Gegenwart
„Krass, die Geschichte von der adeligen Müllerin ist also wahr! Ich dachte immer, dass sei nur so eine Legende, die man uns Kindern erzählt hat", meinte Kevin, nachdem ich ihm berichtet hatte, was in dem Tagebuch stand. Für einen Augenblick hatte es den Anschein, als ob er es kaum fassen konnte.
Ich nickte noch einmal, weil es wirklich unglaublich war, dass wir 230 Jahre, nachdem Sophie die Feder endgültig aus der Hand gelegt und das Tagebuch in dem Schreibtisch versteckt hatte, endlich dir Wahrheit kannten. „Sophie von Donnersberg war nicht nur die Verfasserin des Tagebuchs, sondern auch die Frau des ersten Müllers der Kirschmühle."
Wir saßen in der Küche der Kirschmühle bei einem Glas Wein, und das alte Tagebuch lag genau zwischen uns beiden. Hier in diesem Raum hatte Sophie geschlafen, und hier hatte das Treffen zwischen der Gräfin Anna und Sophie im Jahr 1793 stattgefunden. Wie damals war es jetzt spät, wenn auch noch lange nicht Mitternacht, und draußen ziemlich dunkel. Obwohl ich jetzt wusste, was sich hier vor langer Zeit abgespielt hatte, kam mir dieser Raum immer noch wie die altvertraute, schlecht beleuchtete Küche mit den niedrigen, fast 300 Jahre alten Wänden vor, in der ich mein ganzes Leben lang am Tisch gesessen und Mahlzeiten zu mir genommen hatte. Der einzige Unterschied war der, dass ich nun eine bessere Vorstellung davon hatte, wer eine der vielen Personen, die in den letzten 300 Jahren auf der Kirschmühle gewohnt hatten, gewesen war und wie sie gedacht hatte.
„Wir beide sind dann ja die Nachfahren der Grafen von Kastellburg, und in unseren Adern fließt blaues Blut", folgerte mein Großcousin aus meinem Bericht über Sophies Tagebuch.
„Nun ja, über viele Umwege", gab ich zu.
„Oma hat das oft behauptet, wenn ich mich nicht benommen habe. ‚Kevin, du musst mit gutem Vorbild vorangehen. Du bist anders als die anderen Jungen, denn du stammt aus der Kirschmühle', hat sie dann gesagt. Und ich habe sie für verrückt gehalten, weil sie nie aufgehört hat, an ihre adelige Herkunft zu glauben. Sie wusste das selbst noch in ihren letzten Lebensmonaten, als sie keinen von uns mehr erkannt hat und teilweise nicht einmal mehr ihren eigenen Namen kannte", erzählte Kevin. Er wirkte sehr betroffen, weil er Klara, seiner Großmutter, nicht geglaubt hatte.
„Wenigstens wissen wir jetzt, dass bereits Paul und Sophie über das Datum ‚1616' schlechte Witze gemacht haben. Somit ist der Stein tatsächlich echt und stammt von der Mühle, die im Dreißigjährigen Krieg zerstört wurde", sagte ich, um ihn aufzumuntern.
„Und den sagenumwobenen Schatz gibt es dann wohl auch?", fragte Kevin.
„Nein, der ist nach wie vor verschollen... so wie die weißen Frauen, kopflosen Reiter und sprechenden Mühlräder, die ebenfalls in der Umgebung der Kirschmühle gesichtet worden sind!", sagte ich, wobei natürlich ein wenig Sarkasmus in meiner Stimme mitschwang. „Es sei denn, du betrachtest nicht das Tagebuch selbst bereits als einen Schatz." Natürlich war mir klar, dass dies das Denken einer Geschichtslehrerin war, der mit dem Tagebuch eine unheimlich wertvolle Quelle in die Hände gefallen war. Aber manche Geschichten waren eben genau das: nämlich frei erfundene Geschichten.
Zu meiner Überraschung stimmte Kevin mir zu: „Ja, das muss es sein. Zumal ich mir sicher bin, dass Sophies völlige Enterbung nicht rechtens war."
„Ja, aber nach fast 300 Jahren können wir niemanden mehr verklagen", sagte ich und bemühte mich, nicht allzu sarkastisch zu klingen. „Möglicherweise war der Schatz auch der goldene Ring von Sophies Mutter."
„Möglicherweise. Oma hat sich auch immer darüber aufgeregt, dass ihre Mutter darauf bestanden hat, mit ihrem goldenen Ring begraben zu werden. ‚Er darf nur in weiblicher Linie vererbt werden... so wie eigentlich auch die Kirschmühle', soll sie argumentiert haben. Dein Opa war ja ein Mann und der erste Herr der Kirschmühle. Sie war so sauer, dass sie damals die Schenkungsurkunde versteckt hat!" Kevin fasste sich sofort an den Mund, nachdem ihm dies herausgerutscht war. „Verdammt! Mein Vater hätte nicht gewollt, dass ich dir das verrate."
An diesem Punkt gab es praktisch kein Familiengeheimnis mehr, dass mich noch überraschen konnte, auch wenn sich mir natürlich die Nackenhaare stellten, als ich hörte, dass Klara die alte Urkunde versteckt hatte. „Der Ring wurde also vor langer Zeit mit der ‚Gräfin' begraben", sagte ich daher, ohne auf die Schenkungsurkunde näher einzugehen. Meiner Urgroßmutter hatten die Beerheimer den Spitznamen „die Gräfin" gegeben aufgrund ihres scheinbar sehr resoluten, herrischen Auftretens und der Legende, dass blaues Blut in ihren Adern floß. Dass dies sogar wahr gewesen war, wusste ich jetzt - ob sie selbst sich dessen bewusst war und den Inhalt des Tagebuchs gekannt hat, das fragte ich mich jetzt. „Sag mal, als du das Tagebuch gefunden hast, lag es da immer noch in dem Geheimfach?"
Kevin nickte. „Ich habe die Schublade ganz herausgenommen und ausgeräumt, und da ist mir der doppelte Boden aufgefallen, weil ein Stück davon mit der Zeit einen Riss bekommen hatte und abgebrochen war."
„Dann hat deine Oma das Tagebuch vermutlich nicht gekannt", stellte ich fest.
„Wahrscheinlich wusste sie nicht, was sie tat, als sie den Schreibtisch mitgenommen hat", gab Kevin zu. „Was ihre Mutter, die ‚Gräfin', angeht, so bin ich mir nicht sicher, dass sie das Tagebuch nicht gekannt hat. Vielleicht war es ein weiteres dieser Familienerbstücke, das nur die Erbin des Hauses besitzen durfte."
Ich lächelte angesichts dieser Vorstellung, die so gut zu meiner Familie passte. „Möglicherweise war das wirklich so."
„Was sollen wir jetzt mit dem alten Tagebuch anfangen?"
„Zuerst einmal sollten wir es der Wissenschaft übergeben. Ich habe da einen Freund an der Universität, der sich sehr freuen würde, eine solche historische Quelle in die Finger zu bekommen. Und dann könnte man es in der Universitätsbibliothek aufbewahren lassen, weil die andere Möglichkeiten haben als wir", meinte ich.
„Aber eigentlich gehört es in den Schreibtisch. Dort hat es immerhin die letzten Jahrhunderte gelegen. Es war quasi sein geheimer Schatz."
„Schätze aus der Vergangenheit sind dazu da, entdeckt zu werden und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt zu werden. Sophie von Donnersberg wurde 1739 aus dem Stammbaum ihrer Familie gestrichen, weil sie sich in einen einfachen Müller verliebt hatte. Warum korrigieren wir die Geschichte nicht endlich?", schlug ich vor.
Kevin konnte mir zu beipflichten und meinte: „Diesen Aspekt hatte ich noch gar nicht bedacht."
Später, als es Zeit wurde, Abschied zu nehmen, verriet mir Kevin, wo ich die Schenkungsurkunde finden konnte. „Das hat sie niemandem verraten. Mein Vater und ich waren ja ihrer Meinung nach auch nicht berechtigt, die Urkunde zu besitzen", räumte er ein und entschuldigte sich, dass er mir das nicht schon früher erzählt hat.
Ich zuckte nur mit den Schultern. „Ich bin mir sehr sicher, irgendwann wird sie so wie das Tagebuch wieder auftauchen."
„Weißt du, Anne, etwas beschäftigt mich schon den ganzen Abend: Wir wissen gar nicht, wie diese Sophie ausgesehen hat", sagte Kevin wohl auch, um das unangenehme Thema zu wechseln.
„Richtig. Sie kann anders als viele dieser Influencer heute nicht besonders eitel gewesen sein, da sie darüber kein Wort verliert. Und wir können über 200 Jahre nach ihrem Tod nicht mehr feststellen, wie sie ausgesehen hat", erwiderte ich und überlegte dennoch, wo die Gemälde der von Dorsbergs hingekommen waren. Freilich war Sophie aus dem Stammbaum gestrichen worden, aber vielleicht gab es ja innerhalb dieser Bildersammlungen ein Porträt aus der „richtigen" Zeit, das man niemandem zuordnen konnte und das Sophie abbildete.
Als Kevin gegangen war und ich die Haustür schon schließen wollte, passierte etwas Seltsames: Auf der Anhöhe, die sich keine zweihundert Meter von der Haustür der Mühle entfernt befand, tauchte ein weißer Punkt zwischen den Bäumen auf. Für einen Augenblick war mir, als ob dort ein weiß gekleidetes Mädchen mit langem, hellbraunen Haar und einem fast durchsichtigen Porzellan-Teint stand und mir direkt in die Augen sah. Das konnte doch nicht sein! Oder doch? Mein Herz begann sofort, vor Angst schneller zu schlagen. War das ein paranormales Phänomen? Stimmten die ganzen Gerüchte über das Tal bei der Kirschmühle doch? Es dauerte ein paar Sekunden, ehe ich mich beruhigte und begriff, dass ich mich geirrt hatte: Zwar schaute mich in der Tat jemand an, der auf der Anhöhe stand. Allerdings handelte es sich dabei nur um zwei Rehe, die noch dazu ziemlich blöd aus der Wäsche guckten.
„Hör auf, überall Gespenster zu sehen!", schalt ich mich selbst und stellte fest, dass ich mir nach der ganzen Aufregung um Sophies Tagebuch ein paar Tage Urlaub verdient hatte.
(38787 Wörter)
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