„Ernsthaft Bianca?", weist Judith sie zurecht, bevor Chloe überhaupt den Mund aufmachen kann. Doch was hat man von Bianca schon anderes zu erwarten? Das bringt sie wiederum zum Schmunzeln. Bianca denkt eben ganz anders als Chloe. Außerdem versucht sie nur ihre Unsicherheit zu überspielen.
„Na los geht wieder an die Arbeit. Ich weiß es ist hart, aber bitte bleibt noch eine Weile stark. Diese Menschen brauchen unsere Hilfe."
Dr. Kang kommt aus dem Zelt und deutet mit dem Finger auf die vielen Verletzten.
Chloe nimmt ihren Rucksack auf, als ein junger Soldat ins Lager kommt und sich die Tafel ansieht. Er macht ein Bild mit seinem Handy und nickt Dr. Kang nur kurz zu.
„Ich möchte nur kurz den Zwischenstand aufnehmen."
„Machen Sie ruhig. Wir sind alle sehr dankbar, dass uns das Militär so gut unterstützt."
„Ach wir können im Moment nicht so viel machen. Unser Truppenführer wurde leider bei dem Versuch den Tunnel zu öffnen schwer verletzt und musste ins Krankenhaus gebracht werden. Wir warten auf die Verstärkung. Bis dahin können wir nicht viel machen."
„Ich verstehe. Trotzdem Danke."
Dr. Kang nickt noch einmal freundlich und geht dann wieder. Auch der Soldat entfernt sich.
Wie bedauerlich für seinen Truppenführer. Er wollte doch bloß die Menschen im Tunnel retten. Offenbar ist er ein zu großes Risiko eingegangen.
Chloe sieht zum Tunnel hinüber. Die Situation dort sieht noch viel schlimmer aus, als auf dem Schiff. Wie viele Menschen dort wohl eingeschlossen sind? Am liebsten würde sie auch dort hingehen und alle Leute rausholen. Nur ganz so einfach wird es wohl nicht werden.
Eine Frau kommt auf sie zu gelaufen, sie humpelt und fasst Chloe verzweifelt am Arm. Ihre Haare sind zerzaust, sie ist schmutzig und ihre Kleider blutig.
„Helfen sie mir, mein Mann ist dort. Er ist schwer verletzt."
Chloe sieht, dass das Blut auf ihrem Rock und der Jacke vermutlich nicht ihr eigenes ist. Sie sieht unversehrt aus. Mal abgesehen davon, dass sie humpelt.
„Was ist mit ihrem Bein?", fragt Chloe die Frau die unruhig an ihrem Arm zerrt.
„Das ist nicht schlimm. Bitte helfen sie zuerst meinem Mann."
Chloe nickt und folgt der Frau zu ihrem Mann. Dieser liegt zwischen mehreren großen Betonklötzen und rührt sich nicht. Er blutet am Kopf. Er ist ganz in der Nähe vom eingestürzten Tunnel.
Chloe hockt sich neben ihn und überprüft seine Augen und fühlt seinen Puls. Er ist ohnmächtig. Vermutlich hat ihn ein Stein am Kopf getroffen. Jetzt hätte sie gerne Dr. Martin dabei. Chloe schließt eine Gehirnblutung nicht aus. Sie verbindet seinen Kopf und ruft Bianca zu sich, die immer noch in der Nähe ist. Zusammen tragen sie den Mann nur mit Mühe Richtung Versorgungslager, wo ein erfahreneres Team von Ärzten auf sie wartet und schwere Verletzungen behandelt.
Die Frau jammert die ganze Zeit neben Chloe. Sie versucht die arme Frau irgendwie zu beruhigen, während sie gleichzeitig den Ärzten hilft den Mann zu versorgen.
Nach einer Weile stellt sich heraus, dass seine Verletzungen ernster sind und er wird umgehend in ein Krankenhaus gebracht.
Mittlerweile ist es fast dunkel. Chloe hat gar nicht bemerkt wie schnell die Sonne untergegangen ist. Der Qualm vom Schiff bedeckt den Himmel ebenfalls. Um sie herum gehen die Lichter an. Zum einen die übliche Straßenbeleuchtung, zum anderen werden provisorische Baustrahler aufgestellt.
Die Feuerwehr hat große Scheinwerfer auf den umliegenden Brücken vorbereitet und der Hubschrauber leuchtet ebenfalls. Doch der hellste Schein kommt von den Flammen auf dem Öltanker. Es dauert bis das ganze Öl ausgebrannt ist. Das Einzige, was die Feuerwehr tun kann ist aufpassen, dass es sich nicht weiter verbreitet und die Rettungsarbeiten stört.
Chloe spürt ihre verspannten Schultern. Das ist gar nichts im Vergleich dazu stundenlang im OP-Saal zu stehen und den Körper gar nicht bewegen zu dürfen. Zum Glück wurde sie davon bis jetzt verschont. Solche Operationen sind auch eher selten.
Plötzlich wird es lauter über ihr. Ein weiteres Licht taucht am Himmel neben dem Hubschrauber auf. Auf einmal sind es zwei. Doch der Zweite begibt sich langsam in den Sinkflug.
Er wirbelt ganz schön viel Staub auf. Viele Sachen wirbeln durch die Gegend. Chloes Haare peitschen ihr unkontrolliert ins Gesicht. Sie schließt kurz die Augen. Als sie sie öffnet, erkennt sie, dass es ein großer Militärhubschrauber ist. Er landet nicht, hält sich nur relativ niedrig über der Brücke. Dann werden mehrere Seile hinausgeworfen und sechs Soldaten rutschen an ihnen herab auf die Brücke. Dort oben wurde vorübergehend der Verkehr umgeleitet.
Das sieht aus wie im Film. Sie schwingen sich so elegant herunter, als würden sie ihr Leben lang nichts anderes machen und wahrscheinlich ist das auch so.
„Hilfe!"
Der Ruf fordert Chloes Aufmerksamkeit. Sofort eilt sie zu dem jungen Mädchen, das ihre Hilfe braucht. Sie hat auch einiges abbekommen. Chloe verbindet ihren blutenden Arm. Wann wird das endlich aufhören? Es sind einfach so viele. Sie bluten die ganze Zeit und es gibt nicht genügend Rettungskräfte, um alle rechtzeitig zu versorgen. Manche verbluten, bevor sie überhaupt gefunden werden.
Chloe macht dieser Gedanke Angst. Das hätte jedem passieren können. Auch sie ist nicht unbedingt vor so einem Schicksal befreit.
„Hast du noch andere Schmerzen?"
Das Mädchen schüttelt unter Tränen den Kopf. Sie ist nur ein Teenager.
„Wie alt bist du?"
„Siebzehn."
„Wo ist deine Familie? Waren sie auch hier?"
„Nein, ich war nur mit meinen Freundinnen unterwegs."
„Wo sind sie?"
„Ich...habe sie...verloren", antwortet die Kleine unruhig.
„Beschreib sie mir, dann halte ich nach ihnen Ausschau."
Das Mädchen holt stattdessen ihr Handy hervor und zeigt ihr ein Bild.
„Bisher habe ich sie nicht gesehen, aber ich werde die Augen offen halten. Wenn du laufen kannst, begib dich bitte in eine sichere Zone. Du findest sie hinter den Zelten."
Das Mädchen versteht und geht vorsichtig in die angegebene Richtung.
Auf einmal wird es wieder laut um Chloe. Soldaten kommen und schicken die Leute weg. Zumindest diejenigen, die noch laufen können.
„Sie müssen leider aufstehen, der Platz ist nicht länger sicher."
Ein Soldat hilft einem älteren Paar aufzustehen und in eine sichere Zone zu gelangen. Was ist denn jetzt los? Auf einmal sind die Soldaten so aktiv. Bis gerade waren sie nur mit dem Tunnel beschäftigt, wussten aber nicht so richtig, was sie tun sollten und plötzlich wirken sie geordnet und schicken die Leute weg.
„Warten Sie, er kann nicht laufen", sagt eine Frau und ist besorgt um ihren Sohn, der offensichtlich schwer verletzt ist.
Zwei der Soldaten packen ihn und begleiten ihn zu den Versorgungslagern.
Chloe weiß gerade gar nicht was sie tun soll, denn sie kapiert überhaupt nicht was los ist. Sie wirbelt hilflos herum und sieht dabei zu, wie der Platz vor dem eingestürzten Tunnel sich mehr und mehr leert.
„Na los, bringt die Leute hier weg. Ein bisschen Beeilung, wenn ich bitten darf!", ruft eine forsche Stimme. Sie klingt undeutlich, dank der vielen anderen Stimmen um sie herum.
Aha, also hat hier wieder jemand das Kommando.
„Captain, wir haben insgesamt dreizehn von den Wasserkissen", meldet ein Offizier, was Chloe gerade noch heraus hören kann.
„Gut, verteilt sie an den markierten Stellen. Ich überprüfe das gleich persönlich."
„Ja, Sir!"
Chloe muss schmunzeln. Da weiß jemand was er tut.
Sie packt ihren Rucksack zusammen und schnallt ihn auf den Rücken. Auch für sie wird es Zeit zu verschwinden. Ein Funkgerät knistert.
„Dead Eye an Wolf bitte kommen."
Chloe zögert, hat sie das eben richtig verstanden? Bei dem Namen bleibt ihr Herz stehen. Es ist so lange her, trotzdem erinnert sie sich wie gestern an die Tage im Safehouse. Bestimmt gibt es diesen Codenamen noch öfters unter Soldaten. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit...?
Voller Erwartungen dreht sie sich um.
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