2. Januar 1739

Ich schäme mich mittlerweile so sehr für mein Verhalten in der Silvesternacht! Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ehrlich gesagt will ich mir gar nicht erst ausmalen, was passiert wäre, wenn ich nicht Paul Bubel direkt in die Arme gelaufen wäre. Es ist ja nicht so, als ob es einen Ort gegeben hätte, an dem ich Zuflucht hätte suchen können. Also hätte ich irgendwann zwangsläufig nach Hause zurückkehren müssen. Freilich hätte ich durch meinen Fluchtversuch zumindest erreicht, dass ich den Baron nicht hätte heiraten müssen. Allerdings wäre mein Ruf wäre für immer ruiniert gewesen, und dann hätte ich erst recht schnell heiraten müssen, egal, ob es mir passte oder nicht! Denn kein Mann, der etwas auf seinen Ruf hält, hätte ich mich noch zur Frau nehmen wollen. Zum Glück denke ich nicht, dass außer Paul irgendein Erwachsener mitbekommen hat, dass ich das Schloss überhaupt verlassen habe; und dafür, dass er mich sicher zurückgebracht hat, muss ich ihm wirklich dankbar sein.

Allerdings hat die unverschämte, kleine Anna mich anscheinend mit Paul gesehen. Gestern hat Anna deshalb den ganzen Tag versucht, mich abzufangen, um mich damit zu konfrontieren. Schließlich erwischte sie mich dabei, wie ich vor dem Abendessen versuchte, auf mein Zimmer zu gehen. Rein „zufällig" stand sie plötzlich im Flur vor mir, weil sie vermutlich hinter der Ecke schon in Lauerstellung gelegen hatte, und gab mir keine Sekunde Zeit, mich von dem Schrecken zu erholen. „Ich kenne Ihr Geheimnis!"

Mehr als ein „Hä, wie bitte?" brachte ich in dem Moment nicht heraus.

Das Mädchen mag zwar aussehen wie ein kleiner Engel ohne Flügel, aber in Wirklichkeit ist sie ein kleines Biest, das seine Augen überall hat und seine Nase gerne in Dinge steckt, die sie nichts angehen! Ihr Blick war sehr frostig, und ihre blauen Augen funkelten wie Eiskristalle, als sie mir daraufhin Folgendes an den Kopf warf: „Wer war denn der Mann, mit dem Sie gestern Nacht auf dem Schlossplatz geredet haben?"

„Das geht Sie gar nichts an!", entgegnete ich.

„Wieso? Weil es Ihr Liebhaber war?"

Ich konnte es nicht fassen, dass diese Zwölfjährige mich offensichtlich ausspioniert hatte. Dass sie mich nicht leiden konnte und es sicher nicht billigen würde, dass ich ihren Onkel heiratete, hatte ich schon vorher vermutet. Allerdings hatte ich unterschätzt, was für eine Fantasie das Mädchen hatte und zu welchen Mitteln es greifen würde, um diese Heirat zu verhindern: Sie war ganz offensichtlich bereit, meinen Ruf zu zerstören. „Ich habe keinen Liebhaber. Das ist eine ganz gemeine Unterstellung!"

Aber Anna ließ sich nicht davon abbringen, mich weiter zu drangsalieren, nachdem Sie einmal damit angefangen hatte: „Warum lügen Sie mich an? Wer ist er überhaupt? Ein hübscher Bauer, der Ihnen die Augen verdreht hat?"

„Noch einmal: Ich habe keinen Liebhaber!", stellte ich erneut klar und geriet dabei richtig in Rage. „Und ich verstehe nicht, wie Sie allein aus der Tatsache, dass Sie mich mit einem Mann gesehen haben, schon zu der Mutmaßung gelangen, dass wir..." 

„Ich habe doch gesehen, wie der Mann Sie angesehen hat. Er ist eindeutig in Sie verliebt!", fiel mir Anna ins Wort.

Ich musste schlucken, als ich das hörte, und mein Herz fing plötzlich aus ganz unerklärlichen Gründen an, schneller zu schlagen. Da ich noch nie einen verliebten Mann gesehen hatte und erst recht keinen, der eindeutig und unzweifelhaft in mich verliebt gewesen ist, konnte ich zwar nicht beurteilen, inwiefern Annas Beobachtung zutraf. „Warum gehst du nicht mit Philipp spielen oder deinen Puppen und störst mich überhaupt, du kleines Kind!", sagte ich schließlich in einem sehr unfreundlichen Ton zu ihr, weil ein Teil von mir sich auf frischer Tat ertappt fühlte.

Natürlich war das ein Fehler und hatte sofort Konsequenzen. Schon allein deshalb, weil wir uns im Schloss befanden, wo jede Tür, jedes Fenster und jede Ecke Augen und Ohren zu haben schien. Deshalb hätte ich ahnen können, dass uns jederzeit jemand überhören konnte.

In diesem Fall war es Papa, der offensichtlich gerade auf dem Weg in sein Schlafzimmer war und uns hören konnte, als er zufällig um die Ecke kam. Ich sah ihn auf uns zukommen, bevor Anna das tat, und ich bemerkte außerdem, dass ihm sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen war und er mich vorwurfsvoll ansah. Obwohl er außen hin wie immer ruhig und freundlich blieb, so wie es sich für einen Grafen gehört, kannte ich meinen Vater besser und wusste, dass er innerlich kochte, als er mich in einem vermeintlich neutralen Ton ansprach: „Sophie, kann ich kurz mit Ihnen reden?" Es war nicht einmal eine Frage, sondern ein Befehl.

Ohne dass weitere Worte gesprochen wurden, folgte ich ihm in mein Zimmer, befürchtete aber sicherlich nicht zu Unrecht, dass die kleine Anna jedes Wort mithören würde.

„Mein liebes Kind, kannst du mir vielleicht erklären, was du mit deinem Verhalten in den letzten Tagen bezweckst?", fing er zu meiner Überraschung an. „Erst stößt du meinen alten Freund, der im Übrigen eine glänzende Partie für dich abgäbe, bei jeder Gelegenheit vor den Kopf - und nun ertappe ich dich dabei, wie du sein Mündel beschimpfst!"

„Ich weiß auch, dass die Szene eben gruselig war. Es tut mir auch leid, dass ich so aus der Haut gefahren bin! Aber glauben Sie mir, das Mädchen hatte es verdient", versuchte ich mich zu rechtfertigen, wobei ich allerdings tunlichst zu vermeiden versuchte, ihn über Annas Anschuldigungen zu informieren.

„Das Mädchen ist 12! Sie ist wesentlich jünger als du und wird sich ihrem schwierigen Alter entsprechend verhalten. Das heißt aber nicht, dass du nicht gelassen darauf reagieren solltest! Immerhin sind wir ihre Gastgeber", entgegnete Papa daraufhin. „Ich dachte, wir hätten dich besser erzogen!"

„Man muss sich doch nicht alles gefallen lassen von einem..." An dieser Stelle geriet ich ins Stocken, weil mir keine passende Beschimpfung einfiel und ich sah, dass Papas Augen jetzt schon vor Wut wild funkelten. Es war also besser, den Satz nicht zu vollenden. Da ich Papa ohnehin hatte fragen wollen, wieso sein Freund sich so sehr um seine Nichte bemühte und sie sogar als sein „Mündel" bezeichnete, fragte ich stattdessen nach ihrer Herkunft: „Wer ist diese Anna von Kalkheim schon überhaupt?"

Papa seufzte und setzte sich in den Stuhl an meinem Schreibtisch. „Wie du weißt, erzähle ich ungern skandalöse Klatschgeschichten."

Ich nickte. „Sie sagen dann immer: ‚Das sind Frauengespräche, die eines Ehrenmannes nicht würdig sind. Aber trotzdem haben Sie an dem Tag, als der Baron und Anna in Kastellburg ankamen, davon gesprochen, dass Annas Vater ihre Mutter mehr oder weniger entführt hätte."

„Das hast du natürlich überhört, obwohl du es nie hättest hören sollen", sagte Papa und seufzte. „Es ist besser, wenn man den Mantel des Schweigens über solche Geschichten breitet."

„Sie wissen, dass alles, was Sie mir erzählen, unter uns bleibt, wenn Sie das wollen."

„Nun gut, ich will Ihnen die Geschichte erzählen. Vielleicht können Sie daraus lernen, wie es jungen Frauen ergehen kann, die sich ihren Eltern widersetzen", meinte er und gab sich geschlagen. Mit einem Fingerzeig auf einen weiteren Stuhl, der vor meiner Kommode stand, deutete er an, dass ich mich setzen sollte. Die Geschichte, die er erzählen wollte, dauerte offenbar länger.

„Max hatte eine jüngere Schwester namens Lotte", begann er schließlich. „Sie war wirklich außergewöhnlich schön und wurde auf jedem Ball von Männern umringt in einem Ausmaß, wie ich es seither nie wieder erlebt habe. Lotte genoss es sehr, möglicherweise zu sehr, im Mittelpunkt zu stehen. Eines Tages war sie jedenfalls verschwunden, als ihre Zofe sie morgens wecken wollte. Ihre Eltern waren außer sich und ließen nach ihr suchen. Sie waren verzweifelt und hilflos. Schlimmer noch: Sie wussten nicht, was sie denken sollten. War Lotte entführt worden, damit man sie um Geld erpressen konnte? Oder war sie ermordet worden?

Nach ungefähr zwei Wochen kam ein Brief von Lotte an, in dem sie erklärte, dass sie in Sicherheit sei und den jungen Soldaten, mit dem sie durchgebrannt war, auch heiraten wolle. Mit anderen Worten bat sie um die Erlaubnis ihres Vaters, Fritz von Kalkheim heiraten zu dürfen. Nur wenige Stunden, nachdem er den Brief gelesen hatte, erlitt Max' Vater einen Herzinfarkt, von dem er sich nie erholen sollte. Lotte war doch sein Lieblingskind gewesen, und ausgerechnet sie tat ihm so etwas an! Max und seine Mutter sahen jedenfalls keine andere Möglichkeit, als Lotte ihren Willen zu lassen. Sie heiratete also diesen Fritz, den sie auf einem Ball kennengelernt hatte und der wohl besonders attraktiv in seiner Uniform ausgesehen hatte. Ansonsten hatte er wenig vorzuweisen: Er war jemand, der vielen Mädchen schöne Augen gemacht hatte und der sein Erbe zu diesem Zeitpunkt schon fast gänzlich verzockt hatte. Allerdings hat er wohl nicht damit gerechnet, dass Lottes Familie ihr nur eine kleine Abfindung zahlen würde und sie ansonsten komplett verstoßen würde. Denn das Geld war schnell verbraucht, da Fritz von Kalkheim ständig dem Kartenspiel frönte und bald darauf auch aus der Armee entlassen wurde wegen seines unehrenhaften Lebenswandels. Kurz darauf habe ich deine Maman kennengelernt und geheiratet, wodurch ich nicht mehr so oft mit Max in Kontakt war.

Das nächste Mal, dass Max Lotte in einem Brief an mich erwähnte, vertraute er mir an, dass es seiner Schwester sehr schlecht ging: Sie wohnte irgendwo in der Gosse, ihr Mann war ständig nicht daheim, und sie wusste nicht, wie sie die Rechnungen für sich und den kleinen Sohn, den sie bekommen hatte, bezahlen sollte. Anscheinend wollte sie nach Hause kommen und sich von ihrem Mann trennen, aber ihre Mutter wollte sie nie wieder sehen. Lotte versuchte dann, sich und ihr Kind mit Näh- und Schneiderarbeiten durchzubringen. Schließlich kam es, wie es kommen musste: Lottes kleiner Sohn bekam eine schwere Grippe, und weil seine Mutter kein Geld hatte, um einen Arzt zu bezahlen, starb der kleine Junge.

Kein Jahr später starb auch Lotte kurz nach der Geburt ihrer Tochter. Ich war sehr überrascht, als ich hörte, dass Lotte ein weiteres Kind bekommen hatte, weil Max mir geschrieben hatte, sie hätte am Schluss weitgehend von ihrem Mann getrennt gelebt. Obwohl das Neugeborene möglicherweise nicht einmal seine Tochter war, nahm Fritz von Kalkheim das Kind zu sich, da er in ihr eine Geldquelle sah: Denn Max wollte doch wohl vermeiden, dass seine Nichte nicht standesgemäß erzogen wurde? Auf diese Weise ergaunerte er sich eine finanzielle Unterstützung, die es ihm erlaubte, ein Haus in einer respektablen Frankfurter Gegend anzumieten und wieder am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

Jetzt scheint Fritz eine neue Frau kennengelernt zu haben, eine vermögende Witwe, und er möchte, dass Anna nach der Heirat dauerhaft zu ihrem Onkel zieht. Er hat wohl keine Verwendung mehr für das arme Mädchen, für das ihr ‚Vati' alles ist. Du musst ihr nur manchmal zuhören, wie sie Philipp vorschwärmt, was für einen tollen ‚Vati' sie habe. Es hat mir in den letzten Tagen fast das Herz zerrissen, weil derselbe ‚Vati' von dem Kind eigentlich nichts mehr wissen will und zu Max sogar gesagt haben soll, der ‚kleine Bastard' sähe ihm nicht einmal ähnlich.

Du verstehst hoffentlich, dass Lottes Geschichte jeder jungen Frau eine Lehre sein sollte. Allerdings denke ich nicht, dass ich in deinem Fall viel zu befürchten habe."

Papas durchdringender Blick am Schluss seiner Erzählung machte mich durchaus nervös: Warum schaute er mich so an? Hatte er doch mehr von meiner Unterhaltung mit Anna gehört, als ich vermutet hatte? Hatte er meinen gestrigen Fluchtversuch etwa bemerkt, auch wenn er schwieg und so tat, als hätte er nicht stattgefunden?

Es blieb sein Geheimnis. Er nickte nur, als ich sagte: „Du hast mir da eine wirklich schlimme Geschichte erzählt. Die arme Anna!"

(15836 Wörter)

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