18. Mai 1793
Eigentlich hatte ich geglaubt, ich würde Dich nie wiedersehen, liebes Tagebuch. Und doch haben die Wirren der Gegenwart Dich, einen Gegenstand aus besseren, aber längst vergangenen Zeiten, zu mir zurückgebracht.
Wenn ich jetzt, am Ende meines langen Lebens angekommen, in deinen Seiten blättere, wundere ich mich über mich selbst: War ich wirklich jemals so jung? Manchmal kommt es mir so vor, als ob ich über das Leben einer Fremden lesen würde; und doch erkenne ich meine Schrift wieder und erinnere mich an manche Vorfälle, so als ob sie gestern passiert wären und nicht vor 55 Jahren.
Aber ich muss nur meine Hände betrachten und deren faltige, furchige Haut, um mich daran zu erinnern, dass ich längst kein 17-jähriges Mädchen mehr bin: Damals habe ich Handschuhe getragen, um meine feine Haut vor der Sonne zu schützen. In dem Moment, in dem ich Paul geheiratet habe, waren die Handschuhe das erste Kleidungsstück, das ich umständehalber abgelegt habe: Denn ich, die dazu nicht geboren worden war, musste plötzlich hart arbeiten und Arbeiten verrichten, auf die mich keiner vorbereitet hatte. „Hör auf, die feine Dame zu spielen, und pack lieber an! Sonst werden sie dich hier nie respektieren!", meinte sogar Paul zu mir, nachdem ich mich bei ihm über die komischen Blicke der Bauern beschwert hatte, die im Zuge ihres Frondienstes mehr oder weniger unfreiwillig dabei waren, die Kirschmühle zu errichten.
Heute weiß ich, dass ich mit meinem Sonnenschirm und den Handschuhen wie eine arrogante, blöde Ziege auf die einfachen Leute gewirkt haben muss. Obwohl ich durch meine Heirat eigentlich eine der ihren geworden war, gehörte ich gefühlt doch nicht zu ihnen. Und wenn ich ehrlich bin, gehöre ich selbst heute nach einem langen Leben voller harter Arbeit und Entbehrungen nicht richtig zu ihnen. Nur das ist freilich eine andere Geschichte.
Die Oberflächen meiner Hände sind schon seit Jahrzehnten rau und so hart, dass sie praktisch taub sind; es sind die Hände einer alten Müllersfrau, die in der Mühle ihres Mannes ebenso mitangepackt hat wie auf seinen Feldern und die sich darüber hinaus um den Haushalt, den Garten und die Kindererziehung gekümmert hat. All das musste ich tun, um zu überleben. An das Leben als Grafentochter, das ich vorher geführt habe und das ich weiter hätte führen können, wenn ich Paul aufgegeben hätte, habe ich dagegen schon sehr lange nicht mehr gedacht.
Bis vorgestern.
Die Kirschmühle liegt zwar außerhalb von Beerheim, aber halt nicht so abgelegen, dass man nicht mitbekommt, was in der Welt in den letzten vier Jahren passiert ist. Ich habe durchaus gehört, dass ausgerechnet in Frankreich ein großer Aufstand des Volkes, eine Revolution, stattgefunden hat und dass dort nicht nur Schlösser geplündert und in Brand gesteckt worden sind, sondern gerade auch zahllose Menschen zu Tode verurteilt und geköpft werden. Sogar der französische König Ludwig XVI. ist unter ihnen gewesen.
Bereits als die Revolution vor vier Jahren anfing, haben die Beerheimer Leute gegen ihre adelige Herrschaft aufbegehrt. Da Beerheim keinen Tagesritt von der französischen Grenze entfernt liegt, war das zwar zu erwarten. Trotzdem fand ich es schockierend, wie schnell es ging: Binnen weniger Wochen wollten auch die Beerheimer mehr Freiheiten und ein politisches System abschaffen, das mehrere Jahrhunderte alt war. Was die politischen Extremisten unter ihnen stattdessen wollen, ist unklar: Manche wollen eine Republik und sagen, dass die englischen Kolonien in Nordamerika sich ja auch zum Teil von England losgesagt haben und die Vereinigten Staaten von Amerika gegründet haben. „Warum wandern Sie dann nicht dorthin aus?" möchte ich jeden fragen, der dieses Argument vorbringt. Aber was weiß ich als Frau schon von der hohen Politik? Und bin ich nicht eine ehemalige Adelige und sowieso deswegen eine Außenseiterin, die von den Beerheimern ohnehin verdächtigt wird, immer noch Sympathien für ihre ehemalige Familie zu hegen? Ach, wenn die Leute nur endlich verstehen würde, dass ich mit meiner früheren Familie schon seit 1739 keinen Kontakt mehr gehabt habe, weil ich wegen meiner Heirat mit Paul wie eine Aussätzige behandelt werde!
Meine jetzige Familie fand es bislang auch gut, dass die Familie von Donnersberg quasi alle Brücken zu mir abgebrochen und mir nur die Kirschmühle geschenkt hat. Vor kurzem hat meine Tochter Marie, die Frau des derzeitigen Müllers der Kirschmühle, sogar zu mir gesagt: „Mama, du hast es richtig gemacht und rechtzeitig deine Familie rechtzeitig verlassen! Du kannst dir gar nicht vorstellen, was die Leute sich über die Grafenfamilie erzählen!"
„Was sagen Sie denn?", habe ich gefragt, obwohl mir viele Vorwürfe längst bekannt waren.
„Dass die Gräfin Anna sich nicht um das Wohl ihrer Untertanen schert und sie nur ausbeutet, um selbst ein unvorstellbares Luxusleben leben zu können. Und dass sie alle unterdrückt, die ihre Politik kritisieren, sogar ihren Sohn, den eigentlichen Grafen. Einige ihrer Gegner hat sie sogar schon ins Gefängnis werfen lassen."
„Ja, sie ist aber weder die erste noch die einzige Herrscherin, die so vorgeht", sagte ich und seufzte. Politik interessierte mich nicht, auch wenn ich Anna aus der Ferne immer bewundert habe: Für sie als Frau konnte es nicht leicht gewesen sein, sich überhaupt gegen all ihre Berater durchzusetzen, von den anderen Fürsten ernstgenommen zu werden und gleichzeitig eine gute Politikerin zu sein. Denn obwohl ich sie als Mensch noch nie gemocht habe, schätze ich ihre Arbeit, insbesondere ihren Einsatz für die Witwen und Kinder aus der Gegend und die Art und Weise, wie sie Bauprojekte vorangetrieben hat, durchaus.
Allerdings hätte ich nicht damit gerechnet, Anna noch einmal im Leben persönlich zu treffen. Bis vorgestern.
Draußen war es stockdunkel, und alle Bewohner der Kirschmühle waren längst im Bett, als ich mitten in der Nacht aus dem Schlaf aufschreckte. Ich schlafe in der Wohnstube der Mühle in der Nähe des Hofes und höre die Geräusche aus dem Hof somit immer als Erste. In diesem Fall hörte ich Hufe und Pferdegewieher. „Das kann nicht sein! Wer kommt uns schon um diese Stunde besuchen?", dachte ich bei mir und stand langsam auf, um den Vorhang beiseite zu ziehen. Mein Herz raste vor Aufregung, weil ich damit rechnete, dass die Bauern aus der Gegend gekommen waren, um die Mühle anzuzünden. Die Kirschmühle war ihre Bannmühle war und somit ein Zeichen ihrer Unfreiheit: Denn sie mussten auf Gedeih und Verderb unser Mehl kaufen. Für eine Sekunde überlegte ich sogar, ob die Geschichte von dem kopflosen Reiter, den ein Kind einige Jahre zuvor in der Nähe der Ruinen von Nußbach gesehen haben wollte, nicht doch stimmen konnte. Allerdings konnte ich im Kopf niemanden erkennen, auch wenn ich von dort weiterhin Geräusche wahrnahm.
Doch dann fuhr ich plötzlich zusammen, als ich die Stimme eines Mannes hörte: „Sind Sie sicher, dass das eine gute Idee ist, liebe Gräfin? Sie wissen doch nicht einmal, ob Ihre Bekannte noch lebt."
Die Antwort kam direkt, und ich erkannte ihre Stimme sofort, obwohl sie älter und reifer klang als früher: „Wenn sie noch lebt, dürfte sie die einzige Person sein, die mich niemals verraten würde."
Mein Herz tat einen Sprung und schlug so schnell, dass ich fast befürchtete, dass ich gleich tot umfallen würde. Von Angst gepackt, fragte ich mich, ob Anna uns alle ins Verderben stoßen wollte. Wenn ihr jemand gefolgt war oder wenn gar die Franzosen erfuhren, dass sie hier war, würden wir alle als Verräter der glorreichen Revolution gelten und sterben. Und erst gestern hatte ich gehört, dass die französischen Soldaten anscheinend keine fünf Kilometer von der Kirschmühle entfernt ihr Lager aufgeschlagen hatten.
Plötzlich vernahm nicht nur ich ein lautes Klopfen an der Tür und eine männliche Stimme, die laut rief: „Aufmachen! Wir brauchen dringend Hilfe!"
Unfähig, mich zu bewegen, verharrte ich in einer Schockstarre.
Aber Julius, mein Schwiegersohn, war bereits zur Stelle. Mit einer Schrotflinte in der Hand eilte er im Nachthemd aus dem Schlafzimmer und öffnete die Tür, die den Wohnbereich der Mühle mit dem Flur und damit der Haustür verband. Hinter ihm eilte Marie aus dem Zimmer. Sie war kreidebleich und hatte offenbar große Angst „Was wollen Sie von uns mitten in der Nacht?", fragte Julius.
In diesem Moment ergriff Anna das Wort. Mit einer wenig verängstigt, sondern eher souverän klingenden Stimme fragte sie: „Ist Frau Sophie Bubel zu sprechen?"
„Wer sind Sie?", fragte Julius und wirkte sehr verblüfft. Er hatte wohl mit Dieben oder Mördern gerechnet, aber nicht damit, dass eine Frau mitten in der Nacht seiner Schwiegermutter besuchen wollte.
„Ich bin eine alte Bekannte von ihr", erwiderte Anna. „Sind Sie der Schwiegersohn von Paul Bubel?"
„Mein Vater ist schon seit über zwanzig Jahren tot", sagte Marie plötzlich in einem Ton, der nicht minder herrisch klang als der von Anna. Meine Tochter hatte immer schon ein Temperament, das sich zwar für die Enkeltochter eines Grafen ziemte, nicht jedoch für die Tochter eines einfachen Müllers. „Wenn Sie mit seiner Witwe reden wollen, sollten Sie mir Ihren Namen verraten."
„Anna", sagte ich plötzlich. „Die Frau, die mich sprechen will, ist die Gräfin. Öffnet die Tür!"
Sofort wurde Marie noch bleicher im Gesicht, und auch Julius wirkte so, als müsse er sich gleich bekreuzigen, weil er damit nicht gerechnet hatte. Als Julius schließlich die Tür geöffnet und die beiden mysteriösen Besucher ins Haus gelassen hatte, erkannten sie sogleich, dass es sich um einen Mann, der seine Dienstbotenuniform unter einem weiten Umhang verbarg, sowie um ältere Frau handelte. Sie trug zwar die schäbigen Kleider einer Bäuerin, aber als sie den Schal, den sie um ihr Gesicht gewunden hatte, ablegte, war für uns alle offensichtlich, dass das, was ich vermutet hatte, stimmte: Anna war natürlich älter geworden und hatte mittlerweile schneeweißes Haar und viele Falten im Gesicht, aber sie war es nichtsdestotrotz. Denn selbst jetzt, in einem Moment, in dem all ihre Macht verloren schien, hatte sie noch das stolze, herrische Auftreten einer wahren Aristokratin, und sie wirkte so, als ob es nichts gab, wovor sie Angst hatte.
Als ihr Blick auf mich fiel, musterte sie mich natürlich auch zuerst einmal, bevor sie sprach.
Ihr Begleiter sprach mich daher zuerst an und tat dies in einer ausgewählt höflichen Manier. „Verehrte Dame, entschuldigen Sie die Störung mitten in der Nacht. Aber ich nehme an, dass Sie Frau Sophie Bubel sind?"
Ich nickte. „Und ich nehme an, dass Sie gekommen sind, weil das Kastellburger Schloss den Franzosen in die Hände gefallen ist."
„Wir sind von dort weg, weil wir gehört haben, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis ganz Kastellburg in französischer Hand ist", erklärte der Mann.
Ich schloss meine Augen, als ich das hörte. Dass so etwas passieren konnte, war nur ein Gedanke, der mir in den Sinn gekommen war. Dass das Schloss meiner Familie nun vielleicht sogar zerstört werden würde, war etwas, was ich mir eigentlich nicht vorstellen wollte.
An dieser Stelle unterbrach Anna ihren Begleiter und redete mich direkt an. Auch ihre Stimme klang natürlich reifer: Es war die Stimme einer Person, die es gewohnt war, sehr viel Macht zu besitzen und entsprechend viele Befehle zu geben. „Der Stadtrat von Kastellburg wollte mich deshalb verhaften und den Franzosen übergeben. Sophie, Sie können Sich gar nicht vorstellen, was für Verräter das sind! Gestern Mittag erst haben sie mir versichert, dass Kastellburg natürlich den Grafen von Donnersberg seine Treue halten wird und man natürlich an der Seite meines Sohnes steht, der gerade dabei ist, in der Pfalz zusätzliche Söldner anzuheuern. Und schon wenige Stunden später haben sie versucht, seine Abwesenheit auszunutzen und die Grafschaft auf hinterhältige und verräterische Weise dem Feind zu übergeben."
Wir ließen sie ausreden, weil sie zum einen die Gräfin war und es sich nicht geschickt hätte, sie zu unterbrechen, und weil andererseits so viel Hass in ihren Worten mitschwang, dass wir nicht recht wussten, was wir sagen sollten. Es war mir klar, dass der Kastellburger Stadtrat wahrscheinlich versucht hatte, eine Zerstörung der Stadt und ein Blutbad unter seiner Bevölkerung zu verhindern, zumal die Franzosen einer verhältnismäßig kleinen Grafschaft wie der unseren in militärischer Hinsicht gnadenlos überlegen waren.
„Und warum sind Sie hierher gekommen?", fragte meine Tochter Marie Anna und ihren Begleiter.
„Die Gräfin braucht einen sicheren Ort, an dem sie sich verstecken kann, während ich ihre Flucht organisiere", stellte der Mann fest.
„Ihnen dürfte allerdings klar sein, dass Sie unsere ganze Familie dadurch in Gefahr bringen, oder?", wandte mein Schwiegersohn ein. Er wirkte sehr betroffen: Die Farbe war aus seinem Gesicht gewichen angesichts einer solchen Forderung.
„Das bedeutet, Sie wollen uns nicht helfen?", fragte der Mann.
„Doch!", erwiderte ich plötzlich.
„Mutter, bitte, ahnen Sie die Gefahr denn nicht?", flehte mich Julius regelrecht an.
„Die Gräfin ist die Witwe meines Bruders und gehört somit zur Familie", sagte ich in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Damit war die Entscheidung gefallen. Die Welt, aus der Anna und ich stammten, war gerade dabei, wie ein Kartenhaus in sich zusammenzufallen. Was in der Gegenwart geschah, war etwas, was Anna wahrscheinlich genauso wenig verstand: Untertanen, die sich gegen ihre Herren auflehnten und ihre Menschen- und Bürgerrechte einforderten? Wann hatte es das zuletzt gegeben? Dadurch war es ungewiss, wie die Zukunft aussehen würde. Die Gegenwart ließ allerdings das Schlimmste befürchten. Auch wenn Annas herrischer Blick befürchten ließ, dass sie noch nicht ganz begriffen hatte, dass sie kurz davor stand, alles zu verlieren, und von Glück würde reden können, wenn sie mit dem Leben davonkam. Auch wenn die Familie von Donnersberg den Kontakt zu mir vor langer Zeit abgebrochen hatte, konnte ich nicht anders, als mich in dieser Situation solidarisch zu verhalten und Anna zu helfen.
Später, als Annas Begleiter wieder aufgebrochen war und Marie und Julius sich wieder schlafen gelegt hatten, saßen Anna und ich bei einer Kerze in der Wohnstube beisammen. „Sie haben Sich hier also Ihr eigenes Reich aufgebaut", stellte Anna plötzlich fest, nachdem sie lange geschwiegen und sich in ihrer Umgebung umgeschaut hatte. „Einen Ort, an dem sogar der Müller tun muss, was Sie sagen."
Ich lachte unwillkürlich. Vielleicht war das eine unangemessene Geste angesichts der Gefahr, in der wir uns befanden. Aber ich konnte nicht anders. „Nein, ich bin nur die Älteste im Haus."
„Dann geht es Ihnen so wie mir. Mein Sohn, der Graf, ist so unselbstständig... Ich habe ihn zu sehr verwöhnt. Wenn er nur ein bisschen strenger mit dem Stadtrat verfahren wäre und all die rechtzeitig bestraft hätte, die französisches Gedankengut in Kastellburg verbreitet haben, wären wir jetzt nicht in dieser Situation!", meinte Anna. „Aber Fehler lassen sich im Nachhinein halt nicht mehr ändern."
„Genau."
Nach einer kurzen, aber durchaus aussagekräftigen Pause wechselte Anna das Thema. „Schon seit langer Zeit habe ich mich etwas gefragt, und ich hoffe, ich trete Ihnen nicht zu nahe mit dieser Frage. Aber war es all das wert?"
Ich verstand sofort, dass ihre Frage sich auf den Bruch mit meiner Familie und meine Ehe mit Paul bezog. Deshalb erwiderte ich, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken: „Ja."
„Vielleicht haben Sie damals das Richtige getan, ohne dass Sie voraussehen konnten, wie sich die Dinge entwickeln würden", räumte Anna ein. „Immerhin werden Ihre Nachfahren womöglich die einzigen Nachfahren der von Donnersbergs in der Region sein, und das Haus hier könnte länger stehen als das Kastellburger Schloss."
Als der Morgen dämmerte und zu befürchten stand, dass bald die ersten Kunden vorbeikommen würden, versteckten wir Anna im Stall, allerdings in dem Bereich, wo die Heuballen gelagert wurden, und nicht etwa bei den Pferden, Kühen, Hühnern und Schweinen. Es war nichtsdestotrotz ein kurioser Anblick. Es dauerte allerdings nicht lange, bis mit den ersten Beerheimern, die Mehl kaufen wollten, auch die Kunde kam, dass die Gräfin geflohen war und das Schloss gerade von den Bürgern von Kastellburg geplündert wurde. Zahllose Beerheimer waren bereits aufgebrochen, um aus dem Kastellburger Schloss all das mitzunehmen, was in ihre Taschen und auf ihre Karren passte.
Das war zwar zu erwarten gewesen. Nichtdestotrotz rastete Anna aus und beschimpfte ihre Untertanen als „Pack" und „Pöbel", als Marie ihr davon berichtete und sie fragte, ob wir uns bemühen sollten, Gegenstände aus dem Schloss zu retten. Anna hatte es geschafft, vor ihrer Flucht ihren wertvollsten Schmuck in den Taschen ihrer Bauerntracht zu verstecken, und verkündete deshalb großmütig: „Nein! Dinge, die der Pöbel angefasst hat, will ich nicht haben!"
Als Julius mir die Frage stellte, ob es etwas in dem Schloss oder in der Petite Maison gab, deren Plünderung wohl zeitgleich vonstatten ging, atmete ich tief ein und schüttelte zunächst den Kopf. Ich dachte nicht, dass ich noch ein Recht auf die Gegenstände aus den beiden Häusern hatte.
Allerdings hatte die Gräfin meiner Tochter jedoch erzählt, dass mein altes Zimmer im Schloss ein Raum war, den weder meine Eltern noch mein Bruder nach meiner Heirat mit Paul je verändert hatten. Es waren außerdem zwar alle Dokumente, die darauf hinwiesen, dass die Grafentochter Sophie von Donnersberg je existiert hatte, zerstört worden, nicht jedoch das Tagebuch, welches Anna zuletzt in meinem Schreibtisch im Schloss gesehen hatte. Anna konnte Marie nicht erklären, wie es dorthin gelangt war, obwohl ich mir sicher war, dass ich es in der Petite Maison zurückgelassen hatte. Sowohl Julius als auch Marie wussten, dass es noch viele ältere Leute gab, die noch lebten und die Wahrheit über meine Herkunft kannten. Da es aber nur noch das Tagebuch gab, welche diese definitiv belegen konnte, dauerte es nicht lange, bis mein Schwiegersohn zu der Auffassung gelangte, dass das Tagebuch unbedingt aus dem Schloss geholt werden musste, bevor Kastellburg in die Hände der Franzosen fiel und wir möglicherweise unseres Lebens nicht mehr sicher waren. Daher brach Julius mit dem Wagen panisch in Richtung Kastellburg auf und konnte nur hoffen, dass der Schreibtisch noch nicht gestohlen worden war.
Nachdem Julius aufgebrochen war, kam auch der Begleiter der Gräfin zurück. Er hatte einen Wagen und Pferde organisiert und wollte damit mit ihr über die Grenze nach Zweibrücken flüchten.
„Geben Sie die Hoffnung nicht auf!", sagte die Gräfin beim Abschied zu Marie und mir. „Denn ich bin mir sicher, dass ich eines Tages nach Kastellburg zurückkommen werde!"
„Wir werden für Sie beten!", erwiderte ich.
Marie bekam als „Bezahlung" und Dank für ihre Hilfe einen goldenen Ring von Anna. „Ein Familienerbstück", erklärte sie. „Ich bin mir sicher, dass seine Trägerin gewollt hätte, dass der Ring in der Familie bleibt." Es war der Trauring von Maman.
Ich habe Julius selten so erleichtert gesehen wie in dem Moment, als er viel später, nämlich am späten Nachmittag, aus Kastellburg zurückkam und den ganzen Schreibtisch auf den Wagen geladen hatte. Er passte natürlich kaum auf den Wagen, so groß war er. Als ich ihn sah, war es, als ob ich ein Objekt aus einer anderen, längst vergangenen Zeit vor mir hätte. Auf mich wirkte er fast schon so alt wie eine römische Götterstatue. Es dauerte Stunden, bis wir ihn vom Karren geladen und in der Wohnstube aufgestellt hatten, die der größte Raum der Mühle ist, aber eigentlich im Verhältnis zu klein ist für einen derartig großen, prächtigen Schreibtisch.
Im Geheimfach des besagten Schreibtisches habe ich jedoch Dich, liebes Tagebuch, wiedergefunden. Irgendwer aus meiner Familie hat Dich also gefunden und Dich dorthin gelegt, nachdem er oder sie Dich vielleicht sogar gelesen hat. Und aus irgendeinem Grund, den ich mir selbst nicht erklären kann, ist es mir jetzt doch wichtig, dass Du gerettet wurdest und Dich wieder in meinen Händen befindest.
(37402 Wörter)
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