29. Dezember 1738

Eigentlich ist Maximilian Friedrich Baron von Piepstein kein sonderlich schöner Mann: Er ist nur knapp einssiebzig groß, hat ein fleischiges, etwas grobschlächtig geschnittenes Gesicht und einen wilden dunkelblonden Lockenkopf, in dem ebenso wie in seinem Bart bereits ein paar graue Strähnen zu erkennen waren. Aber der Baron versteht es, Menschen jedes Standes mit seinem Charme für sich einzunehmen und wirkt wesentlich jünger, als er tatsächlich ist.

Dadurch hat er bereits kurz, nachdem er endlich mit einem halben Tag Verspätung auf dem Kastellburger Schloss angekommen ist, dessen Bewohner für sich eingenommen. Das Personal liest dem „gnädigen Herren", der sie zum Lachen bringt und so tut, als gäbe es keine Standesschranken, jeden Wunsch von den Augen ab. Sogar Frau Schultze, die man so leicht nicht beeindrucken kann, meinte gestern Abend zu mir, dass er ein „gutherziger Mann" sei und „jede Frau sich glücklich schätzen kann, wenn sie so einen Mann abkriegt".

Nur mich, seine künftige Braut, hat der Baron bislang nicht zu beeindrucken vermocht.

Statt abzuwarten, bis mein Vater uns einander vorstellte, hat er, kaum dass er aus der Kutsche gestiegen ist und meine Eltern begrüßt hat, schon meine rechte Hand in seine große, etwas feuchte Hand genommen und sich galant vor mir verbeugt. „Das ist also Deine Tochter", stellte er fest und sprach zunächst mehr mit Papa als mit mir. „Nun, Sie sind ganz schön groß geworden." Er versuchte, mir zuzuzwinkern, was ich seltsam fand, weil er mich ja gar nicht kannte.

„Mögen Sie denn nur kleine Frauen?", fragte ich. Die Frage klang leicht schnippisch und rutschte mir mehr oder weniger raus. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte ich, dass Maman wenig erfreut die Augen verdrehte.

„Aber liebe Gräfin Sophia Anna...", begann der Baron und versuchte, über meinen Fauxpas zu lachen. Es gelang ihm aber nicht, einfach eine heitere Miene aufzusetzen, weil ich ihn sofort unterbrach.

„Man nennt mich Sophie."

„Liebe Gräfin Sophie", korrigierte er. „Wenn Sie einmal so alt wie ich sind, werden Sie längst bemerkt haben, dass äußerliche Werte wie Größe, Schönheit, Titel und Vermögen weniger wichtig sind als der Mensch selbst. Man muss immer auf den Menschen selbst schauen und seinen Charakter."

„Wenn das wirklich stimmen würde, hätten die meisten Debütantinnen, die entweder als besonders hübsch oder reich gelten, eine leere Tanzkarte. Ich nehme aber an, dass Sie in Ihrem langen Leben schon auf weitaus mehr Bällen waren als ich und das wissen." Ich wusste selbst nicht, warum ich mich so widerspenstig und abweisend gab. Gebildet wirkte ich dadurch gewiss nicht, sondern eher frech und blamierte obendrein meine Eltern. Maman, die direkt neben mir stand, hätte mich an diesem Punkt fast mit einem ihrer Pantoffel getreten, wenn ich meinen Fuß nicht weggezogen hätte.

Papa versuchte, die peinliche Szene schnell zu beenden, und trat näher an seinen alten Freund heran. „Lass uns ins Schloss gehen. Es ist hier draußen viel zu kalt, um sich zu unterhalten", schlug er vor.

„Aber ich habe den Jungen doch noch gar nicht begrüßt", wandte der Baron ein. „Sind Sie der junge Graf Philipp?"

Mein Bruder, der bislang ungewöhnlich ruhig geblieben war, schaute den Baron geradezu ehrfürchtig mit seinen großen blauen Augen an. Es kam selten vor, dass er von einem älteren Adligen gesiezt wurde, deshalb nickte er nur.

„Sie sind ungefähr so alt wie mein Mündel, die Tochter meiner unglücklichen Schwester. Ich denke, Sie beide würden Sich glänzend verstehen", meinte der Baron.

Philipp nickte noch mal.

Jetzt war ich es, die die Augen verdrehte. War es nicht genug, dass er hinter mir her war? Wollte er schon die nächste Ehe arrangieren?

„Würden Sie Anna gerne kennenlernen?"

„Du hast doch nicht etwa einen weiteren Gast mitgebracht, Max?", unterbrach ihn Papa, weil er den besorgten Blick von Maman sah. Es gab im Schloss zwar weitere ungenutzte Schlafzimmer. Allerdings wurden sie, wenn wir keine Gäste hatten, als Abstellräume genutzt und wurden immer eigens hergerichtet, wenn wir Gäste erwarteten. 

„Mir blieb keine andere Wahl. Was denkst du, warum ich so spät in Kastellburg angekommen bin, Louis?", sagte der Baron zu Papa, bevor er sich an Maman wandte und sich entschuldigte. „Ich hoffe, dass Ihnen ein weiterer Gast keine Umstände bereitet. Es ging leider nicht anders."

Maman war eine erfahrene Gastgeberin, die es in diesem Moment fertigbrachte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie das Verhalten des alten Freundes ihres Mannes störte. An ihrer Stelle hätte ich eine Erklärung verlangt, weshalb er seine Nichte hatte mitbringen müssen. Stattdessen meinte Maman nur: „Wollen Sie das Kind nicht aus der Kutsche holen?"

„Aber natürlich! Natürlich werde ich das machen", sagte der Baron und stampfte durch den Schnee zurück zur Kutsche.

Hinter den zugezogenen violetten Gardinen der Kutsche kam ein kleiner, blonder Engel zum Vorschein. Zumindest wirkte es so. Das Mädchen war sehr klein für sein Alter und hatte eine so helle Haut, das man sie wahlweise als blutleer oder vornehm-blass hätte beschreiben können. Das in einen weiten, grauen Wollmantel gehüllte Kind hatte sehr lange, hellblonde Haare und drückte ein Kuscheltier, einen Stoffhasen, dabei, fest an seine Brust.

„Was für ein süßes Mädchen!", flüsterte Maman Papa zu.

„Ihr richtiger Vater ist allerdings ein Taugenichts", gab mein Vater zu bedenken. „Er hat Max' Schwester damals mehr oder minder entführt."

Ich wurde das Gefühl nicht los, dass das Mädchen uns die ganze Zeit über schon beobachtet hatte. Möglicherweise wusste sie auch, dass ihr Onkel mich vielleicht zur Frau nehmen wollte, denn sie warf mir seltsame Blicke zu, während sie uns allen vorgestellt wurde. Auf mich wirkten ihre himmelblauen Augen auch nicht wie die eines Kindes, sondern wie die eines sehr berechnenden, kalten Wesens, das mich kritisch beäugte und gar nicht mit dem einverstanden war, das sie sah. Andererseits hing sie vielleicht sehr an ihrem Onkel und hatte Angst, ihn zu verlieren. Wer durchschaute schon, was in einem Kind vorging?

Allerdings war es süß zu sehen, wie souverän sich mein Bruder sofort verhielt. Von dem Moment an, als Anna aus der Kutsche gestiegen war, ließ er sie nicht aus den Augen. Sie schien ihn mehr zu faszinieren als jeder seiner Spielzeugsoldaten. Daher verhielt er sich ungewohnt erwachsen, ganz wie der Sohn des Hausherrn, streckte seine Hand vor. Jetzt schaffte er es auch, selbst zu sprechen. „Hallo, ich bin Philipp", sagte er.

„Anna von Kalkheim", sagte das Mädchen und schüttelte Philipps Hand. Anders als er sie hatte sie ihn bislang vollkommen ignoriert, und sie hätte ihn aufs Neue ignoriert, wenn nicht Maman eingegriffen hätte.

„Philipp, warum nimmst du die junge Dame nicht mit und zeigst ihr, wo die Küche ist? Ich bin mir sicher, dort wird man euch ein Glas warmen Kakao zubereiten."

Während Philipp, der Süßes liebte, sich über das Angebot freute, war Anna sichtlich weniger angetan von der Aussicht. Sie ging zu ihrem Onkel, der sich zu ihr hinabbeugte, damit sie ihm etwas ins Ohr flüstern konnte.

Anschließend erklärte der Baron in einem Ton, der sehr entschuldigend klang. „Anna verträgt leider keine Schokolade. Sie kriegt davon einen fürchterlichen Ausschlag."

Anna nickte dazu nur.

„Sie vertragen keine Schokolade, wo doch jeder weiß, wie sehr Kinder Schokolade lieben? Ach, was sind Sie für ein armes Kind!", rief Maman überrascht aus.

Obwohl Maman die Gelegenheit hatte nutzen wollen, beide Kinder wegzuschicken, blieben Anna und Philipp somit bei den Erwachsenen. Wir saßen also im Salon zusammen, wobei der Baron und Papa auf der einen und Maman und ich auf der anderen Couch Platz nahmen, während die Kinder auf den Stühlen Platz nahmen. Man tauschte Belanglosigkeiten aus: Wie die Reise gewesen war (Anscheinend war sie ohne große Probleme verlaufen), was es zum Abendessen geben würde (Hähnchen und Kartoffeln) und wo man die kommenden Tage verbringen würde (Papa wollte seinem Freund noch unser neues Lustschloss zeigen).

Im Gegensatz zu Philipp schien Anna das gar nicht langweilig zu finden. Auch wenn sie nichts sagte, beobachtete sie nach wie vor alles genau.

Ich fand das beunruhigend. Zwar hatte ich nichts zu verbergen. Aber ich bezweifelte nicht, dass es dem Kind nicht entgangen wäre, wenn dem so gewesen wäre. Deshalb beschloss ich, Papa darauf anzusprechen, was er über das Mädchen auf sich hatte.

„Mögen Sie das Landleben, Gräfin Sophie?", fragte mich der Baron plötzlich.

„Wie bitte?" Ich war so damit beschäftigt gewesen, Anna von Kalkheim zu beobachten, dass ich dem Baron kurz nicht zugehört hatte.

„Du musst wissen, Sophie, dass Max nicht nur sehr viel Land gehört. Er ist auch ein regelrechter Naturbursche, zu dessen liebsten Freizeitbeschäftigungen die Jagd gehört", erklärte Papa.

„Sofern Sich ihre Frage darauf bezieht, ob ich mich gerne in unserem neu gebauten Schlösschen auf dem Land aufhalte, so möchte ich sie bejahen: Ja, ich liebe das Leben dort", erwiderte ich. Was ich mich nicht zu sagen traute, was mir aber auf der Zunge lag, war folgender Satz: „Aber unter ‚Landleben' verstehe ich das Leben mit der Natur und der Tierwelt, nicht das Töten derselben."

„Nun ja, man muss nicht gleich eine Bäuerin werden wollen, wenn man das Leben auf dem Land liebt. Aber es fällt mir wirklich schwer, Sie mir außerhalb der Schlossmauern vorzustellen", meinte der Baron. Irrte ich mich, oder hörte ich einen kritischen Unterton in seiner Stimme? Vermutete er etwa, dass ich doch nicht die richtige Braut for ihn war?

„Ach, wirklich?", entgegnete ich mit einer hochgezogenen Augenbraue und musterte ihn. Wer war er, der mich erst wenige Stunden kannte und schon glaubte, mich zu kennen? „Sie könnten Sich ja täuschen."

Einen Augenblick lang blickte er mir tatsächlich tief in die Augen. Es kam mir vor, als ob er mich so ansah, wie ein Lehrer ein ungezogenes Schulkind ansieht. Denn für ihn war ich wohl vor allem eins: Noch ein kleines Mädchen, das nur ein paar Jahre älter war als seine Nichte. „Ich täusche mich äußerst selten", meinte er schließlich.

Es war mir nicht entgangen, wie unwohl meine Eltern sich derweil zu fühlen schienen. Da uns in diesem Moment die Nachricht erreichte, dass das Abendessen zubereitet sei und wir uns ins Esszimmer begeben konnten, jenen viel zu großen Raum, in dem vierzig Leute essen können, üblicherweise aber nur vier ihre Mahlzeiten zu sich nehmen, schienen sie den peinlichen Moment schnell wieder vergessen zu wollen. Jedenfalls nahm im weiteren Verlauf des Abends niemand mehr darauf darauf Bezug, und ich war regelrecht dankbar dafür, dass der Baron schon beim Dessert erklärte, dass Anna und er nach der langen Reise früh zu Bett gehen wollten.

Allerdings habe ich in der letzten Nacht kaum geschlafen und weiß nicht, wie ich meinen Eltern in der gegenwärtigen Situation unter die Augen treten soll. Was, wenn sie mich auffordern, eine gehorsame Tochter zu sein und höflicher zu dem Baron zu sein, da dieser schließlich unser Gast ist?

Deshalb sitze ich nun schon seit Stunden hier an meinem Schreibtisch und versuche, mir eine Strategie auszudenken, wie ich einem Heiratsantrag des Barons entgehen kann. Mehr als eine völlig heruntergebrannte Kerze und dieser Tagebucheintrag ist dabei allerdings noch nicht herausgekommen; und ich fürchte den Tagesanbruch und den Moment, in dem es Zeit sein wird, mich für das Frühstück herauszuputzen. Denn dann werde ich den Baron wiedersehen.

(9572 Wörter)

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