Finn

Ich trete in das Haus, in dem ich aufwuchs. Schnell ziehe ich meine Schuhe aus und schließe die schwere Holztür. Als ich die Treppe hinauf in mein Zimmer laufen will, kommt meine Mutter aus der Küche gestürmt.

"Na, wie war's?! Den Arbeitsvermittler wieder vollgepöbelt oder doch mal 'ne Chance gefunden, dein Leben in die Hand zu nehmen?", fragt sie mich provozierend laut.

"Mom- Lass mich. Ich bin nicht in Stimmung", meine ich nur mürrisch und renne ein paar weitere Stufen hoch, habe währenddessen auch irgendwie Schiss, dass die Situation eskaliert.

"Ach?! Wann bist du denn mal in Stimmung?! Wenn du mir weiter so auf der faulen Haut liegst, dann kannst du gehen, junger Mann. Ich möchte einen Sohn, auf den ich verdammt nochmal stolz sein kann! Also tu etwas- ansonsten werde ich wahnsinnig!"

"Mann! Der Typ will, dass ich Putze werde!", schreie ich sauer.

"Na und?! Besser, als wenn du 0,00 Euro verdienst!" Sie tippt wütend mit dem rechten Zeigefinger auf ihre linke Innenhandfläche.

Ich stapfe laut zwei Treppenstufen nach oben und schnaube verächtlich.

"FINN! KOMM HER! ABER SOFORT!"

Natürlich werde ich das nicht machen. Klos mit Zahnbürsten schrubben und tausend fremde schamhaare finden.
Wenn sie mir etwas sagen will, dann soll sie doch kommen. Ich schlage meine Zimmertür extra laut zu, denn ich möchte jetzt, dass sie weiß, dass ich wütend bin. Doch einige Sekunden, nachdem ich mich auf mein altes Bett warf und die Augen für einen Moment schloss, reißt sie auch schon die Zimmertür auf und kommt mit einem hochroten, tränenbedecktem Gesicht herein.

"Finn. Schämst du dich denn gar nicht?"

Und ich sah ihren traurigen Blick. Fuck. Wie macht sie das? Irgendwie weiß ich auch nicht, aber es tut mir leid.

"Sorry, Mom."

"Bitte geh zu Herr Kleffel. Entschuldige dich bei ihm. Oder tu wenigstens so, als ob du das zurücknehmen willst. Ich weiß ganz genau, was du sagtest, Junge. Der Mann rief mich ganz entsetzt nach eurem Gespräch an. Wo hast du nur so ein Zeug gelernt? Ich bin wirklich enttäuscht." Blöde Schule, die hat mir das beigebracht. Ja, ganz und gar unsere heutige, beschissene Gesellschaft.

"Es tut mir wirklich leid, Mom. Ich mache das wieder gut. Ich kümmere mich um den Job. Gleich Morgen früh, versprochen", erwidere ich voller ehrlich gemeinter Reue.

"Gut so. Und kannst du mir bitte im Haushalt helfen? Ich muss gleich zu Frau Tahl. Ich muss ihr das Abendessen reichen."

Meine Mutter arbeitet als gelegentliche Betreuerin und Altenpflegerin bei alten Leuten aus der Nachbarschaft und in unserer Stadt. Viel Geld haben wir beide ja nicht und das ist auch der Grund, weshalb ich eigentlich etwas dazugeben muss. Wir haben ziemliches Pech im Leben gehabt. Dad hat uns allein gelassen. Er ist gestorben. Und er hat uns weder von seinem Schuldenberg erzählt noch von seiner Spielsucht. Wir dachten, er geht jeden Mittwoch und Freitag Abend zu seinem Kollegen und schaut Fußball oder baut irgendwas. Ein Baumhaus oder so. Nach seinem Tod kamen nur so die Briefe und Abmahnungen angeflattert, ungefähr so wie bei Harry Potter, und meine Mom wurde noch bleicher als sie bereits war. Wir standen vorne und hinten in der Scheiße und kamen nicht mehr da raus, beziehungsweise können uns auch nach diesem Jahr noch nicht rühren. Das einzige, was sich Mom erlaubte, war, mir dieses Handy zum Geburtstag zu schenken und ich bin ihr echt dankbar, auch wenn ich manchmal ein Vollhonk bin.

Komische, gefühlvolle Seite...

Ich beschließe mich hinzulegen, harten Tekk zu hören (natürlich mit Kopfhörern, damit Mama nicht den 147. Herzinfarkt kriegt) und meine Augen zu zumachen. Ehe ich mich versehe, lande ich dösend auf eine der weißen, fluffigen Wattewolken, auch wenn die kühlen winterlichen Sonnenstrahlen noch immer in mein Gesicht scheinen.

***

Ich richte meinen Blick nach langem Dunkel auf einen blauen Himmel. Ok. Hellblau. Ich seh eine sanfte Wolke und einen Vogel mit ähnlichen Federn, eine Möwe, durch das Bild hindurch fliegen. Sie schreit nach Futter. Ich wende meinen Kopf nach links und sehe noch mehr von ihnen, sie streiten sich alle um eine hinuntergefallene Tüte Pommes. Aus der Liegeposition richte ich mich nun auf, merke, dass der Boden weich und uneben ist, körnig irgendwie. Ich schaue nach vorne ins "azurblaue" Meer, wie es sich so schön schimpft und erkenne kleine, mit den Wellen spielende Kinder, die sich gegenseitig mit Wasser vollspritzen. Ich sehe nach rechts und direkt ins Gesicht eines hübschen, nein, wunderschönes Mädchens, das dabei ist aufzustehen und ins Wasser zu rennen. Sie trägt jedoch einen schwarzen Bikini, der sie wahnsinnig blass und dünn wirken lässt. Als sie im Meer verschwand, färbte sich das Wasser blutrot; alles wurde wieder Dunkel.

***

Tage später.

"Ey Bruder, was geht?", höre ich die wahnsinnig tiefe Stimme meines besten Kumpels rufen und ich drehte mich um. Mitten im Einkaufszentrum stand Leo in dickem grauen Sweater, eine fettige Locke hängt ihm auf die Stirn. Ich begutachte seine Haare und gebe gleich mal meinen Senf hinzu:

"Junge, wie lang ist dein letzter Friseurbesuch her? Du kannst echt ein bisschen Shampoo und vor allem einen neuen Haarschnitt gebrauchen!"

"Hä wieso? War erst vor drei Monaten da", erwidert er.

"Sieht eher aus als kennst du das Wort gar nicht."

"Welches?"

"Heiße Frisöse."

"Das sind zwei."

"Danke für den unglaublich intelligenten Beitrag", entgegne ich genervt und rolle mit den Augen

"Gern geschehen."

Und so beschlossen wir ohne ein einziges Wort über das Thema, im Subway ein Sandwich zu kaufen und im Park Abend zu essen.

Dort angekommen, setzen wir uns auf eine Bank und schauen eine Gruppe Mädchen an, nicht älter als 16. Ein paar sehen gar nicht schlecht aus, gute Ärsche inbegriffen, doch haben alle mindestens eine Tonne Make Up in der Fresse. So abturnend.

Dennoch sagt mein Kumpel: "Boah, siehst du die mit den roten Haaren?"

"Ja."

"Was fällt dir auf?", fragt er ohne den Blick abzuwenden.

"Sie war beim Friseur." Ich grinse, doch Leo beachtet mich gar nicht.

Siegessicher steht er auf, guckt mich noch kurz an und verkündet, dass er sie jetzt ansprechen wird und sich die Handynummer catcht. Ich wollte ihn davon abhalten, ja als guter Freund sollte ich das tun, aber er ist schon weg. Ich beobachte das natürlich, auch wenn klar ist, dass sie ihn ignorieren wird oder zum Haarschneider schicken. Hilfe, seine straßenköderblonden Haare schrecklich! Und wer würde bitte einen Abhängigen daten?
Sorry, dass ich so schlecht von ihm rede, er hat ja auch gute Seiten, tief verborgen ein warmes Herz und ich bin mir nicht sicher, aber womöglich ist er ein echter Romantiker. Darauf stehen die Mädels doch, oder?

Während ich so in Gedanken verfallen bin, quatscht Leo mit dem Mädel, lächelt sein bezaubernstes Lächeln und sucht sein Handy aus dem dreckigen Sweater. Komischerweise postieren sich die anderen Weibsbilder um die beiden herum, grimmiger Blick drauf und Arme verschränkt. Denken die echt, dass er vortäuscht auf sie zu stehen, um sie dann mit einem Klappmesser zu bedrohen? Welchen Grund sollte er denn haben das zu tun? Frauen...

Mein Blick rutscht über die hässlichen Schminkfressen bis hin zu einem blonden Mädchen. Nein Stopp. Bis hin zu diesem Mädchen!
Ihre schwarze Bommelmütze noch immer tragend, steht sie irgendwie da wie fehl am Platz. Meine Güte, sie passt doch da überhaupt nicht hin, nicht zu diesen Schlampen! Ich beobachte ihre Augen und versuche die Farbe auszumachen. Blau? Grau? Blaugrün? Aus dieser Entfernung leider eine Unmöglichkeit, sie zu erkennen. Ich will ihr näher sein. An ihren blonden Haaren schnüffeln, die bestimmt nach Kokos oder vielleicht nach Zitronen riechen. Sie sehen so wunderschön gepflegt, so weich und ordentlich aus.
Mein Herz schlägt schneller, als ihre Augen ihren Stalker finden und ich schaue blitzschnell beschämt nach unten. Als ich mich wieder traue zu ihr zu schauen, ist sie längst weg. Trottel.
Ich suche sie mit meinem Sehapparat, doch sie ist spurlos verschwunden und stattdessen gelangt mir ein grinsender Leo ins Blickfeld und ich gebe offen zu, dass ich viel glücklicher gewesen wäre, wenn diese wunderschöne Unbekannte gekommen wäre. Aber das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert. Ich zwinge mir ein leichtes Lächeln hervor, als er von ihr erzählt.
"Also ihr Name ist Emily und sie hat schätzungsweise D."

"Okay."

Während er weiter von ihren Körperteilen berichtet, höre ich dabei kaum zu und wir laufen in Richtung Bushaltestelle, die etwa 500 Meter entfernt ist. Dabei konzentriere ich mich auf die Grafitti Kunst in der Unterführung vor mir, die mir am meisten ins Auge sticht.
Sie ist nicht grellbunt wie die anderen sondern schwarz, und sie hat eine gut lesbare Schrift. Die Worte fesseln mich irgendwie und ich bleibe direkt davor stehen. Ich kann meinen Blick nicht davon reißen, weil sie mich neugierig macht. Ich laufe beinahe jeden Tag hier lang, wie konnte ich das noch nicht bemerkt haben? Langsam streiche ich über die Farbe und bemerke, wie sie an meinen drei Fingerspitzen hängen bleibt. Wow. Die ist noch frisch. Leo, der plappernd weitergelaufen war und nicht mitgekriegt hat, dass ich nicht mehr da bin, kommt angerannt.

"Alter du hast das Beste verpasst! Ich hab dir gerade davon erzählt, dass ich sie nächste Woche flachlegen werde."

"Elena?"

"Emily, aber ja."

"Ok."

Die entstandene Gesprächspause wird von einem plötzlichem Geräusch unterbrochen. Eine heruntergefallene Spraydose rollt um die Kurve.

Als ich ein paar Schritte vorwärts gehe, erkenne ich eine zierlich weibliche Gestalt, die ihre Hände in die Anoraktasche steckt, kurz einen Blick auf mich wirft und dann zum Ausgang verschwindet.

"Nur ne Verrückte, Finn."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top