Das Leben ist ein Drama

Chloe drückt ihre Hände an das kalte Glas. Es ist das einzige Hindernis, welches zwischen ihr und Christian steht. Nein da ist noch eines: Doktor Kang hat Chloe bemerkt und kommt zu ihr in den kleinen Flur.
„Was soll das Dr. Anderson?", schimpft sie empört über Chloes Ausbruch.
„Bitte lassen Sie mich zu ihm. Ich muss ihn sehen."

„Das geht jetzt nicht. Wir sind gerade dabei seine Wunden zu versorgen. Doch er muss unbedingt in den OP."
„OP? Ist er so schwer verletzt?"
„Wenn wir nicht schnell handeln, kann er an multiplen Organversagen sterben."
Chloe ist schockiert. Wie konnte das nur geschehen?
„Da Sie dem Patienten offensichtlich sehr nahe stehen, kann ich Sie dort im Moment nicht rein lassen, Dr. Anderson. Bitte warten Sie draußen."

Dr. Kang deutet auf den großen Flur hinter Chloe, dann verschwindet sie wieder im Behandlungsraum. Chloe zögert. Sie will nicht weg. Also bleibt sie dort stehen und schaut weiter dabei zu, wie man Christian für den OP-Saal vorbereitet. Solange bis man ihn auf der Liege an ihr vorbei schiebt. Das Bild von ihm, wie er mit geschlossenen Augen da liegt, nur sein Gesicht ist frei, prägt sich in Chloes Gedächtnis ein.
Eine Ärztin legt beruhigend die Hand auf Chloes Schulter.
„Wir tun was wir können."

Chloe ist nicht im Stande zu antworten. Das ist ein absoluter Alptraum. Ihr ist schlecht. Vermutlich der Schock. Sie geht, nein sie schleicht in den großen Flur. Sie steht total neben sich. Kann sie bitte aufwachen? Das muss ein Traum sein. Warum sonst werden ihre Ängste immer Wirklichkeit? Das kann nicht echt sein. Also möchte sie bitte sofort aufwachen.
Zitternd setzt sie sich auf eine Sitzbank und starrt Löcher in die Luft. Sie kann nichts machen. Sie ist unfähig irgendwas zu machen. Es bleibt nur zu warten und für Christian das Beste zu hoffen.

„Chloe?"
Plötzlich steht Izzy vor ihr und mustert sie besorgt.
„Was ist mit dir? Hast du keinen Patienten?"
Chloe schüttelt den Kopf und schluckt den dicken Kloß in ihrem Hals hinunter.
„Es ist Christian...er ist da drin." Sie deutet in Richtung OP-Saal.
„Was?"
Izzy ist entsetzt.
„Warum das?"
Sie nimmt neben Chloe Platz.

„Er ist der zweite Patient mit den Schussverletzungen. Ich habe es gerade eben herausgefunden."
„Oh mein Gott", sagt Izzy leise und hält sich die Hand vor den Mund. „Wie schlimm ist es? Wird er durch kommen?"
Chloe schüttelt erneut den Kopf.
„Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nichts mehr", schluchzt sie und streift sich hilflos die Haare aus dem Gesicht.
„Es tut mir so leid."
Vorsichtig nimmt Izzy ihre Freundin in den Arm. Doch der Trost sorgt nur dafür, dass Chloe nicht mehr länger gegen ihre Tränen ankämpfen kann.

Beide beschließen ihre wichtigsten Termine vorerst auf Eis zu legen. Izzy muss noch das ein oder andere mal fort und etwas erledigen. Doch Chloe sitzt nur so da und weiß gar nicht wie lange. Sie achtet nur immer wieder auf das leuchtende Signal über der Tür, welches den wunderbaren Text „Operation in Progress" anzeigt.

Immer wieder sieht Chloe zu dem Zeichen, bis jemand ihren Namen ruft.
Chloe sieht zu Thomas, der sie offensichtlich gefunden hat. Er geht mit schnellen Schritten auf sie zu. Sofort ist Chloe auf den Beinen und überfällt ihn mit Fragen.

„Thomas, was ist passiert? Wie konnte Christian so schwer verletzt werden? Wieso hast du das zugelassen?"

„Jetzt hol erstmal Luft, Chloe. Ich habe ihn nur einen Moment aus den Augen gelassen. Er ist in dieses Gebäude gegangen, um jemanden zu verfolgen. Ich habe ihm gesagt er soll auf mich warten, doch anscheinend hat er nicht auf mich gehört. Was genau passiert ist, weiß ich nicht, doch gegen vier Gegner hat ein einzelner Mann nicht einmal mit einer Kugelweste eine Chance."

Chloe ist fassungslos. Die ganze Zeit hat sie sich vor so etwas gefürchtet. Sie wollte nicht mit einem Soldaten zusammen sein, um solche Situationen und Gefühle zu vermeiden. Doch eigentlich macht sie sich nur selber etwas vor. Das wäre so oder so geschehen. Sie würde sich immer Sorgen um Christian machen, weil sie ihn liebt. Auch wenn sie sich nicht für ihn entschieden hätte. Gefühle bleiben.

Ohne Worte starrt sie in Thomas blaue Augen, die genauso besorgt aussehen, wie Chloe sich fühlt. Er versucht sie zu trösten und mit ihr zu reden, um sie abzulenken, doch Chloe lässt es nicht zu. Sie setzt sich wieder auf die Bank und wartet.

Thomas setzt sich irgendwann neben sie und beide schweigen sich an. Stunden vergehen. Während Chloe auf der Bank festwächst, holt Thomas etwas zu trinken und fragt ob sie Hunger hätte. Chloe schüttelt nur den Kopf und starrt auf den Boden. Sie würde jetzt keinen Bissen herunter bekommen.
Zwischendurch lässt Izzy sich blicken. Sie spricht mit Thomas, doch Chloe hört nicht zu.

Nach einer Ewigkeit erlöscht das Zeichen über der Tür und Dr. Kang kommt hinaus. Chloe schaut sie abwartend an. Sie braucht gar nicht zu fragen.
„Er ist für den Augenblick stabil. Doch seine inneren Verletzungen sind schlimmer als gedacht. Es könnte weitere Nachblutungen geben und zu Komplikationen führen."
„Komplikationen welcher Art?", will Thomas gleich wissen.

„Sein Herz ist schwach. Ich bin mir nicht sicher, ob es eine weitere Operation übersteht. Wir hätten ihn da drinnen beinahe zweimal verloren. Für den Moment können wir nichts weiter tun, als ihn beobachten."
„Wo ist er?", fragt Chloe und hört ihre beschlagene Stimme.
„Er wird auf die Intensivstation gebracht. Dort können Sie ihn sehen."

„Ich werde den General informieren", erklärt Thomas und zückt das Handy. Während sie sich zur Intensivstation begeben spricht er mit Chloes Vater, berichtet ihm kurz und knapp in welchen Krankenhaus sie sind und in welchem Zustand sich Christian befindet.

Chloe hört nur halb zu. Der Anflug von Übelkeit nimmt zu. Doch er ist in dem Moment vergessen, in dem Chloe das Krankenzimmer betritt. Für eine Sekunde fragt sie sich, ob sie umdrehen und wegrennen soll. Wird sie es ertragen ihn so zu sehen?

Dann macht sie sich bewusst wie sehr er sie jetzt braucht. Mehr als jemals zuvor. Sie darf ihn jetzt nicht im Stich lassen. Also beißt sie die Zähne zusammen, holt tief Luft und geht zu dem Bett. Zum Glück verdeckt die lange Decke über seinem Körper die schlimmen Verletzungen. Eigentlich macht es Chloe nichts aus das zu sehen. Schließlich ist sie Ärztin. Doch es macht ihr etwas aus ihn so zu sehen.

Ein Blick auf die Monitore neben seinem Bett zeigt ihr die schwache Herzrate. Sie ist stabil, jedoch besorgniserregend. Izzy hält sich höflich im Hintergrund. Ebenso wie Thomas. Dabei weiß Chloe gar nicht was sie jetzt machen soll. Sie fühlt sich total hilflos. Was tun andere Menschen in so einer Situation? Wie soll sie damit umgehen?
Sie setzt sich vorsichtig auf den Rand des Betts und sieht verzweifelt auf den bewusstlosen Mann neben sich.

„Komm, wir lassen sie einen Augenblick alleine. Ich werde in die Halle gehen und den General empfangen", meint Thomas verständnisvoll und zieht Izzy behutsam mit sich zur Tür.
„Er kommt hier her?", fragt sie erstaunt.

„Christian ist so gut wie sein Schwiegersohn", erklärt er mit einem aufgesetzten Lächeln. „Da muss er einfach persönlich herkommen."
Chloe ist zu erschöpft, um auf diese abwegige Formulierung einzugehen.

Jedoch ist sie den Beiden für ihr Verständnis und ihre Rücksicht dankbar. Kaum ist sie alleine, herrscht Stille im Raum. Nur das gleichmäßige Piepen der Herz-Lungen-Maschine durchbricht die endgültige Ruhe.

Die Atemmaske vor seinem Gesicht, versorgt Christians Körper mit einer geregelten Portion Sauerstoff. Er ist zwar im Stande alleine zu atmen, doch bekommt sein Herz nicht genug Sauerstoff, um den Blutverlust durch gleichmäßiges Pumpen auszugleichen.

Wie sie ihn so ansieht, bekommt Chloe sehr große Schuldgefühle. So lange hat sie sich geweigert Christian näher zu kommen. Aus Angst enttäuscht zu werden. Aus Angst vor dem Unbekannten. Doch nun bereut sie es so lange gewartet zu haben. Zwei Jahre hat sie vergeudet. Nun weiß sie nicht einmal, ob er in ihrer Zukunft existieren wird.

Es geht alles so schnell. Vor wenigen Tagen war er noch gesund und munter. Jetzt liegt er im Krankenhaus und kämpft um sein Leben. Wie ist das alles so schnell passiert? Wieso tut Gott ihm das an? Wieso tut er ihr das an?

Wer auch immer das Drehbuch ihres Lebens geschrieben hat, muss irgendwas genommen haben. Es ist ein verdammtes Drama. So wie der Film, den sie damals im Schutzhaus gesehen hat. Es ging um die Chance auf Wiedergutmachung. Zumindest hat Chloe es so interpretiert.
Wird sie die Gelegenheit bekommen es wieder gut zu machen? Es gibt noch so vieles, was sie Christian sagen möchte, wozu sie bisher nicht den Mut gehabt hatte.

Gerade jetzt kommen ihr diese bedeutsamen Worte in den Sinn. Wahrscheinlich die am häufigsten gesagten Worte: Sorry, ich liebe dich.
Ja sie möchte sich entschuldigen. Dafür Christian so lange verletzt zu haben. Dafür so naiv gewesen zu sein. Dafür sich so lange Zeit gelassen zu haben.

Und sie möchte ihm endlich mal sagen, wie sehr sie ihn liebt. Zwar hat sie es schon einmal gesagt, aber solche Worte kann man gar nicht oft genug sagen. Erst recht wenn es ihm dabei hilft gesund zu werden.

Chloe seufzt und denkt noch eine Weile über richtig und falsch nach, über den Sinn des Lebens und alles, was sie Christian sagen möchte. Vor allem möchte sie ihm sagen, dass sie ihn nicht aufgeben wird und zu ihm hält, was auch immer passiert. Er hat sie verändert, hat sie stärker gemacht und ihr Mut gegeben. Stück für Stück hat er sie mit der Zeit geformt und aus ihrem Schneckenhaus herausgeholt. Er hat ihr klar gemacht, dass es sich auch lohnen kann jemandem zu vertrauen. Sie gibt nicht auf, also darf er es auch nicht tun.

Die Zeit vergeht. Es ist schon spät, als die Tür zum Krankenzimmer auf geht und General Anderson - Chloes Vater - gefolgt von Doktor Kang den Raum betritt.
Chloe steht auf und schenkt ihm ein trauriges Lächeln.
Nach einer flüchtigen Begrüßung seinerseits, lässt er sich von der Asiatin genauer über Christians Zustand informieren. Er hört sich alles in Ruhe an und nickt zwischendurch.

Chloe knibbelt unruhig an den Fingern. Sie hat so viele Fragen an ihren Vater. Ebenso an Thomas, der in diesem Moment ebenfalls wiederkommt. Er lächelt flüchtig zu Chloe und wendet dann ganz schnell den Blick ab. Was soll das? Kann er ihr plötzlich nicht mehr in die Augen sehen? Er lehnt sich an die Wand hinter ihr. Doch er wirkt nicht entspannt. Eher wie ein Tiger, der bereit ist seine Beute zu packen. Sie ignoriert ihn vorerst.

„Dr. Kang, da sie seine zuständige Ärztin und eine Kardio-Spezialistin sind, muss ich mich an Sie wenden", beginnt Chloes Vater und nimmt seine Mütze vom Kopf. Seine feine Uniform sitzt wie immer perfekt und glänzt tadellos. Doch noch mehr die vielen Abzeichen und Orden auf seiner Brust. Jede andere Tochter wäre vermutlich stolz auf ihren Vater, doch Chloe hat keinen Bezug zu solchen Sachen. Ihr bedeutet das alles nichts. Es sind nur Auszeichnungen für besondere Verdienste im Kampf gegen andere Menschen.

Egal worum es geht, es sind immer Menschen beteiligt und es sterben auch immer Menschen dabei. Also ist Chloe nicht stolz auf jemanden, der sich rühmt viele Menschen getötet zu haben. Auch wenn man es nicht so deutlich ausdrücken kann und ihr Vater bestimmt auch viele Menschen gerettet hat. Sie wird die Uniform an ihm niemals respektieren. Deshalb hat sie auch so lange gezögert etwas mit Christian anzufangen. Nur ist das jetzt nicht mehr von Bedeutung. Jetzt hat sie ganz andere Sorgen.

„Ich weiß es geht gegen ihre moralischen Grundsätze und gegen alle ärztlichen Vorschriften, doch ich muss sie das jetzt fragen."
Dr. Kang nickt auffordernd.
Wieso hat Chloe auf einmal ein schlechtes Gefühl?

„Allein nach ihrer fachmännischen Erfahrung und den technischen Möglichkeiten...", der General zögert. Sucht er nach den richtigen Worten oder fällt es ihm nur schwer die richtigen Worte auszusprechen?
„...ist es möglich ihn aufwecken?"
Chloe glaubt sich verhört zu haben. Was hat er gerade gefragt? Er will ihn aufwecken? Hat er denn nicht verstanden in welcher Gefahr sich Christian befindet? Chloe sieht ihren Vater an, als hätte sie ihn noch nie zuvor gesehen.

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