Prolog

Die Kirschmühle bei Beerheim im Saarland wurde im Jahr 1739 erbaut und nicht 1616, obwohl dieses Datum auf einem der Buntsandsteine zu lesen war, die das Dachfenster über dem alten Mühlrad umrahmten. Woher das Datum „1616" kam - ob sich einer der ersten Müller hatte wichtig machen wollen und deshalb das Gebäude über 100 Jahre älter gemacht hatte, als es tatsächlich war, oder ob es sich um einen Überrest der im Dreißigjährigen Krieg zerstörten Mühle handelte, die einst im selben Tal, aber nicht an der gleichen Stelle gestanden hatte -, das war längst nicht mehr zu klären.

Jedenfalls rankten sich bald schon viele Sagen um das Gebäude und seine Bewohner: Etwa dass das Mühlrad einen Wanderer angesprochen hätte, dass während der Französischen Revolution ein Schatz in einem geheimen Raum der Mühle versteckt worden sei oder dass die erste Müllerin eine ehemalige Adlige, ein „gefallenes Mädchen", gewesen sei.

Wie so häufig in derartigen Fällen schien es plausible Erklärungen für all diese Sagen zu geben.

Zum einen handelte es sich um eine Wassermühle, deren Rad ebenso wie das Bächlein, welches dieses Rad antrieb, Geräusche von sich gab. Wahrscheinlich hatte ein Wanderer, der einmal in der Dunkelheit auf dem kleinen Pfad in der Nähe der Mühle unterwegs gewesen war, ein mulmiges Bauchgefühl von diesen Geräuschen bekommen. Vor allem dann, wenn es nur ein bisschen geregnet hatte, umhüllte oft ein unheimlicher Nebelschleier das Tal, und in solchen Momenten schienen die Grenzen zwischen der realen Welt und der fantastischen Welt der weißen Frauen, kopflosen Reiter oder eben der sprechenden Mühlräder zu verschwimmen.

Dabei erwies sich die Geschichte des Dorfes Nußbach, das einst über der Anhöhe über dem Tal gethront hatte, als nicht sonderlich hilfreich: In Beerheim berichteten die Nachkommen der alteingesessenen Familien noch mehrere hundert Jahre später davon, dass schwedischen Soldaten das benachbarte Dorf im Dreißigjährigen Krieg bis auf die Grundmauern niedergebrannt hätten und kein einziger der Bewohner das Blutbad überlebt hätte.

Der blutigen Geschichte des Landstrichs, in dessen Nähe 1793 auch ein heftiges Gefecht zwischen der preußischen Armee und den französischen Truppen stattgefunden hatte, war es mutmaßlich auch geschuldet, dass über versteckte Schätze gemunkelt wurde. Möglicherweise war ein Kellerraum einmal zeitweise zugemauert worden, weil die wohlhabende Müllersfamilie Angst vor Plünderungen durch umherstreifende Soldaten gehabt hatte. Auf einen geheimen Raum oder einen uralten Schatz waren die Bewohner der Kirschmühle in späterer Zeit jedenfalls nie gestoßen, obwohl sie laut meiner Großmutter besonders dann, wenn es ihnen finanziell schlecht ging, danach gesucht hatten.

Auch die Geschichte von der adligen Müllerin hielt ich lange für ein Märchen, das man in meiner Familie von Generation zu Generation Kindern wie mir als Gute-Nacht-Geschichte erzählt hatte, um ihnen das Gefühl zu geben, sie wären etwas Besonderes. So als ob nicht schon das Tal selbst mit seinem friedlich vor sich hinfließenden Bach und den Kirschbäumen, die seit Jahrhunderten am Hang neben der alten Mühle standen, die Fantasie hinlänglich beflügelt hätte und man sich hier als Kind nicht ohnehin schon wie eine kleine Prinzessin oder ein kleiner Prinz vorgekommen wäre!

Nichtsdestotrotz bin ich der Sache während meines Geschichtsstudiums ein paar Mal nachgegangen. Wobei ich einräumen muss, dass dies mehr aus Langeweile geschah denn aus echtem Interesse, da ich nie daran geglaubt habe, dass es wirklich eine junge Frau gegeben haben könnte, die ihr privilegiertes Leben als Adlige gegen ein einsames Dasein in diesem abgelegenen Tal eingetauscht haben könnte. Ich googlte also einmal während einer besonders langweiligen Vorlesung, in der ich wahrscheinlich eingeschlafen wäre, wenn ich nichts anderes gemacht hätte, aus einer Laune heraus den Stammbaum der Grafen von Kastellburg, die im 18. Jahrhundert über die Region geherrscht hatten, und fand, so wie ich es erwartet hatte, keinen Hinweis auf ein verschollenes Familienmitglied: Alle Frauen der Familie waren entweder im Kindesalter verstorben oder hatten Männer aus anderen adligen Familien geheiratet. Einige von ihnen wurden sogar in Wikipedia-Einträgen erwähnt.

An diesem Punkt hätte ich meine Suche nach der Wahrheit über die erste Müllerin auch aufgegeben, wenn mir nicht der Zufall in die Hände gespielt hätte. Ungefähr ein Jahr später sollte ich für ein Oberseminar eine Hausarbeit über die Zeit der Französischen Revolution im Saargebiet schreiben (Wozu ich während des Studiums so viele wissenschaftliche Arbeiten schreiben sollte, sei dahingestellt: Eigentlich wollte ich ja in den Schuldienst gehen; und es wäre daher besser und sinnvoller gewesen, mir beizubringen, wie ich guten, motivierenden Unterricht halten konnte). Während ich also eines Abends an einem Tisch im oberen Stockwerk der Universitätsbibliothek saß und die Fachliteratur querlas, welche über diese Zeit verfasst worden war, stieß ich in einem Werk plötzlich auf eine Fußnote, in denen von Protesten gegen die Obrigkeit in meinem Dorf die Rede war. Der Autor behauptete, dass es bereits im Sommer 1789 eine revolutionäre Stimmung in Beerheim gegeben habe, zeitgleich zu den Ereignissen im nicht weit entfernten Frankreich, und dass der ganze Ort praktisch eine Hochburg der Revolutionäre im Saarland gewesen sei.

Ich war verwundert, weil ich noch nie davon gehört hatte, dass die Beerheimer unzufrieden mit der gräflichen Herrschaft gewesen waren und sich sogar gegen diese aufgelehnt hatten. Im Gegenteil: Die Grafen von Donnersberg wurden in der Gegend, über die sie rund 150 Jahre geherrscht hatten, als gutherzige Landesherren verehrt, und den Sarg der berühmten Gräfin Anna hatte man sogar in die Schlosskirche von Kastellburg überführt. Als Grundschülerin hatte ich auf einem Wandertag sogar ihr Grab in der frisch renovierten Gruft der Kirche besucht. Das war angesichts meines zarten Alters und des Umstandes, dass meine Eltern mich „Anne" genannt hatten nach der Gräfin, eine höchst verstörende Erfahrung gewesen!

Da ich kaum glauben konnte, was ich in dem Geschichtswerk gelesen hatte, beschloss ich, der Sache auf den Grund zu gehen. Als Quelle hatte der Autor die Festschrift zur 1000-Jahr-Feier von Beerheim aus dem Jahr 1955 angegeben, ein schmales, vergilbtes Bändchen, das ich nach einer kurzen Suche im Online-Katalog der Bibliothek in einem längst vergessenen Regal im Keller der Geschichte-Institutsbibliothek entdeckte. Dort standen noch andere Bücher zur Saargeschichte, die, ihrem Zustand nach zu urteilen, seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, niemand mehr in der Hand gehabt hatte. Da die Seiten des Buches deshalb teilweise aneinander klebten, versuchte ich, sie vorsichtig zu lösen, ohne das Buch zu beschädigen.

Tatsächlich bestätigte die Festschrift die Behauptung, dass die Beerheimer gegen die Familie von Donnersberg aufbegehrt und insbesondere die Gräfin Anna als eine „machtgierige Tyrannin" bezeichnet hatten.

Verblüfft blätterte ich weiter in der Festschrift. Ich hatte zwar von dem großen Umzug anlässlich der 1000-Jahr-Feier gehört, bei dem das ganze Dorf auf den Beinen gewesen sein musste, aber noch nie davon, dass damals auch ein Buch über das Dorf veröffentlicht worden war. Es dauerte nicht lange, bis ich auf eine Seite stieß, auf der unter der Überschrift „Heimatgeschichtliches zur Kirschmühle bei Beerheim" ein altes Schwarz-Weiß-Foto der Kirschmühle abgedruckt war. Den Namen des Verfassers dieses Textes, Bernhard Jansen, erkannte ich sofort wieder: Es handelte sich um den späteren Direktor der Beerheimer Grund- und Hauptschule, den ich nur noch als älteren Lehrer gekannt hatte, der 1955 jedoch noch ein junger Mann gewesen sein musste und der vielleicht deshalb die Geschichte der Mühle mit besonderem Eifer rekonstruiert hatte. Denn der zweiseitige Text enthielt nicht nur die Namen sämtlicher Müller, die die Mühle betrieben hatten, sondern auch den Original-Wortlaut der Schenkungsurkunde der Mühle. Somit musste er eine der letzten Personen gewesen sein, die dieses Schriftstück in der Hand gehabt hatten, bevor es unter mysteriösen Umständen aus dem alten Sekretär meiner Großeltern verschwunden war. Für mich war dieses handschriftlich abgefasste Dokument aus dem 18. Jahrhundert somit genauso sagenumwoben wie die Geschichte der ersten Müllerin an sich.

Ausgehend von den Verhältnissen der damaligen Zeit, erwartete ich trotzdem nicht, den Namen der Ehefrau des ersten Müllers in Bernhard Jansens Text wiederzufinden und war umso überraschter, dass im Text der Schenkungsurkunde nicht nur erwähnt wurde, dass der damalige Graf von Kastellburg persönlich bei ihrer Unterzeichnung zugegen gewesen war, sondern auch eine gewisse Sophia Anna Graf. Sie war, wie es hieß, die Tochter eines Müllers aus Kastellburg namens Ludwig Graf gewesen und die künftige Ehefrau des ersten Müllers der Kirschmühle.

Sophia Anna Graf! So hatte also der Name der Müllerin gelautet; und wahrscheinlich hatte daher der Nachname „Graf" dazu geführt, dass ihr in späterer Zeit eine adlige Herkunft angedichtet worden war. Auch wenn ich eine Erklärung dieser Art erwartet hatte, war ich doch ein wenig enttäuscht. Wahrscheinlich gibt es Märchen, von denen man sich wünscht, dass sie wahr wären - und dieses Märchen hätte mich immerhin zur Nachfahrin einer echten Adligen gemacht.

Bevor ich die Festschrift wieder ins Regal zurückstellte, kopierte ich die Seiten heraus, welche die Geschichte der Kirschmühle betrafen, und heftete die Kopien zu Hause in einem Ordner ab. Ich dachte, dass ich sie vielleicht eines Tages würde gebrauchen können. Allerdings war das in den folgenden 20 Jahren nicht der Fall. Und so verstaubte nun der Ordner in einem meiner Bücherregale.

Es glich einem Wunder, dass ich mich überhaupt noch an die Festschrift erinnerte, als ich vorigen Samstag einen Anruf von meinem Großcousin Kevin erhielt. „Anne, bist du's?", fragte er in einem vertraulichen Ton, der etwas schräg wirkte, weil ich in meinem ganzen Leben nur ein paar Mal mit ihm gesprochen hatte. Wir waren zwar im selben Dorf aufgewachsen, aber Kevin war ungefähr fünf Jahre älter als ich und hatte früher immer zu den „coolen" Jungs gehört, die einem kleinen Kind wie mir natürlich kaum Beachtung geschenkt hatten. Meine Telefonnummer kannte er wahrscheinlich auch nur, weil die Telefonnummer der Kirschmühle sich seit 1950 nicht geändert hatte und er sie in einem Adressbuch seines vor kurzem verstorbenen Vaters gefunden haben dürfte. 

„Ja."

„Wir sind gerade dabei, Papas Schreibtisch aufzuräumen, und sind da auf etwas gestoßen...", erklärte er etwas umständlich.

Plötzlich fing mein Herz an, wie wild zu schlagen. War die Schenkungsurkunde der Kirschmühle etwa tatsächlich wieder aufgetaucht? Hatte sie die ganze Zeit im Schreibtisch von Onkel Karl gelegen, dessen Mutter den alten Schreibtisch aus Eichenholz geerbt hatte? Immerhin hatte dieser Schreibtisch früher im Wohnzimmer der Kirschmühle gestanden und zwar nach dem, was mir berichtet worden war, direkt neben dem Sekretär.

„Kannst Du Handschriften lesen, die 100 Jahre oder älter sind?", fragte Kevin schließlich.

„Ich bin zwar etwas aus der Übung, weil mein Studium lange her ist, aber prinzipiell schon", erwiderte ich und stellte eine Frage, die sich angesichts meiner Vermutung richtig blöd anhörte. „Um was geht es denn?"

„Eine der Schubladen des Schreibtisches hatte ein doppeltes Fach. Darin haben wir ein altes Tagebuch gefunden. Ich meine, es ist wirklich uralt! Es hat vergilbte Seiten und ist in echtes braunes Leder gebunden."

Ich versuchte, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, dass es sich bei dem Fundstück „nur" um ein Tagebuch und nicht um die Schenkungsurkunde handelte, als ich Kevin versicherte: „Ich habe zwar noch ein paar Klassenarbeiten zu korrigieren, aber ich kann nachher gerne mal bei dir vorbeikommen und mir das Tagebuch anschauen."

„In Ordnung, wir haben heute eh nichts mehr vor! Weißt du, in der Schule hatte ich nie so viel Interesse an Geschichte. Aber ich würde schon gern wissen, wem aus der Familie dieses Tagebuch gehört hat und worüber diese Person so schreibt", sagte Kevin, bevor er sich von mir verabschiedete.

Natürlich fiel es mir in den folgenden zwei Stunden nicht leicht, mit den Gedanken bei der Sache zu bleiben, und ich fragte mich auch, von wem das Tagebuch stammte. Aber ich musste die Latein-Klassenarbeit der 8c am Montag bei der Schulleitung vorlegen, um die Abgabefrist einzuhalten. Um private Dinge wie ein mysteriöses Tagebuch konnte ich mich erst kümmern, wenn ich mit der Korrektur fertig war.

Es war schon dunkel, als ich Onkel Karls Auffahrt hinauffuhr. Kevin, der mit seiner Familie im oberen Stock seines Elternhauses wohnte, öffnete mir die Tür und führte mich sogleich ins Arbeitszimmer seines Vaters. Ich hatte den alten Schreibtisch zwar als Kind schon einmal gesehen, hatte aber nicht erwartet, dass seine schiere Größe mich immer noch beeindrucken würde. Er dominierte den ganzen Raum, der viel zu klein geraten schien, um ein Objekt dieser Größe zu beherbergen, durch seine bloße Präsenz und verströmte zugleich die seltsame Würde und Eleganz eines Familien-Erbstücks. Auf dem Tisch lagen verschiedene Dinge, auf die Kevin beim Ausräumen der Schubladen wohl gestoßen war: Viele Papiere, ein paar Bücher - und eben das Tagebuch. Diese Dinge hatten allesamt eine Sache gemeinsam: Sie waren uralt. Die Papiere waren vergilbt, ein unbenutzter Kalender stammte aus dem Jahr 1935, und die Bücher, die möglicherweise Onkel Karls Mutter gelesen hatte, waren Romane von Hedwig Courths-Mahler. Es lag sogar ein Russisch-Sprachkurs dabei, der einem Familienmitglied gehört haben dürfte, das während des Zweiten Weltkriegs befürchtet hatte, an die Ostfront geschickt zu werden, und deshalb Russisch lernen wollte. Offensichtlich war der Schreibtisch seit Jahrzehnten nicht mehr ausgemistet worden!

„Da ist es!", sagte Kevin und zeigte auf das Tagebuch, weil mein Blick zunächst auf die anderen Dinge gefallen war.

Vorsichtig nahm ich das Tagebuch in die Hand. Schon als ich den ledernen Verschluss, der es zusammenhielt, öffnete, war mir klar, dass das Tagebuch weitaus älter war, als Kevin gedacht hatte. Ich schätzte, dass es mindestens 200 Jahre alt war. Nichtsdestotrotz hätte ich das Tagebuch fast vor Schreck fallenlassen, als ich auf der ersten Seite auf den fein säuberlich geschriebenen Namen der Besitzerin des Tagebuches stieß: Sophia Anna von Donnersberg, Comtesse zu Kastellburg.

War die erste Müllerin also doch eine Adlige gewesen? Und wenn ja, wieso tauchte ihr Name nicht mehr im Stammbaum ihres Adelsgeschlechts auf? Neugierig begann ich, die Schrift auf den folgenden Seiten zu entziffern, was kein einfaches Unterfangen war, weil ich nicht nur aus der Übung war, sondern die Tinte mit der Zeit auch verlaufen war. Nichtsdestotrotz gelang es mir nach einer Weile, den Inhalt der Seiten zu entziffern und halbwegs flüssig vorzutragen.

(2275 Wörter)

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