𝑆𝑒𝑐ℎ𝑧𝑒ℎ𝑛
Schnell hatten wir den Supermarkt gefunden. Während Valerian jemanden suchte, bei dem wir unser Geld wechseln konnten, lief ich schon mal rein in den Laden und suchte nach dem Wasser. Die Reiche hatten eine Währung, die sich „Wira" nannte. Ade hatte es innerhalb des Tages vor unserer Abreise noch geschafft, uns Euro und Dollar aufzutreiben, doch andere Erd-Währungen mussten wir wechseln.
Am Eingang des Supermarkts stand ein Schild, auf dem anscheinend gekennzeichnet war, wo sich bestimmte Artikel befanden. Leider konnte ich nicht lesen, was darauf geschrieben war. Vielleicht hätte mich lieber Jugi begleiten sollen.
Die kleinen Bilder halfen mir leider nur bedingt weiter.
Der Supermarkt hatte zwei Stockwerke. Wie würde ich hier jemals das Wasser finden?
Hilflos sah ich mich um. Rechts von mir ging ein Gang mit Konservendosen ab und links befanden sich Obst und Gemüse.
Vor den Äpfeln stand ein junger Mann. In seinem Einkaufswagen stapelten sich Wasserflaschen. Ohne noch einmal darüber nachzudenken, wie genau ich ihm mein Problem erklären sollte, ging ich zu ihm und räusperte mich.
„Hello." Ich versuchte es erst mal in Englisch.
Der junge Mann drehte sich zu mir um und mir stockte der Atem. Seine grauen Augen sahen mich freundlich an, während sein Mund kurz ein erstauntes Oh formte, und sich dann zu einem Lächeln bog.
„How can I help you?", fragte er mit einem ziemlich deutschen Akzent. Daraufhin vergaß ich vollkommen, auf Englisch zu antworten.
„Ich wollte wissen, wo du das Wasser herhast."
Zum Glück hatte ich mit meiner Annahme, dass es ein deutscher Akzent war, richtig gelegen. Mein Gegenüber antwortet mir nämlich in meiner Muttersprache. „Ich kann es dir zeigen."
„Das wäre echt toll. Ich brauche dringend was zu trinken." Nicht nur die Reise sorgte dafür, dass sich mein Hals staubtrocken anfühlte. Auch die Präsenz meines Gegenübers schüchterte mich ein. Wie konnte jemand so gut aussehen?
„Es ist schon lustig, hier jemanden aus Deutschland zu treffen. Ist mir sonst noch nie passiert. Was machst du denn in Warschau? Urlaub? Studium?", fragte er mich, als wir losliefen.
„Ich ..." Schnell suchte ich nach einem Grund, warum ich hier sein könnte. Die Wahrheit konnte ich ihm ja offensichtlich nicht erzählen. „Ein Schüleraustausch. Meine Klasse hat sich aufgeteilt, damit wir getrennt die Stadt besichtigen können. Und ich hatte Durst, also bin ich in einen Supermarkt gegangen." Es war fast schon traurig, dass mir das Lügen so einfach fiel. „Und du? Was treibt dich nach Warschau?"
Erst wollte ich einen Namen nennen, doch er hatte mir ja noch gar keinen gesagt. Als er das merkte, half er mir weiter: „Ich bin Jesper. Jesper Wild."
„Pia Salega." Das ich eigentlich anders hieß, merkte ich erst zu spät. Aber es war ja sowieso nicht so wichtig. Ob ich jetzt Salega oder Soon war, Jesper würde mich sowieso nie wiedersehen. Außerdem fühlte es sich nicht richtig an, Soon als Nachname zu benutzten. Meine Familie war mir fremd.
„Also, was tust du hier?", fragte ich, um mich von meinen Gedanken abzulenken.
„Ich mache eine Ausbildung zum Schmied."
„Und dafür muss man nach Warschau reisen?"
„Nein." Er lachte. „Aber ich musste nach dem Abitur mal was anderes sehen als mein Elternhaus."
„Wie lange bist du schon hier?"
„Erst ein paar Monate. Die Stadt kenne ich noch nicht allzu gut, aber der Supermarkt ist quasi mein zweites Zuhause." Jesper fuhr sich durch die dichten, braunen Haare.
Ich lachte. „Das trifft sich gut."
Wir waren vor dem Regal mit dem Wasser angekommen.
„Wie viele Flaschen brauchst du denn?"
Ich überlegte. Mit Liam und seiner Mutter waren wir zehn Leute.
„Zehn. Aber ich bezweifle, dass die alle in den Rucksack passen. Und ich weiß nicht, wo Valerian ist."
„Dein Freund?"
„Nein. Nur ein Freund." Ich betonte den Artikel. „Er wollte noch Geld wechseln gehen, außerdem hat er eine Freundin." Ich hatte keine Ahnung, ob das stimmte, doch so konnte ich Jesper jegliche Bedenken nehmen. Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie wollte ich, dass er wusste, dass ich single war.
„Ich kann dir helfen, die Flaschen bis zur Kasse zu tragen", bot mir Jesper an, da wir die ungünstige Situation noch immer nicht gelöst hatten.
Ich lächelte ihn mit einem breiten Grinsen an. „Das wäre super. Ich schulde dir was."
„Vielleicht könntest du mit mir als Dankeschön einen Kaffee trinken gehen?" Spielerisch auffordernd sah er mich an.
„Das wäre echt super, aber ... ich muss mich bald wieder mit meiner Klasse treffen."
„Oder du gibst mir deine Nummer?"
Das sollte drin sein. Lächelnd nickte ich.
Mein Handy bewahrte ich in einem kleinen Fach im Rucksack auf. Seit ich im Nachtreich lebte, brauchte ich es zwar nicht mehr, aber es war an manchen Tagen sehr beruhigend, für ein paar Stunden meiner neuen Realität zu entfliehen und mir stattdessen Konversationen durchzulesen, die meine früheren Mittschüler in unserer Stufen-Gruppe führten. Oder ich sah mir ein paar YouTube-Videos meiner liebsten Creators an.
Jesper freute sich offenbar darüber, dass ich ihm nicht einfach eine Ausrede aufgedrückt hatte und gegangen war, sondern wirklich im Kontakt mit ihm bleiben wollte.
„Hast du einen Stift, damit ich sie dir aufschreiben kann?"
Statt einer Antwort, zog er sein Handy aus der Tasche und öffnete die Kontakte. „Trag dich einfach ein, Pia."
Als ich nach dem Handy greifen wollte, spürte ich, dass jemand seine Seele mit mir verbinden wollte. Da es wichtig sein konnte, ließ ich die Person rein.
„Pia, wo bist du?" Valerian schrie in meinen Gedanken. Schade, dass man sich bei einer Seelenverbindung nicht die Ohren zuhalten konnte.
„Ich habe das Wasser gefunden, und wollte es gerade mit meinem neuen Freund zur Kasse tragen."
„Welcher Freund?"
„Siehst du, wenn du auf mich an der Kasse wartest."
Ich hörte Valerian in meinen Gedanken seufzten. „Na schön. Aber beeil dich. Wir sind schon viel zu lange weg."
Und damit verblasste die Verbindung.
Es waren nur ein paar Sekunden in der Seelenverbindung gewesen, aber in dieser Zeit hatte ich mich nicht bewegt. Meine Hand war kurz davor, das Handy von Jesper zu greifen. Während ich es endlich nahm, sah ich ihn an. In seinem Blick lagen Fragen, doch er sprach meine Starre nicht an. Stattdessen stapelte er acht Wasserflaschen in dem Rucksack und nahm die anderen beiden in die Hand. Ich wollte ihm etwas abnehmen, doch er wehrte ab. „Das schaff ich schon allein."
Um ihn nicht weiter anzustarren, ließ ich meinen Blick auf das Handy schweifen und gab schließlich meine Nummer ein. Statt einem Namen schrieb ich nur „Wassermädchen" und machte dahinter einen Alien-Emoji.
Er sah auf das Smartphone. „Warum der Außerirdische?"
„Weiß nicht. Vielleicht weil ich mich manchmal fühle, als seine ich nicht von dieser Welt." Das war wahrscheinlich der erste Satz, der nicht zumindest zu einem Teil gelogen war.
Jesper schob das Handy wieder in seine Tasche. „Verstehe. Dann lass uns mal zur Kasse gehen. Dein Freund wartet sicher schon."
„Er ist bestimmt schon halb durchgedreht."
„Also ein Kontrollfreak?"
„Ziemlich. Er wollte mich nicht allein einkaufen lassen."
„Im Nachhinein betrachtet war das aber gar nicht so dumm", neckte er mich. „Wärst du erst Geld wechseln gegangen, wären wir uns nicht begegnet, und du würdest immer noch nach dem Wasser suchen."
„Stimmt. Dann sollte ich wohl in Zukunft ein bisschen netter zu ihm sein."
In der Nähe der Kasse herrschte ein großes Durcheinander, so dass ich Valerian erst nicht entdeckten konnte.
Jesper merkte, dass ich den Überblick verlor. „Wie sieht dieser Freund denn aus?"
„Er ist relativ klein, hat blonde Locken und einen leichten blonden Bart. Seine Augen sind sehr dunkel."
„So wie der?" Jesper deutete auf einen jungen Mann, der mit dem Rücken zu uns stand. „Jap, das ist er."
Als ich näherkam, drehte sich Valerian zu mir und winkte.
Jesper pfiff. „Wenn das keine dunklen Augen sind, dann weiß ich auch nicht. Ist er mit dir verwandt? Beziehungsweise, ist er mit deinem einen Auge verwandt?"
Oh nein. Jetzt hatte er mich nach meinen Augen gefragt. Das war ein heikles Thema, auf das es keine gute geflunkerte Antwort gab.
„Nein, wir sind nicht verwandt." Ich lächelte verhalten. „Ich habe sie mir um operierten lassen, wollte was Besonderes sein. Früher waren sie blau."
„Man kann seine Augenfarbe um operieren?"
„Offiziell noch nicht. Das ist alles noch in der Testphase. Ich hatte das Glück jemanden zu kennen, der jemanden kennt, der jemanden kennt, und so weiter."
„Also bist du nicht nur mein Wasserflaschen-Alien, sondern auch ein Experiment?"
Hätte jemand anderes das zu mir gesagt, hätte ich es als unhöflich empfunden, doch ich wusste, dass Jesper es nicht böse meinte. Ich war schon heil froh darüber, dass er nicht weiter fragte und meine blöde Notlüge einfach so hinnahm.
„Ja könnte man so sagen. Ich bin ein Wasserflaschen-Alien Experiment."
„Pia, da bist du ja endlich." Valerian hatte es geschafft, sich durch die Menge zu kämpfen und stand nun vor uns. Er reichte Jesper seine Hand. „Ich bin Valerian, schön dich kennen zu lernen. Ich danke dir, dass du auf die Auß ..., dass du auf Pia aufgepasst hast."
Jesper hatte offenbar das Stolpern über das Wort Auserwählte überhört, denn er lächelte nur, als er Valerians Hand nahm. „Kein Problem. Es hat mir großen Spaß bereitet. Vielleicht sieht man sich ja noch mal." Und mit diesem Satz verabschiedete er sich und verschwand in der Menge.
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Den halben Weg zu Liam Wohnung musste ich mir Vorwürfe von Valerian anhören. Anscheinend war ich länger im Supermarkt verschwunden, als ich gedacht hatte. Ich traute mich erst wieder zu sprechen, als er nach einer kurzen Pause das Thema wechselte.
„Und dieser Junge war nett?"
„Ja", sagte ich verlegen.
„Über was habt ihr so geredet. Ich gehe davon aus, dass du ihm nicht die Wahrheit gesagt hast?" Es war eine Frage, doch sie klang wie ein Vorwurf.
„Natürlich nicht. Ich habe ihm erzählt, dass wir einen Schüleraustausch machen und du mich zum Supermarkt begleitet hast. Dann wollte er wissen, ob du mein Freund bist?"
„Und war ich es?"
„Nein." Ich lachte, als ich an den unangenehmen Moment zurückdachte. „Ich habe gesagt, dass du eine Freundin hast."
„Fast." Jetzt musste er auch lachen. „Freund trifft es wohl eher."
„Oh, okay." Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet. Ich fand es natürlich nicht schlimm, doch nun fühlte ich mich ein wenig schlecht, da ich sofort angenommen hatte, dass er auf Frauen stand. Mal wieder musste ich feststellen, wie voller Vorurteile ich doch war.
Damit er nicht annahm, dass ich mit ihm ein Problem hatte, weil ich eine ganze Weile schwieg, fragte ich das erste, was mir in den Sinn kam. „Wie heißt er denn?"
„Nick. Was bringt dir diese Information?"
„Keine Ahnung. Ich dachte, vielleicht ist er auch bei den Reforten, und der Name sagt mir was", versuchte ich mich zu retten.
„Nein, ist er nicht. Er studiert Architektur. Ich habe ihn leider ewig nicht gesehen."
„Das tut mir leid. Wenn wir wieder im Nachtreich sind, kannst du ihn doch besuchen fahren."
Valerian sah mich schuldig an. „Er wohnt ihm Tagreich."
Jetzt fiel mir die Kinnlade hinunter. „Moment. Heißt das ...?"
„Wir haben uns während des Erdjahr kennen und lieben gelernt, ja. Nick kommt aus dem Tagreich."
„Oh wow. Dann freut ihr euch sicher darüber, dass Ade und Sverre sich wieder vertragen haben."
„Natürlich." Valerian strahlte. „Endlich ist es wieder möglich, zwischen den Reichen hin und her zu reisen. Ich kann ihn nach zwei Jahren Fernbeziehung wiederzusehen, da die Portale zwischen den Reichen wieder für alle offen stehen. Ich habe ihn seit meinem siebzehnten Geburtstag nicht mehr gesehen. Wir konnten nur unsere Seelen verbinden, um in Kontakt zu bleiben. Einmal haben wir uns getraut, am gleichen Tag einen Besuch auf der Erde zu beantragen, so dass wir uns wenigstens für kurze Zeit in einer neutralen Umgebung sehen konnten. Aber es war riskant. Wir haben uns am Ende beide nicht getraut."
„Haben so etwas auch meine Eltern gemacht? Einen Tag beantragt, an dem sie sich heimlich sehen konnten? Ich weiß, dass Pauls Mutter schon schwanger war, als sie noch mitten in ihrem Erdjahr steckte. Aber von meiner Mutter würde ich sowas eigentlich nicht erwarten. Außerdem habe ich mal nachgerechnet, und ihr Erdjahr müsste zwei Jahre vor Maries und meiner Geburt stattgefunden haben."
„Das ist möglich."
Es entstand eine ungemütliche Stille. Ich kam immer noch nicht darüber hinweg, dass Valerian eine verbotene Beziehung geführt hatte. Immerhin war er Refort, hatten die da nicht tief in seiner Akte geforscht? „Das ist mir gerade irgendwie zu krass."
Er nickte. „Man könnte sagen, ich hatte großes Glück. Nicht schwanger werden zu können war der einzige Vorteil, den ich als schwuler Mann je gehabt hatte."
Das brachte mich zum Lachen. „Stimmt. Aber laut der Prophezeiung wäre das doch sowieso nicht passiert. Einen neunten Auserwählten gibt es nicht."
„Das kann ja noch kommen. Vielleicht irrt sich die Prophezeiung. Jetzt, da die Reiche wieder offen sind, bin ich sicher, dass es wieder passieren wird, dass sich Natesim aus verschiedenen Reichen ineinander verlieben."
Ich schluckte. „Könntest du bitte nicht daran glauben, dass die Prophezeiung falsch sein könnte? Darauf steht, dass ich die Erde retten kann, und das muss ich auch glauben."
Valerian entschuldigte sich sofort. „Wird nicht wieder vorkommen. Außerdem, nur weil der erste Teil falsch sein könnte, heißt das nicht, dass der zweite nicht stimmen kann. Ich glaube auch daran, dass ihr es schafft. Aber wäre es nicht sogar gut, wenn es mehr Ausgewählte gäbe?"
„Naja. Diese Auserwählten könnten an dem Tag, an dem wir vermutlich versuchen, die Erde zu retten, noch nicht einmal stehen, geschweige denn, ihre Energien herbeirufen, wenn wir Mano und Sanna aus Sonne und Mond befreien wollen."
„Guter Punkt."
Wir waren inzwischen wieder vor Liams Haus angekommen und standen nun davor, um uns weiter zu unterhalten.
„Denkst du, sie haben Liam bereits alles erzählt?" Ich deutete nach oben.
„Ja wahrscheinlich schon. Mich interessiert aber viel mehr, ob seine Mutter aufgetaucht ist, und was es mit ihr auf sich hat. Du kannst sie dann auch gleich mal fragen, wann sie mit Liam schwanger wurde, falls dich das noch interessiert."
„Ich glaube nicht, dass das angebracht wäre. Wir kennen sie ja gar nicht."
„Das stimmt. Dann frag einfach deine Eltern, wenn wir wieder zurück im Nachtreich sind."
Da würde ich ja lieber Liams Mutter fragen ...
Um vom Thema abzulenken, deutete ich auf die Tür. „Lass uns nach oben gehen, die andere warten sicher schon auf die Getränke."
„Wahrscheinlich."
Valerian klingelte, und als der Türöffner summte, hielt er mir die Tür auf.
In Liams Stockwerk angekommen, öffnete uns Marie die Tür. „Da seid ihr ja endlich. Luna ist schon halb ausgerastet, vor Sorge um euch."
„Tut mir leid." Was der Grund für meine Verspätung war, erwähnte ich lieber nicht. Sonst würde Luna noch versuchen, Jesper ausfindig zu machen.
„Luna musste sich noch mit ihrem neuen Freund unterhalten", verpetzte mich jedoch sofort mein Mitreisender.
„Valerian!", rief ich wütend.
Luna war sofort ganz Ohr. Na super. „Welcher Freund?"
„Erzählt sie dir nachher."
Ach ja? Würde ich das?
„Wie weit seid ihr mit Liam?", fragte ich, um wieder das Thema zu wechseln.
„Er hat verstanden, um was es geht und möchte nachher mit seiner Mutter ins Nachtreich aufbrechen. Die ist jedoch noch nicht so begeistert."
„Wieso?"
„Sie hat einen Job, den sie liebt, und den sie nicht aufgeben möchte, weil es ihre einzige Einnahmequelle ist. Außerdem vertraut sie Sverre und Ade nicht."
„Als was abreitet sie denn?", fragte ich, während ich in das Wohnzimmer trat. Neben den bekannten Gesichtern saß Liam und neben ihm eine Frau mit schwarzen Haaren und schwarzen Augen. Sie war wunderschön.
Sofort nahm ich wahr, dass ihr Gesicht in unzähligen Fotos über dem Raum verteilt an den Wänden hing.
Ich brauchte keine Antwort mehr auf meine Frage. „Verstehe", sagte ich wissend.
Liams Mutter stand lächelnd auf und stellte sich mir als Maike vor. Dann war das wirklich ihr Terminkalender gewesen, den ich vorhin in der Küche bemerkt hatte.
„Hallo, du musst Pia sein."
„Richtig." Ich lachte verlegen. „Ich habe gehört, sie sind sich nicht sicher, was einen Aufenthalt im Nachtreich angeht?", fragte ich sie.
„Ja. Ich hoffe das ist verständlich. Ich musste mir hier auf der Erde ein neues Leben aufbauen, nachdem ich dort nicht mehr erwünscht war. Und jetzt werde ich quasi dazu gezwungen, wieder zurückzugehen, obwohl ich mich jetzt hier eingelebt habe? Das scheint mir einfach nicht fair. Ich mag mein neues Leben."
„Was ist mit Liam? Darf er mit ins Nachtreich kommen? In erster Linie geht es ja darum, dass er mit seinen Kräften vertraut gemacht wird, damit er uns helfen kann, Sanna und Mano zu befreien."
„Sie wollen das jetzt echt durchziehen?"
„Ja."
Sie lachte sehr hoch und künstlich und als sie sprach, lag pure Enttäuschung in ihrer Stimme. „Jahrelang wurde ich dafür ausgegrenzt, einen Auserwählten als Sohn zu haben. Die Natesim haben sich nicht dafür interessiert, dass mein Baby und ich jahrelang im Dreck gewohnt haben. Und nun wird er mir weggenommen, weil sie plötzlich finden, dass er doch wichtig sein könnte?"
„Mama ...", mischte sich Liam ein. „Ich möchte ins Nachtreich gehen. Ich möchte diesen Natesim helfen, auch wenn sie uns schlecht behandelt haben. Die gesamte Erde sollte darunter nicht leiden. Außerdem hast du ihnen ja noch gar keine Chance gegeben, ihr Handeln wieder gutzumachen."
Maike seufzte. „Kann ich darüber noch einmal nachdenken?"
„Natürlich", sagte Luna. „Wir können auch gerne gehen, und sie können so lange alles ganz genau mit ihrem Sohn besprechen."
„Nein schon gut. Ihr müsst nicht verschwinden. Liam und ich werden nur ins Schlafzimmer gehen." Sie streckte ihrem Sohn ihre Hand hin, der sie nahm. Zusammen gingen die zwei aus dem Raum.
Als wir eine Tür zugehen hörten, sahen wir uns in der Runde untereinander an. Jedem lag die Anspannung im Gesicht.
„Was machen wir, wenn Maike nein sagt?", brach Lance das ungemütliche Schweigen.
Aufgeben, schoss es mir durch den Kopf. Kurze Zeit später biss ich mir dafür auf die Zunge. Ich hatte es nicht gesagt, aber nur das Denken war schon demotivierend genug gewesen. Würde unser Plan scheitern, wenn Liam nicht ins Nachtreich durfte?
Luna schien weniger pessimistisch eingestellt. Nüchtern antwortete sie auf die Bedenken: „Dann versuchen wir, ob es auch ausreicht, mit sieben Auserwählten die Erde zu retten." Dass Marie immer so negativ eingestellt, hatte wohl auf mich abgefärbt. Früher hatte ich nämlich nicht so gedacht. Doch seit ich mehr Zeit mit Marie verbrachte, waren meine Gedanken düsterer.
Drew spielte ungeduldig mit dem Ring an ihrem Finger. „So dürfen wir nicht denken. Noch ist es nicht zu spät. Sicher darf Liam ins Nachtreich reisen. Er will es doch. Er wird seine Mutter schon überreden."
Meine Mitreisenden schien das wohl zu beruhigen, denn sie nickten und verfielen dann wieder in das ungemütliche Schweigen.
Über zehn Minuten saßen wir einfach nur rum, ohne uns zu unterhalten. Die Anspannung war spürbar.
Schließlich brach Valerian die Stille. „Ich habe noch das Wasser für euch in meinem Rucksack, wenn jemand etwas trinken möchte."
„Ja bitte." Cyan hielt ihm ein Glas entgegen, was bereits die ganze Zeit vor ihm gestanden hatte. „Ich verdurste gleich."
Ich half Valerian, den Rucksack auszupacken, so dass jeder eine Flasche Wasser vor sich stehen hatte. Als weitere zwei Minuten vergingen, ohne das Liam zurückkam, nahm ich einen großen Schluck aus meiner Flasche. Die Erfrischung tat gut.
„Wie lange denkt ihr, wir das noch dauern?"
„Keine Ahnung, aber wir haben nicht mehr ewig Zeit."
„Wann müssen wir denn weiterreisen?
„Um 22 Uhr kommt unser Zug nach Budapest."
„Und jetzt ist es viel spät?"
„7. Aber wir brauchen noch zwei Stunden, um zum Bahnhof zu laufen."
„Können wir keinen Bus nehmen?"
„Doch, aber dafür müssten wir einen Plan haben, um zu wissen, wann und wo einer fährt. Und dafür brauchen wir ein Handy."
„Ich habe meins dabei", gestand ich. „Soll ich mal schauen, ob ich einen Bus finde?"
„Das wäre gut. Denn sonst müssen wir wahrscheinlich zum Bahnhof joggen, um den Zug zu erwischen."
Ich stand auf, ging zu meinem Rucksack, und holte mein Handy heraus. Als ich es anschaltete, sah ich, dass ich einen neue WhatsApp-Nachricht bekommen hatte.
Zum Glück hatten wir meiner Familie vor unserer Abreise die Wahrheit über die Natesim erzählt. So hatten sie vorsorgen und mir einen anderen Handytarif kaufen können, mit welchem ich überall auf der Welt ins Internet gehen konnte. Vorausgesetzt natürlich, es gab an diesem Ort Internet. In manchen deutschen Kaffs würde mir auch mein super Tarif nicht viel helfen.
Da die Zeit, die Nachricht zu beantworten, nicht da war, öffnete ich Google und suchte nach einem Bus von der Straße, in der wir uns gerade befanden, zum Bahnhof.
„Damit wir den Zug bekommen können, müssten wir den Bus in einer halben Stunde nehmen, der an dem Supermarkt abfährt, an dem ich vorhin mit Valerian war. Das schaffen wir doch niemals."
„Es wird knapp, aber wenn Liam und Maike in unter zehn Minuten zu einer Entscheidung gekommen sind, sollten wir es noch hinbekommen."
Wir warteten.
Und warteten.
Nach neun Minuten war ich kurz vor dem Zusammenbruch,
Dann öffnete sich die Tür.
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