27. Dezember 1738
Vorgestern habe ich mir die Finger wundgeschrieben und mir deshalb vorgenommen, dass meine künftigen Tagebucheinträge kürzer sein müssen, egal, wie aufregend meine Erlebnisse auch gewesen sein mögen.
Morgen bekommen wir Besuch, und das ganze Haus ist bereits in heller Aufruhr: Den ganzen Tag schon sind unsere Dienstboten dabei, jeden Winkel des Schlosses aufzuräumen, das Geschirr auf Hochglanz zu polieren und eines der ungenutzten Schlafzimmer, das sonst als Abstellkammer für allerlei Krimskrams genutzt wird, besonders schön herzurichten. Selbst Maman wirkt angespannt und kommandiert das Personal kurzangeboten herum, so als ob es ihr dieses Mal besonders wichtig wäre, bei dem Gast einen guten Eindruck als Gastgeberin zu hinterlassen.
Der Besucher, Maximilian Friedrich Baron von Piepstein, hat nicht nur einen interessant klingenden Namen, sondern er ist auch ein alter Freund von Papa: Wann immer Papa eine Anekdote aus seiner wilden Studienzeit in Heidelberg zum Besten gibt und Maman die Schamesröte ins Gesicht, fällt für gewöhnlich auch Max' Name. Max, mit dem er einmal in einer durchzechten Nacht den durchaus sehr gefährlichen Einfall hatte, ein Boot zu stehlen und zu einer Bootsfahrt auf dem Neckar aufzubrechen, was natürlich so endete, dass sie beide in den Fluss gefallen sind und das Boot gekentert ist. Max, mit dem er nach einer Kneipenschlägerei wegen eines Kartenspiels die restliche Nacht im Gefängnis verbracht hat. Bei einem Ball in Zweibrücken für den dort damals im Exil lebenden König von Polen, den er mit Papa besucht hat, soll Max bei dem Versuch, sich unter einer Treppe zu erleichtern, auf ein junges Mädchen gestoßen sein, das zu jung war, um am Ball teilzunehmen und ihn heimlich beobachtete. Das Mädchen forderte Max auf, mit ihm in einem versteckten Winkel des Gartens zu tanzen, was Max mit einem Verweis auf ihrer beider Ruf ablehnte. Erst viel später erfuhr Max, dass er die künftige Königin von Frankreich zurückgewiesen hatte.
Mein Leben lang hatte ich also Papas Erzählungen über Maximilian von Piepstein gehört, ohne ihn getroffen zu haben. Auch Papa hat ihn in den letzten zehn Jahren nicht gesehen und nur einen sporadischen Briefkontakt mit seinem Freund gepflegt. Denn der Baron lebt seit dem Tod seines Vaters auf einer Burg, die sich irgendwo zwischen Aschaffenburg und Würzburg hoch über dem Main erhebt und dort schon seit dem Mittelalter steht, und hat angesichts seiner zahlreichen Ländereien viele Verpflichtungen, die aus ihm anscheinend einen zurückgezogen lebenden Mann gemacht haben.
Heute früh hat Papa mich zu sich in die Bibliothek des Schlosses gebeten. Als ich diese betrat und ihn auf dem großen Sofa sitzen sah, ahnte ich nichts Gutes: Immerhin war ich die einzige Tochter des Hauses und in einem heiratsfähigen Alter, und Papas Freund hatte es früher anscheinend mit der Moral nicht so genau genommen. Deshalb erwartete ich, dass Papa mich vor dem Baron warnen würde.
Allerdings war ich auf das, was Papa dann tatsächlich zu mir gesagt hat, nachdem ich mich zu ihm auf das Sofa gesetzt habe, nicht vorbereitet.
„Sophie, du weißt, dass Maman und ich sehr glücklich, darüber sind, wie du dich entwickelt hast. Du übst fleißig Klavier, kannst inzwischen gut Französisch sprechen (auch wenn deine Rechtschreibung noch immer verbesserungswürdig ist), und du bist auch sonst zu einer sittsamen, jungen Dame herangewachsen", begann er in einem Ton, den ich von ihm noch nie vernommen hatte und der mich erschaudern ließ. „Aber wie du weißt, werden Maman und ich nicht ewig für dich da sein können..." An dieser Stelle hielt er plötzlich inne, so als ob er nicht wusste, wie er fortfahren sollte.
„Nun aber, Papa, Sie beide sind doch noch jung und gesund!", entgegnete ich sofort.
„Sophie, wenn ich dich um etwas bitte, egal was, würdest du mir diesen Wunsch abschlagen?", fragte er und schaute mir mit einem durchdringenden Blick, den ich vermutlich nie vergessen werde, in die Augen.
Obwohl das Kaminfeuer in unserer Nähe knisterte, wurde mir plötzlich ganz eisig ums Herz. Ich verstand nämlich, um was er mich bitten wollte. „Das kann nicht Euer Ernst sein!", rief ich aus.
„Wäre es denn so schlimm, wenn du meinen alten Freund Max heiratest und ihn glücklich machst?", fragte Papa in einem nüchternen Ton.
„Aber ich kenne ihn doch gar nicht!"
„Du wirst ihn morgen kennenlernen. Deshalb habe ich ihn ja eingeladen, als ich in einem seiner Briefe gelesen habe, wie sehr er sich eine Familie wünscht."
„Außerdem ist er viel älter als ich."
„Das muss nicht zwangsläufig schlecht sein. Auch ich bin ein paar Jahre älter als Maman."
„Ja, drei, aber keine 30! Und Ihr habt mit Maman auf mehreren Bällen getanzt, bevor Ihr bei ihrem Onkel mit ihrem Einverständnis um ihre Hand angehalten habt."
„Das war etwas anderes, weil alle deine Großeltern da schon tot waren. Und Maman war damals auf die Großzügigkeit ihres Onkels angewiesen und hat mich nur durch eine glückliche Fügung des Schicksals getroffen", meinte Papa und wandte sich dem Kaminfeuer zu, so als ob er der Konfrontation mit mir aus dem Weg gehen wollte. „Lass es dir einmal in Ruhe durch den Kopf gehen, Sophie: Du könntest eine wesentlich schlechtere Partie machen als Max!"
Kaum dass ich mich versehen hatte, hatte Papa auch schon den Raum verlassen. Ich konnte es immer noch nicht fassen: Papa wollte mich mit einem Fremden verheiraten und erwartete, dass ich mich trotzdem wie eine brave, gehorsame Tochter verhielt.
Zwar war mir bewusst, dass ein derartiges Los die meisten Frauen meines Standes irgendwann ereilte, denn grundsätzlich waren es die Mamans und Papas, welche die Ehen ihrer Kinder einfädelten. Ohne Papas Zustimmung könnte ich auch nicht heiraten. Genau genommen können das in der Grafschaft sehr viele Menschen nicht, weil er ihr Grundherr ist. Aber er hat sich auch noch nie in die Wünsche von einfachen Leuten aus dem Volk eingemischt, seine Zustimmung als eine reine Formsache betrachtet und den Paaren viel Glück gewünscht.
Ich erhoffte mir Unterstützung von Maman. Also eilte ich in meinem aufgewühlten Zustand zu ihr. Sie war gerade in der Küche und besprach mit Hilde, der Köchin, welche Gerichte in den nächsten Tagen serviert werden sollten.
„Maman, haben Sie einen Augenblick Zeit für mich?", fragte ich. Die Bitte platzte nur so aus mir heraus.
Maman schaute mich irritiert an. Sie hasste es, wenn ihre Kinder sehr emotional reagierten. Dann verwandelte sie sich wie jetzt in diesem Augenblick in einen regelrechten Eisblock. „Kann es warten? Du sieht doch, meine Liebe, dass ich gerade beschäftigt bin."
„Nein, Maman! Ich habe gerade mit Papa gesprochen, und...", begann ich.
Da seufzte sie und zog mich ins Musikzimmer, wo sie wohl hoffte, sich mit mir unterhalten zu können, ohne dass uns jemand überhörte. „Ich hatte Papa gebeten, dir unser Anliegen erst in ein paar Tagen vorzutragen. Andererseits kann ich verstehen, weshalb er mit offenen Karten spielen wollte."
Ich traute meinen Ohren nicht. „Aber das können Sie und Papa doch nicht wirklich verlangen! Ich weiß doch noch nicht einmal, ob ich den Mann überhaupt mag, geschweige denn, ob ich ihn je werde lieben können!"
„‚Liebe' ist ein überstrapaziertes Wort, das vor allem gerne von ungehorsamen jungen Frauen und Männern deiner Generation verwendet wird", erwiderte Maman nüchtern. „Worauf es wirklich ankommt, ist, ob der Mann über die Mittel verfügt, die ein sorgenfreies, komfortables Leben zu bieten, und dass er ein anständiger Mensch ist. Dann wirst du schon lernen, ihn zu mögen."
Da konnte ich nicht anders, als mich wie eine wahrlich ungehorsame Tochter zu verhalten und ohne weitere Worte aus dem Zimmer zu stürmen, um mich in meinem Zimmer einzusperren. Dort bin ich erst einmal in Tränen ausgebrochen.
Als ich wieder einigermaßen die Fassung erlangt hatte, fing ich an zu schreiben. Das Schreiben hat mir geholfen, mich zu beruhigen, auch wenn ich beim besten Willen nicht weiß, wie ich meinen Eltern heute beim Abendessen entgegentreten soll.
(6188 Wörter)
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