29. April 1739
Petite Maison bedeutet zwar nur so viel wie „kleines Haus", aber „klein" war nicht gerade das Adjektiv, welches ich für das erst vor zwei Jahren fertiggestellte Lustschloss meiner Eltern verwenden würde. Während Papa das Kastellburger Schloss von seinem Vater geerbt hat, und dieser es restauriert und umgebaut hat, als er seinen ständigen Sitz nach Kastellburg verlegte, konnte Papa die Petite Maison etwas außerhalb des kleinen Dorfes Neuheim ganz nach seinen Vorstellungen neu errichten. Dabei hat er keine Mühen gescheut, denn das Haupthaus hat über 20 Zimmer und ist von einem prächtigen Garten umgeben, dessen geometrische Muster sich natürlich am großen Vorbild des Schlosses von Versailles orientieren. Besonders stolz ist Papa auf den großen, künstlich angelegten Weiher hinter dem Schloss: Um ihn anzulegen und dort seiner liebsten Freizeitbeschäftigung, dem Angeln, zu frönen, hat er einen mittelgroßen Bach umleiten lassen. Da man nicht einmal eine gute Stunde braucht, vom von Kastellburg zur Petite Maison zu gelangen, verbringt der Hof oft seine Wochenenden dort. Wir führen dann fast schon eine bürgerliche Existenz (oder zumindest das, was ich dafür halte), weil wir allein schon aus Platzgründen nicht alle Dienstleute mitnehmen können.
Ich hänge sehr an dem Anwesen, weil es viel persönlicher wirkt als das Schloss, und weil ich mein Zimmer dort sogar mitgestalten durfte. Die Tapete mit den bunten Singvögeln habe ich zum Beispiel selbst ausgesucht. Wenn ich im Frühjahr in meinem Himmelsbett in der Petite Maison aufwache und durchs Fenster direkt auf den See schauen kann, der frühmorgens oft noch in Nebelschwaden gehüllt ist, bin ich sofort gut gelaunt: Ich kann mir nämlich kaum einen schöneren Anblick vorstellen, mit dem ich den Tag beginnen könnte. In diesem Jahr empfinde ich solche Momente als besonders kostbar, da ich nicht weiß, wie viele ich noch von ihnen erleben werde.
Mehr als ein Vierteljahr ist inzwischen vergangen, seit der Baron abgereist ist. Unser Kontakt mit ihm beschränkte sich auf die Briefe, die er weiterhin regelmäßig mit Papa austauscht. Auch wenn ich es nicht zugeben mag, beschäftigt mich der Gedanke an eine Zukunft an der Seite von Max von Piepstein sehr: Ich habe mir mittlerweile angewöhnt, jeden Morgen, wenn ich aufstehe, und jeden Abend, wenn ich ins Bett gehe, zu Gott zu beten, dass er mich doch bitte vor einem Leben, das ich nicht will, bewahren möge. Allerdings wurden meine Bitten bislang noch nicht erhört, denn der Baron hat nach wie vor die Absicht, mich zu heiraten. Innerhalb der Familie redet man mittlerweile zwar nicht mehr jeden Tag darüber, aber die Erwartungshaltung meiner Eltern ist klar: Wenn von Piepstein wie versprochen wiederkommt, wünschen sie eine baldige Verlobung zwischen uns. Maman sagt inzwischen häufiger Dinge wie „wenn du erst deinen eigenen Haushalt hast" oder „wenn du heiratest", und dann möchte ich am liebsten schreien: „Das passiert hoffentlich nicht so bald!" Allerdings verkneife ich mir eine solche Reaktion, obwohl ich ahne, dass mein Schweigen missverstanden werden kann.
In diesem Jahr hat der Winter sehr lange angedauert und der Frühling entsprechend spät begonnen. Es kommt mir manchmal vor, als ob das Klima sich mit jedem Jahr verschlechtert und es immer kälter wird. Das ist nicht so gut für die Bauern, weil dadurch ihre Ernten schlechter ausfallen. Die Sorgenfalten in Papas Gesicht sind manchmal sehr groß, wenn er sich aufgrund einer schlechten Ernte mit der zunehmenden Not der Kastellburger Bevölkerung konfrontiert sieht. Wenn ich versuche, mit ihm darüber zu sprechen oder ihn aufzumuntern, wiegelt er alles aber ab und sagt Dinge zu mir wie „Ach, sei froh, dass du nie Graf sein und dich mit solchen Dingen auseinandersetzen musst!" oder „Mein Sonnenschein, können wir das Thema wechseln? Ich habe mir heute schon mit meinen Beratern den Kopf darüber zermartert, was zu tun ist. Deshalb möchte nicht noch mit dir darüber reden."
Ich mache mir aber Sorgen.
„Sie können nicht allen helfen, vor allem nicht denen, die Ihre Hilfe nicht annehmen wollen", hat Paul Bubel letztens zu mir gesagt.
„Wer sagt denn, dass ich jedem helfen will? Das stimmt doch gar nicht", hatte ich damals darauf geantwortet.
Er blieb jedoch bei seiner Meinung. „Sie wirken aber trotzdem wie jemand, der sein ganzes Glück riskieren würde, um einer anderen Person zu helfen."
Wir treffen uns immer noch jeden Mittwoch, auch wenn Paul einen weitaus längeren Weg zurücklegen muss, seit der Hof sich in der Petite Maison aufhält. Der Vorteil des Weihers war jedoch der, dass man hier mit einer passenden Ausrede spazieren gehen und dann in einem unbeobachteten Moment im Gebüsch verschwinden kann. Einerseits finde ich es schon unhöflich, dass ich Paul nicht auf eine Tasse Tee oder heiße Schokolade ins Haus einladen kann. Dass ich mich hinter dem Rücken meiner Eltern mit ihm treffe und keiner von unserer Bekanntschaft wissen darf, weil zu befürchten ist, dass sie selbst von den Dienstboten als „unnatürlich" empfunden werden würde, stimmt mich traurig. Zwar hätte ich es vermutlich genauso gesehen, bevor ich Paul kennengelernt habe, da ich vorher abgesehen von unserem Personal kaum Kontakt zu Menschen seines Standes hatte. Jetzt, da das nicht mehr der Fall ist, denke ich, dass jeder sich seine Freunde aussuchen können sollte. Denn Paul kann genauso wenig etwas dafür, dass er der Sohn eines Bauern ist, wie ich, dass mein Vater der mächtige Graf Ludwig ist. Andererseits ist es gerade der pure Nervenkitzel, der mich immer wieder zu diesen Treffen mit Paul treibt. Sie passieren in aller Stille und Heimlichkeit, und jedes Mal müssen wir befürchten, erwischt zu werden, weshalb wir uns manchmal nicht einmal trauen zu lachen. Deshalb allerdings üben diese Treffen auf mich eine große Anziehungskraft aus: Paul erwartet nicht von mir, dass ich immer das gute Mädchen bin, zu dem ich erzogen worden bin, weil ihm viele Regeln der Gesellschaft, aus der ich komme, fremd sind.
Er versteht nur, dass es mir nicht gutgeht, und macht sich Sorgen. Das wiederum finde ich süß. Vorhin hat er mir zum Beispiel folgenden Vorschlag gemacht: „Ich würde Ihnen gerne einen geheimen Ort zeigen, um Sie ein wenig aufzumuntern."
Ich schaute ihm tief in seine himmelblauen Augen und bemerkte, dass er mich wirklich an einen Ort führen wollte, der mutmaßlich weit von der Petite Maison entfernt war. Obwohl mir klar war, dass es keine gute Idee war, ihm Hoffnungen zu machen oder gar auf ein solches Angebot einzugehen, ertappte ich selbst mich dabei, wie ich fragte: „Was für einen geheimen Ort meinen Sie denn?"
„Das werden Sie sehen, wenn wir dort sind."
Dass Paul sich so geheimnisvoll gab, weckte durchaus mein Interesse. Natürlich kannte er auch weitaus mehr interessante Orte als ich, da ich das Schloss als Mädchen und erst recht als unverheiratete Frau meines Alters nur in Ausnahmefällen ohne Begleitung verlassen durfte. Er hatte praktisch sein gesamtes Leben auf dem Land verbracht und gerade als Kind wahrscheinlich oft draußen gespielt, wodurch er sogar mehr interessante Orte in Papas Beerheimer Herrschaftsbereich kennen dürfte als Papa selbst. „Besteht die Möglichkeit, dass ich den Ort schon kenne und er somit gar nicht so ‚geheim' ist?"
„Das ist unwahrscheinlich", erklärte er. „Es ist ein Ort, an dem die Beerheimer Kinder spielen, die Erwachsenen aber dann seltsamerweise vergessen zu haben scheinen. Kaum jemand hat sich in den letzten einhundert Jahren dorthin verirrt."
„Liegt der Ort also in der Nähe von Beerheim?" Das vermutete ich, weil er ja aus diesem Ort stammte. Nur lag Beerheim über eine Stunde von Neuheim entfernt, getrennt quasi von dem mächtigen Berg. Bis dorthin war es eben kein Katzensprung: Zumindest zeigte das die Reaktion der Neuheimer Bevölkerung, die, da Neunheim keine eigene Kirche hatte, jeden Sonntag zur Messe gingen und nach der Messe manchmal sehr erschöpft wirkten und keuchten, wenn sie auf dem Rückweg an der Petite Maison vorbeikamen.
„Wie gesagt, das möchte ich Ihnen noch nicht verraten", sagte er.
„Wie sollen wir allerdings dorthin kommen? Sie können mich ja schlecht abholen und sagen, dass Sie einen Nachmittag mit mir verbringen wollen", wandte ich ein.
Darum schien er sich beeindruckend wenige Sorgen zu machen, wobei ich nicht wusste, ob er nur nicht ahnte, welche Konsequenzen es haben würde, wenn wir entdeckt wurden, oder ob er die möglichen Folgen eines solchen Skandals auf die leichte Schulter nahm. „Ach, das kriegen wir schon hin. Wir müssen uns ja nicht im Hof Ihres Anwesens treffen. Geben Sie mir einfach zwei Wochen, um die Fahrt zu organisieren."
Eigentlich hätte ich an diesem Punkt definitiv „Nein!" sagen müssen. Jetzt sitze ich ratlos in meinem Zimmer und frage mich, warum meine Antwort darauf lediglich lautete: „Abgemacht, lassen Sie es uns versuchen! Ich bin sehr gespannt darauf, was Sie mir zeigen wollen." Was er vorhat, ist nichts weniger als eine waghalsige Aktion: Ich riskiere damit auf eine sehr leichtsinnige Weise meinen Ruf. Wenn mich nur ein Bauer auf dem Weg zu dem Ort in Pauls Begleitung sieht und erkennt, will ich mir die Folgen für mich lieber erst gar nicht ausmalen! So ein Vorfall würde nämlich sicher zu Gerede führen; und dann wird es keine Rolle spielen, dass ich Paul bis zum heutigen Tag noch nicht einmal geküsst habe. Ich meine, ich habe ein paar Mal seine Hand gehalten. Seine Hände vermitteln einem durch ihre Wärme ein dermaßen angenehmes und behagliches Gefühl, dass ich jedes Mal, wenn er mich berührt und ich seine Hände auf meinem Körper spüre, genieße. Mir ist in solchen Momenten schon bewusst, dass ich mich leichtsinnige verhalte, wenn ich einen Mann dermaßen nah an mich heranlasse.
Trotzdem würde ich Paul noch immer eher als einen guten Freund einstufen als einen Liebhaber. Denn dass er mehr sein will als mein Freund, hat er zum Glück noch nie gesagt. Wie ich darauf reagieren würde, wenn er sich mir auf diese Weise nähern würde, darüber will ich nicht nachdenken: Ein solcher Moment würde sicherlich das Ende unserer Freundschaft bedeuten, da der Teil von mir, der immer noch ein gutes Mädchen und vor allem eine gute Christin sein will, eine solche Annäherung nicht tolerieren können würde.
Um allen Missverständnissen vorzubeugen, muss ich Paul nächste Woche unbedingt sagen, dass ich es mir anders überlegt habe und doch nicht mitkommen kann. Ich kann nur hoffen, dass er das verstehen wird.
Maman dagegen versteht bis heute nicht, dass ich den Baron von Piepstein am liebsten nie wieder sehen möchte. Vorhin ist sie in mein Zimmer gekommen und hat mir angekündigt, dass Papa heute einen Brief von seinem alten Freund Max erhalten hat. Wie versprochen, will er uns nächste Woche zum zweiten Mal besuchen, wobei er seine Nichte dieses Mal wohl wieder mitbringen wird. Papa hat nun Maman aufgetragen, die Petite Maison für unsere Gäste herzurichten - und Maman hat mir aufgetragen, „höflich zu von Piepstein zu sein."
„Was, wenn mir das schwerfällt?", habe ich sie daraufhin gefragt.
„Dann gehe ich immer noch davon aus, dass du eine gute Tochter bist und weißt, was du Papa und mir schuldig bist. Du wirst dich so verhalten, dass du eine Zierde und keine Schande für diese Familie sein wirst!", schleuderte Maman mir daraufhin ins Gesicht.
„Ich wüsste nicht, dass ich Euch je Anlass gegeben habe, an meiner Loyalität zu dieser Familie zu zweifeln", sagte ich daraufhin geschockt. Ich habe Maman noch nie so entschieden erlebt: Mir war, als ob sie mit einem möglichen Feind ihrer Familie, der dieser schaden wollte, sprach und nicht mit der eigenen Tochter.
„Dein Papa hat dir in den ersten 17 Jahren deines Lebens leider zu viele Freiheiten gelassen, und deshalb bist du, wie du bist." Eine derartige Meinung über meine Erziehung hatte sie zwar schon oft geäußert, aber nie dermaßen direkt und in einem Tonfall, der einem das Gefühl vermittelte, absolut wertlos zu sein. „Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir dich von Anfang an wesentlich strenger erzogen, damit du verstehst, dass eine Frau nicht dieselben Freiheiten hat wie ein Mann und sich bei ihren Entscheidungen danach richten muss, was ihr Umfeld ihr gestattet."
„Aber, Maman, Sie sind doch selbst eine Frau! Wie können Sie so sprechen?", hätte ich in diesem Moment am liebsten ausgerufen. Aber ich schwieg dazu nur und wandte mich lieber von ihr ab, damit sie meinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte.
Meine Reaktion brachte sie allerdings noch mehr in Rage. „Du solltest einsehen, dass wir alle nur das Beste für dich wollen. Und du wirst keinen besseren Mann als von Piepstein finden: Er ist weitaus älter als du, finanziell unabhängig und erfahren genug, dass er dir helfen kann, dich in der Welt zurechtzufinden. Was mehr könntest du wollen? Sag nicht ‚Liebe', denn das ist ein sehr überstrapaziertes Wort! Du wirst mit der Zeit eben lernen, deinen Mann zu mögen, und uns in 10 oder 15 Jahren wahrscheinlich sehr dankbar sein, dass wir geholfen haben, eine so gute Partie zu machen."
„Ich denke nicht, dass es mir je gelingen wird, ihn zu mögen", stellte ich wahrheitsgemäß fest.
„Dann musst du eben so tun, als ob", stellte Maman klar. „Wichtiger ist für dich, dass Papa und ich wünschen, dass du dich dem Baron gegenüber anders als beim letzten Mal höflich und freundlich verhältst. Wir sind deine Eltern, und du hast zu tun, was wir sagen, solange du unserem Dach lebst!"
(23129 Wörter)
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