12. Mai 1739, 5 Uhr morgens
Nach meinem Gespräch mit dem Pfarrer war mir eines klar: Ich musste dringend von hier weg! Hier war ich nicht sicher, denn meine Familie würde mich nicht etwa vor dem Baron beschützen, sondern drang sogar noch auf eine Heirat mit ihm. Folglich musste ich weglaufen und irgendwie versuchen, Paul zu erreichen. Wahrscheinlich war er inzwischen auf seine Arbeitsstelle zurückgekehrt. Wie nur konnte ich unbemerkt zur Mühle gelangen?
Ich lag die ganze Nacht wach und überlegte mir einen Plan. Zuerst einmal musste ich es schaffen, meine Eltern davon zu überzeugen, dass ich keine „Gefahr" mehr darstellte.
Daher bat ich sie am nächsten Morgen um eine Unterredung. Beide wirkten sehr kühl, als wir uns in Papas Arbeitszimmer trafen.
„Maman, Papa, der Pfarrer hat mir aufgezeigt, dass ich einen großen Fehler begangen habe. Dafür möchte ich mich entschuldigen", fing ich an. Es schmerzte mich, sie dermaßen anlügen zu müssen. Aber es ging in dieser Situation halt nicht anders.
„Ach ja? Diesen Eindruck hatte der Pfarrer gar nicht. Er meinte, du wärst eine verlorene Seele!", stellte Maman fest.
„Jedenfalls möchte ich meinen Fehler korrigieren, indem ich den Baron heirate." Das waren genau die Worte, die ich eigentlich nie über die Lippen hatte bringen wollen. Ich konnte nur hoffen, dass ich in der Lage war, sie überzeugend vorzutragen. Natürlich hatte ich nicht vor, meinen Worten Taten folgen zu lassen und Papas Freund wirklich zu heiraten.
„Endlich wirst du vernünftig!", rief mein Vater aus. Es war, als ob ein Stein von seinem Herzen gefallen war: Selten hatte er einen derartig erleichterten Eindruck auf mich gemacht.
Maman wirkte überrascht, wobei man ihr anmerkte, dass sie nicht recht zu wissen schien, was sie von meinem plötzlichen Sinneswandel halten sollte und noch eine vorsichtige Distanz zu mir wahrte. „Bist du dir wirklich sicher, dass das dein Wunsch ist? Eine Heirat ist schließlich nichts, was man später so einfach rückgängig machen kann."
„Das weiß ich doch", meinte ich. „Aber ich möchte Euch andererseits auch nicht enttäuschen."
„Dann ist es also eine beschlossene Sache: Du wirst Max heiraten", sagte Papa und strahlte plötzlich vor Freude. „Und du wirst schon sehen, dass er ein guter Mann ist."
Mein vermeintlicher „Auserwählter", Max von Piepstein, fasste die Nachricht von meinem Sinneswandel sehr gelassen auf. Er schien schon damit gerechnet zu haben, dass man es geschafft hatte, mich bezüglich der angedachten Heirat umzustimmen. Denn er verzog nicht einmal die Miene und stellte auch keine Fragen, als ich den Salon zum ersten Mal seit mehreren Tagen in Begleitung meiner Eltern betrat, um ihm meine Entscheidung mitzuteilen. Alles, was er tat, war, von einem Brief aufzusehen, den er gerade schrieb, und sodann auch die Feder aus der Hand zu legen.
Als ich ihn ansprach, musste ich meine gesamten Schauspielkünste aufbieten, um überzeugend zu wirken, da ich ihn am liebsten geohrfeigt hätte (Die Spuren von Pauls Faustschlag waren nämlich noch immer sichtbar und erinnerten mich an das, was am Weiher passiert war). Irgendwie schaffte ich es trotzdem, regelrecht schmeichlerisch aufzutreten und zu sagen: „Lieber Baron, ich möchte mich für mein Verhalten in letzter Zeit entschuldigen. Es war unangemessen und einer erwachsenen Frau von 18 Jahren nicht würdig."
Nun war es an ihm, scheinbar großmütig aufzutreten, wobei mir nicht klar war, ob er das, was er sagte, auch wirklich so meinte. „Das ist längst vergessen!"
„Jedenfalls habe ich nach reiflicher Überlegung entschieden, Ihren Heiratsantrag anzunehmen. Ich möchte Ihre Frau werden, sofern Sie Ihren Antrag nicht zurückziehen möchten." Warum ich den letzten Halbsatz hinzufügte, wusste ich selbst nicht. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Maman entgeistert die Hand vor den Kopf schlug und Papa ebenfalls entsetzt kurz die Augen schloss.
Ihre Sorge war jedoch unberechtigt. „Wieso sollte ich den Antrag zurückziehen wollen?", fragte der Baron. „Wenn Sie mich heiraten wollen, liebe Gräfin Sophie, dann sehe ich keinen Grund, weshalb nicht alles andere vergeben und vergessen sein sollte und weshalb ich Sie nicht zu der glücklichsten Frau weit und breit machen sollte, indem ich Sie zu meiner Frau mache."
Allein die Vorstellung, dass seine Frau die „glücklichste Frau weit und breit" sein sollte, führte fast dazu, dass ich ihm bescheinigt hätte, dass er so sehr von sich eingenommen war, dass er nicht erkannte, dass ich ihn nicht aus freien Stücken heiraten wollte und dass ich nicht vergessen hatte, dass er mich erst vor wenigen Tagen bedroht hatte. Eigentlich hätte es offensichtlich sein müssen, dass ich ihnen allen meine Zustimmung nur vorspielte: Welche Frau konnte schon eine solche dumme Gans sein und sich so verhalten? Aber sowohl meine Eltern als auch der Baron waren scheinbar dermaßen erfreut darüber, dass ich zum ersten Mal einer Heirat zugestimmt hatte, dass sie darüber hinwegsahen, wie viel mir Paul bedeutet hatte. Sogar mein kleiner Bruder war froh über die anstehende Verbindung. „Wenn Sophie deinen Onkel heiratet, kann ich dich öfter sehen. Dann gehörst du ja zur Familie!", sagte er zu Anna, die mich misstrauisch beäugte und alles andere als glücklich darüber schien, dass ich bald ihre Ersatzmutter werden würde. Ich empfand an diesem Abend fast schon Mitleid mit dem Mädchen: Schließlich hatte sie doch so viel dafür getan, um genau das zu verhindern und ihren Onkel für sich zu behalten! Und jetzt sollte das alles umsonst gewesen sein?
Dass ich gar nicht vorhatte, den Baron zu heiraten, und stattdessen meine Flucht vorbereitete, war ihnen allen jedoch nicht klar. Gegen Ende des Abends hatte ich sie viel gelogen, dass ich sogar damit durchkam, ein falsches Lächeln aufzusetzen, wenn von der Hochzeit die Rede war, die natürlich im ganz großen Stil gefeiert werden sollte mit vielen Gästen, einer riesigen Torte, einem noch größeren Feuerwerk und dem schönsten Brautkleid, dass je jemand außerhalb von Schloss Versailles gesehen hatte. In Wirklichkeit freute ich mich natürlich, dass es so einfach gewesen war, alle an der Nase herumzuführen.
In der Nacht wartete ich gut drei Stunden, nachdem alle ins Bett gegangen waren, bevor ich geschwind mein Zimmer verließ. Es wurde nun nicht mehr bewacht, da ich ja anscheinend meinen Widerstand gegen die Heirat mit dem Baron aufgegeben hatte und gar kein Grund mehr dafür bestand, mir zu verbieten, mein Zimmer zu verlassen.
Das Haus war um diese Zeit so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören. Deshalb musste ich mich langsam und zeitweise auf meinen Zehenspitzen durchs Haus bewegen und darauf achten, gegen kein Möbelstück zu stoßen, das auf dem Flur stand, und auch nicht gegen das Treppengeländer, das ins Erdgeschoss führte. Da sämtliche Kerzen schon vor Stunden gelöscht worden waren, war das in der Dunkelheit gar nicht so einfach.
In der Nähe der Küche war ein Raum, in dem die Dienstboten, die von außerhalb kamen, ihre Uniformen aufbewahren konnten. Vorsichtig öffnete ich die Tür, die natürlich anfing zu quietschen. Flugs schaute ich um mich und atmete schließlich erleichtert auf, als feststellte, dass ich noch immer nicht entdeckt worden war. Da mein Herz jedoch vor Aufregung raste, beschloss ich, keine Minute zu verlieren und mich nicht erst umzuziehen, sondern mich erst hinter irgendeinem Gebüsch meines Nachthemds zu entledigen, wenn ich die Petite Maison bereits hinter mir gelassen hatte. Denn mitten in der Nacht war ja nicht zu erwarten, dass noch irgendwer aus Neuheim unterwegs war. Und wenn man mich sah, würde man mich wahrscheinlich eh für einen Geist halten! Die Menschen hier waren schließlich sehr abergläubisch.
Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte, war, dass auch unsere Wachen ihre Geheimnisse haben. Wie hätte ich auch ahnen können, dass die Reste des Abendessens nicht etwa weggeworfen, sondern später in aller Heimlichkeit vom Personal verspeist werden? Ehrlich gesagt, darüber hatte ich mir noch nie Gedanken gemacht.
Jedenfalls wollte ich durch die Küche ins Freie flüchten und bin in der Küche fast mit einem Wachmann zusammengestoßen, der genüsslich die Reste des leckeren Erdbeerkuchens verspeiste, die wir übrig gelassen hatten. Er sah überrascht auf, als ich plötzlich vor ihm stand, und fragte verwundert: „Gräfin Sophie, was tun Sie denn hier?"
(31853 Wörter)
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