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Ein Klingeln riss uns kurze Zeit später aus unserer Unterhaltung. Luna hatte die komplette Geschichte des Nachtreichs zum Besten gegeben und nun war Paul dazu übergegangen, Fragen zu stellen. Als er das Klingeln hörte, erhob er sich und ging zur Tür, um seine Eltern reinzulassen.
Luna, die während ihrer Erzählung ihre Flügel herbeigerufen hatte, um Paul von der Echtheit der Natesim zu überzeugen, zog ihre Energie nun wieder zu sich zurück.
Als Pauls Eltern ins Wohnzimmer traten, begrüßten sie uns reihum, sahen aber nicht sehr glücklich darüber aus, dass sich Ade und Sverre unter diesen Umständen bei ihnen meldeten.
Ihr Verhältnis mit den Oberhäuptern von Tag und Nachteich war auch noch um einiges schlechter als das meiner Eltern. Pauls Eltern waren die ersten gewesen, die damals aus den Reichen verband wurden. Sie hatten keine Ahnung, was danach noch alles passiert war, weshalb wir auch ihnen all das erzählen mussten, was seit Pauls Geburt passiert war.
Da fiel mir noch etwas auf. Damals waren es nicht „die Reiche." Es war nur ein Reich. Das TagNachtReich.
Erst, nachdem sie verbannt wurden, kam es zum großen Streit zwischen Tag und Nachtvolk, aus dem die zwei Reiche entstanden.
Paul staunte nicht schlecht, als seine Eltern mit uns ins Gespräch kamen und plötzlich perfekt Deutsch konnten. Auch ich fand es krass, dass sie den Akzent ihrem Sohn all die Jahre vorspielen konnten.
Die zwei hatten sich uns als Nash und Talisa Fox vorgestellt und sie waren mir sofort sympathisch gewesen. Auch wenn sie uns skeptisch musterten und sich nicht von ihrer freundlichsten Seite zeigten, spürte ich, dass hinter ihrer Schale nette Menschen steckten.
Nachdem auch Nash und Talisa sich einen Stuhl geholt hatten, fing Pauls Mutter an zu sprechen. „Also, wie kommt es, dass Sverre und Ade und jetzt brauchen?", fragte sie, nachdem wir ihnen erzählt hatten, was alles passiert war, seit sie das TagNachtReich verlassen haben.
„Ade wurde von einem Feuerbändiger kontrolliert und danach wusste sie, dass auch das Nachtreich nicht mehr sicher ist. Sie hat akzeptiert, dass Pia und Marie bei ihr einziehen und angefangen, die Auserwählten zu untersuchen. Wir haben etwas entdeckt, mit dem wir die Erde vielleicht retten können, aber dafür brauchen wir alle Auserwählten", erklärte Luna ihr.
„Das heißt, Paul soll ins Nachteich kommen?"
„Ja, dass wäre schön. Ihr seid alle herzlich willkommen im Palast zu wohnen. Während wir die anderen Auserwählten suchen gehen, könntet ihr schon mal mit Paul und den Wissenschaftlern ein paar Experimente machen. Natürlich wird Paul dabei nichts passieren. Alles ist sicher."
Der zwanzigjährige Auserwählte blickte immer wieder von seinen Eltern zu uns und konnte offensichtlich nicht glauben, was gerade in seinem Leben passierte. Ich sah das und fühlte mich plötzlich unwohl, denn in dieser Situation hatte ich mich auch erst vor kurzer Zeit befunden. Dieser Unglaube, dass Begierde nach mehr und in gewissen Teilen auch die Wut, sein ganzes Leben angelogen worden zu sein. Es war einfach zu viel, um es schnell verarbeiten zu können.
Deshalb sprach ich ihn direkt an: „Was sagst du dazu, Paul? Kannst du dir vorstellen, mit in dieses fremde Reich zu kommen und versuchen, uns zu helfen?"
Ich vermied Wörter wie Herkunft oder Zukunft. Paul fühlte sich nicht so, als würde er aus den Reichen kommen und er sollte selbst bestimmen, was er in der Zukunft machen wollte.
Zu meiner Überraschung lächelte er aber. „Ich denke schon. Ich blicke noch nicht ganz durch, aber wenn es darum geht, die Welt zu retten, bin ich dabei."
Sein Vater lachte. „Ihr müsst zu dieser Aussage auch den Hintergrund kennen. Der Grund, warum er heute Morgen überhaupt hier war und nicht bei der Arbeit, ist, dass er seit seinem Abi nichts gemacht hat, außer Computer zu spielen. Dabei ist er leider ziemlich erfolgreich, sodass wir es ihm nicht verbieten können."
„Und in diesen Spielen rette ich auch dauernd die Welt. Dann werde ich das in echt auch schaffen." Paul klang viel zuversichtlicher, als ich es erwartet hätte.
Als ich meine Reisegruppe ansah, merkte ich, wie alle strahlten. Den ersten Auserwählten hatten wir schon mal überzeugen können. Jetzt mussten wir die Familie nur noch das bringen, das wir heute hier schlafen konnten.
„Das ist super. Wir werden Ade gleich Bescheid sagen. Ich weiß, dass ist gerade alles sehr viel und sehr schnell, aber denkt ihr, in einer Stunde könntet ihr aufbrechen?", fragte Luna.
„Klar." Talisa nickte sofort. „Wenn Paul bis dahin seine Flügel erzeugen kann, sind wir in einer Stunde weg. Ich kann gar nicht glauben, dass das gerade wirklich passiert. Nash und ich haben so oft gehofft, dass sich das TagNachtReich dazu entscheidet, mit den Auserwählten zu arbeiten."
„Vielen Dank" Ich konnte gar nicht sagen, wie glücklich ich über den Verlauf des Tages war. Dass alles so gut funktionierte, grenzte an ein Wunder. „Ich werde mit Ade reden", entschied ich schnell. Da konnte ich gleich mal austesten, wie weit meine Seelenverbindung-Kräfte schon waren. Wenn das jetzt auch klappen würde, wäre der Tag echt perfekt.
Während sich die anderen nun um unsere Übernachtungs-Möglichkeit kümmern mussten, ging ich aus dem Raum und sah mich um. Rechts ging es in die Küche und links schien ein Bad zu sein. An einer Wand des Flurs stand ein Stuhl, auf den ich mich setzte. Dann konzentrierte ich mich auf meine Energie und schließlich auf Ade.
„Pia, bist du das?" Erstaunlich schnell hatte ich es geschafft, Ades Seele zu finden. Es war das erste Mal, dass ich versucht hatte, eine Person zu erreichen, die nicht direkt neben mir war. Dafür hatte es erstaunlich gut funktioniert.
„Ja. Wir haben es geschafft, Paul in alles einzuweihen. Er ist auf unserer Seite. Seine Eltern würden so in einer Stunde mit ihm zu euch aufbrechen."
„Das ist großartig, Pia! Gut gemacht! Wir werden sie erwarten. Könnt ihr bei ihnen schlafen?"
„Ich denke schon, aber das bereden wir gerade erst."
„Gut. Für morgen ist dann vorgesehen, dass ihr mit dem Zug bis nach Warschau fahrt. Dort in der Nähe wohnt Liam Bradbury. Sverre hatte Valerian die Tickets gegeben."
„Was ist mit den Refortenrüstungen? Sind die nicht ein bisschen zu auffällig für eine Zugfahrt?"
„Das stimmt. Cyan hat für jeden etwas dabei, aber falls das Drew oder einem der Jungs nicht passen sollte, könnt ihr Paul fragen. Ich bin sicher, irgendwo im Haus wird sich etwas finden lassen."
„Ok. Danke Ade."
„Ich habe euch zu danken, Pia. Seid vorsichtig."
Und mit diesen Worten kappte sie die Seelenverbindung.
Die Stunde verging wie im Flug. Wir erklärten Paul, wie er die Energie aus sich herausholen konnte und gaben ihm eine kurze Erklärung für die Seelenverbindung. Seinen Eltern erklärten wir, wie sie durch das Nachtreich zum Palast kamen.
Dann erzeugten Nash, der offensichtlich Pauls Elternteil aus dem Nachtreich war, mit Maries Hilfe ein Portal ins Nachtreich. Erst hatte auch ich mich dafür angeboten, doch schließlich hatte ich es Marie machen lassen. Wir wollten beide so viel wie möglich mit unseren neuen Kräften spielen, aber ich durfte ja bereits die Seelenverbindung mit Ade durchführen, deshalb überließ ich ihr, das Portal zu erzeugen.
Als die drei Foxs schließlich hindurchflogen, dankten sie uns und verabschiedeten sich winkend. Als sie sich schon fast aufgelöst hatten, sah ich, wie Paul Talisas Hand nahm.
Da überkam mich wieder die Traurigkeit. Auch Paul wurde jahrelang von seinen Eltern angelogen, aber offensichtlich hatte er ihnen schon verziehen.
Oder vielleicht erschien mir das auch nur so. Ich hatte meine Eltern auch schon umarmt, oder ihre Hand gehalten, obwohl ich sauer auf sie war. Meine Adoptiveltern. Die mir ebenfalls nie die Wahrheit erzählt hatten.
Auch wenn dieser Gedanke einen schlechten Beigeschmack hinterließ, war ich auf meine Familie nicht wirklich sauer. Moritz und Saphira waren diejenigen, die dafür gesorgt hatten, dass meine Herkunft immer ein Geheimnis blieb.
„Lasst uns zurück zum Haus fliegen. Vielleicht sieht uns sonst noch jemand", sagte Luna, nachdem wir lange Zeit das sich schließende Portal am Himmel beobachtet hatten.
Luna hatte recht. Wir waren zusammen mit den drei Foxs, Marie und Jugi über die Baumwipfel geflogen, um eine gute Stelle für das Portal zu finden. Die kleine Stadt, zu welcher Pauls Haus gehörte, begann nicht weit von uns entfernt, und wenn jemand aus einem höher gelegenen Fenster sehen würde, würde er uns wahrscheinlich entdecken.
Die Jungs und Drew hatten die Zeit genutzt, sich im Haus alltagstaugliche Klamotten anzuziehen.
Paul hatte ihnen etwas bereitgelegt, falls etwas fehlte oder nicht passen sollte.
„Ich hoffe, sie finden den Weg zum Palast", sagte ich noch, bevor ich mich von der Stelle abwendete, an der eben noch das Portal in der Luft geschwebt war, und zurück zur Erde flog.
„Natürlich." Luna war wie immer optimistisch. „So gut, wie ich es ihnen eben beschrieben habe, werden sie definitiv an ihrem Ziel ankommen."
Marie grinste. „Wie immer sehr bescheiden von dir."
„So bin ich eben." Luna strahlte. „Und wenn nicht können sie immer noch eine Seelenverbindung mit Ade erzeugen, damit die ihnen weiterhelfen kann."
Wir lachten. Es war ein schönes Gefühl mal wieder frei und ungezwungen zu lachen.
„Und was machen wir den Rest des Abends?", fragte ich die beiden.
„Wir könnten einen Film gucken", schlug Jugi vor.
„Oder wir spielen was", sagte Luna. „Als ich mit Talisa telefonieren war, habe ich einen großen Spieleschrank gefunden. Tabu, Activity, Trivial Pursiut, alles was ihr wollt."
„Spielt ihr in den Reichen auch Trivial Puriut?", fragte ich gespannt. „Was habt ihr denn dann für Fragen?"
„Andere als ihr auf jeden Fall." Jugi lachte. „So was wie: Wer entdeckte die Seelenkontrolle? Wie hieß der fünfte König des vereinigten Reiches? Wer schrieb das Buch - fünf Seelen fünf Verbindungen -?"
„Das heißt, außer Marie und mir werden alle schlecht in diesem Spiel sein, weil wir hier nur die Erdausgabe haben?" Plötzlich hatte ich total Lust auf das Spiel. Normalerweise verlor ich immer und so hatte ich wenigstens mal eine reelle Chance auf den Sieg.
Luna lachte. „Ja, dass würde ein ziemlich einseitiges Spiel werden. Ich hätte das nicht erwähnen sollen. Wir spielen definitiv etwas anderes."
„Ach man." Ich machte ein bedauerndes Gesicht. „Endlich mal ein Spiel, das ich gewinnen würde."
Wir waren nun wieder am Erdboden angekommen und liefen auf das Haus zu. Wir hatten den Reforten gesagt, dass sie, wenn sie sich fertig umgezogen hatten, uns die Tür öffnen sollten.
Diese stand nun offen, weshalb wir uns nach drinnen begaben.
Keiner war im Wohnzimmer zu sehen, weshalb Luna sich aufmachte, um Lance zu suchen.
Wir drei anderen standen etwas unbeholfen herum. Wir wussten nicht so genau, was wir jetzt machen sollten. Wo oder wie wir anfangen konnten, den Rest des Tages zu verbringen.
„Vielleicht könnte ich uns etwas kochen", schlug Marie vor.
Jugi nickte. „Ich helfe dir. Mrs. Fox sagte doch, dass wir uns an ihrem Vorrat in der Speisekammer bedienen können. Jetzt bleibt nur die Frage, wo sich diese befindet."
„Wahrscheinlich bei der Küche, und die ist auf der rechten Seite, wenn du den Flur betrittst." Ich deutete auf die Tür, die das Wohnzimmer vom Flur trennte.
Marie und Jugi machten sich auf den Weg, um uns etwas zum Abendessen zuzubereiten, weshalb ich jetzt allein im Wohnzimmer herumstand.
Das war nicht gut. Sobald ich allein war, überkam mich die Traurigkeit. Also musste ich wohl oder übel Marie und Jugi folgen, obwohl ich zum Kochen definitiv kein Talent hatte.
Als ich gerade losgehen wollte, betraten Cyan und Valerian das Zimmer. Sie lachten und setzten sich in die zwei gemütlichen Sessel, sodass ich mich jetzt noch dümmer fühlte, wie ich da in der Gegend rumstand. Ich entschied mich, mich auch zu setzten, da alles besser war, als beim Kochen zu helfen.
„... wirklich eingeschlafen?" Erst zu spät versuchte ich der Unterhaltung der beiden zu folgen, weshalb ich nicht wirklich viel mitbekam.
„Ja. Unser Lehrer war außer sich." Wieder lachten die beiden, während ich nur verlegen grinste.
Sich fehl am Platz zu fühlen, war wohl auch nicht besser, als allein zu sein. Den Mut aufzubringen und zu fragen, was so lustig gewesen war, besaß ich nicht. Es würde sicher nur eine peinliche Verlegenheit über die Situation legen, und ich wollte den beiden ihren Spaß nicht verderben.
Stattdessen versuchte ich, immerhin jetzt aufzupassen.
Die Reforten erzählten über ihre Ausbildung, sodass ich zwar nicht mitreden, aber immerhin aufmerksam zuhören konnte. Ich merkte, dass Lance noch einiges bevorstand, wenn er wirklich ein richtiger Refort werden wollte. Falls wir überleben sollten, hatte er jedoch erst einmal vor, die Schule zu beenden. Dass hatte mir Luna vor ein paar Tagen erzählt.
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Es wurde doch noch spät. Nachdem alle wieder zurück ins Wohnzimmer gekommen waren, spielten wir Tabu und Activity - zu meinem Bedauern nicht Trivial Pursiut - und unterhielten uns danach noch lange. Während meiner gute Laune Phase sprach ich auch mit Marie. Sogar unsere Eltern konnte sie erwähnen, ohne das mir schlecht wurde.
Kurz vor Mitternacht verteilten wir uns auf die Schlafplätze im Haus. Jugi, Marie und ich gingen ins Schlafzimmer von Nash und Talisa und versuchten, uns dort zu dritt in das Bett zu quetschen.
Als ich schließlich einschlief, war es weit nach Mitternacht. Am Morgen stand uns wieder eine große Reise bevor, für die wir auch bereits um sieben am Bahnhof stehen mussten. Das bedeutete für mich, dass ich wieder um sechs aufstehen musste. Was eine Qual!
Ich musste mich wieder daran erinnern, wofür ich das frühe Aufstehen in Kauf nahm. Morgen würden wir Liam Bradbury über seine Herkunft aufklären, und das war wichtiger als meine kleinen Probleme.
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