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Die große Halle, in der Sverre und Ade saßen und auf mich warteten, war jetzt nicht mehr allzu weit entfernt. Ich sah bereits die zwei Reforten, die an der Tür Wache standen. Freundlich grüßte ich sie. Die beiden grüßten zurück und ließen mich dann eintreten.

Da die Paläste von Tag- und Nachtreich quasi baugleich waren, sahen auch die Empfangshallen gleich aus. Wir hätten jetzt auch im Tagreich sein können - so wie vor einem Monat, als Ade uns angegriffen hatte - und man würde den Unterschied nicht erkennen.

Deshalb fühlte es sich für mich gerade auch wie ein Deja vu an. Vor meinem inneren Auge lief ich mit Marie und Pia durch den Palast des Tagreichs auf unserem Weg zu Ade. Noch hatte damals keine von uns ahnen können, dass Pia gleich nur knapp dem Tod entkommen würde.

Als ich Sverre und Ade an dem großen Tisch sitzen sah, überlief mich noch einmal ein kalter Schauer, doch dann streckte ich meine Schultern durch und marschierte auf die beiden zu. Ich würde das schon schaffen.

„Luna, wir haben schon auf dich gewartet. Setzt dich doch zu mir." Ade hatte mir den Stuhl - den einzigen freien Stuhl - direkt neben sich angeboten. Anscheinend dachte sie, wir hätten jetzt so etwas wie eine Freundschaft aufgebaut, weil ich sie immer in ihrem Garten besuchte.

Natürlich bedankte ich mich und setzte mich neben Ade. Mit zittrigen Fingern richtete ich die Notizzettel, welche in meiner Hand lagen. Meine Hände waren plötzlich ganz schwitzig und ich hoffte, dass keiner die nassen Ränder an den Karteikarten sah.

Ade und Sverre sahen mich gespannt an. „Dann berichte uns mal von euren Entdeckungen", ermutigte mich die Königin des Nachtreichs.   

Ich schluckte. „Das Wissenschafts-Team arbeitet wirklich gut mit den Auserwählten zusammen. Als erstes haben Marie und Pia es geschafft, ein Netz mit ihren beiden Energien zu erschaffen, durch das wir versucht haben, Gegenstände zu werfen. Doch die Gegenstände sind nur daran abgeprallt. Danach haben wir versucht, die Gegenstände mithilfe der Energie zu bewegen, was sich als erfolgreich bewiesen hat. Mit dieser Information haben wir dann Ideen gesammelt, mit denen wir die Erde retten könnten. Ein Mann, ich weiß leider seinen Namen nicht ..." – Langsam sollte ich ihn mir echt mal merken – „hat vorgeschlagen, dass die Auserwählten Sonne und Mond mithilfe des Energienetzes nahe an die Erde heranziehen und wir dann von dort aus versuchen können, Mano und Sanna zu befreien. Leider wissen wir nicht, inwiefern dieser Vorschlag umgesetzt werden könnte, da wir dafür die Kraft aller Auserwählten mit einbeziehen sollten. Deshalb wollten wir fragen ..." Mein Blick richtete sich auf Ade. „Wir wollten fragen, ob wir uns jetzt auf die Suche nach den anderen Auserwählten begeben dürfen. Das würde uns bei den Experimenten sehr helfen." Ich hustete. Mein Hals war ganz trocken. „Danke, für eure Aufmerksamkeit."

Danach musste ich erst einmal tief Luft holen. Ich hatte es geschafft, alles so zu erzählen, wie ich es geübt hatte. Und ich hatte mich kein einziges Mal versprochen. Ich war gerade sehr stolz auf mich. Vielleicht ein klein bisschen zu stolz, dafür, dass ich nur einen Text aufgesagt hatte ...

„Danke Luna", sagte Sverre und nickte mir anerkennend zu. „Das war eine sehr gute Zusammenfassung."
Ade strahlte mich an. „Damit können wir arbeiten."

Erleichtert atmete ich auf, und ließ mich in meinem Stuhl zurückfallen. Ich hatte es nicht gemerkt, aber ich hatte so gerade gesessen, wie ein Blatt Papier. Hätte ich eine Lehrerin für Anstand & Eleganz, wie eine Prinzessin in einem Film, wäre sie sicher stolz auf mich gewesen.

Wobei ich doch ganz froh darüber war, dass auf mir nicht der Druck lag, bald das ganze Nachtreich regieren zu müssen.

Wussten Ade und Kazumi eigentlich schon, wem sie den Posten vererben wollten? Klar, sie waren noch jung, aber man konnte leider nie wissen. Wäre es unhöflich, sie darauf anzusprechen?

Während ich so überlegte und still Sverres und Ades Gesprächen lauschte, wurde der erste Gang des Essens serviert. Eine Tomatensuppe mit ein paar Scheiben Brot. Vielleicht konnte mich die Küchenchefin ja doch leiden, denn sie hatte hiermit meine Lieblingssuppe erraten.

Während Sverre sich sofort seinen Löffel schnappte und begann, die heiße Suppe in sich hineinzuschaufeln, blickte Ade zur Tür.

Ich wollte gerade ebenfalls nach meinem Löffel greifen, da verbrannte sich Sverre an der Suppe. „Autsch", stieß er mit zusammengebissenen Zähnen hervor. Wir lachten.

Eine Zofe, die einen Krug voll Wasser ins Zimmer brachte, sah ihn tadelnd an. „Sehen Sie nicht, wie sehr die Suppe dampft?"

Sverre spielte vor, beleidigt zu sein, indem er seine Arme vor sich verschränkte. „Man kann doch nicht vor mir verlangen, dass ich nicht esse, was man vor mich stellt."

Ich kicherte. Als ich zu Ade sah, um zu schauen, ob sie ebenfalls über Sverres Witz lachte, blickte diese bereits wieder zur Tür. Eigentlich wollte ich sie darauf ansprechen, aber mir fiel nicht ein, wie ich damit starten konnte. Wartete sie auf jemanden?

Vielleicht würde Sverre die ständigen Blicke zur Tür ja auch bemerken und sie darauf ansprechen. Dann müsste ich es nicht tun.

Der König des Tagreichs würdigte Ade gerade jedoch keines Blickes. Er war noch immer mit der Suppe beschäftigt. Er pustete, um sie schneller kalt werden zu lassen.

„Das wird nicht viel bringen", kommentierte ich. „Den ganzen Teller wirst du damit so nicht abkühlen können. Aber auf einzelnen Löffeln ist viel weniger Suppe, da funktioniert es."

Sverre sah mich an. In seinen Augen lag Belustigung. Sie war nicht abfällig, doch ich merkte, wie er sich über mich lustig machte. „Danke, Luna. Offensichtlich bist du eine Expertin in Sachen Suppe."

Ein wenig unbeholfen war ich ja schon. Da saß ich hier mit den wichtigsten Natesim im ganzen Sonnensystem und mir fiel nichts Besseres ein, als ihnen zu erklären, wie man Suppe aß.

Nachdem ich peinlich berührt für einige Minuten nichts gesagt hatte, fielen mir wieder Ades Blicke zur Tür ins Auge.

Als sich Sverres und mein Blick kurz darauf traf, nickte ich in Ades Richtung. Sverre verstand meine Botschaft glücklicherweise. Während er seinen Löffel nahm und sich nun daran mache, auf den vollen Löffel zu pusten, fragte er Ade: „Erwartest du noch jemanden?"

Ade seufzte. „Eigentlich wollte Kazumi zu uns stoßen. Wir wollten mit dir über eine bevorstehende Gesetzesänderung sprechen. Vielleicht bist du daran interessiert, sie so auch im Tagreich zu übernehmen." Ades Blick wurde weich und sie kaute unsicher auf ihrer Unterlippe herum. „Momentan kannst du das Gesetz zwar leider nicht anwenden, aber wir wollten dir das System trotzdem erklären."

Sverre nickte. „Okay. Dann warten wir." Es entstand eine unangenehme Gesprächspause. Sverre pustete in seine Suppe, Ade sah zur Tür. Ich drückte an meinen Fingern herum. Gerade wollte ich fragen, ob ich denn nicht gehen könnte, da mich die Gesetzesänderung ja gar nicht betraf, und ich ja auch schon wusste, worum es ging, als sich die Tür öffnete.

Kazumi lehnte sich mit dem gesamten Gewicht ihres Körpers gegen den Türrahmen, da sie keine Hand freihatte. Verschiede Ordner, Blätter und Stifte versuchte sie gleichzeitig mit ihren Armen zu balancieren.

Schnell schlüpfte sie durch die Tür und diese fiel krachend hinter ihr ins Schloss. „Mhm", machte Kazumi nur und zuckte gut gelaunt mit den Achseln. Sie ging zum Tisch und ließ sich müde in den Stuhl neben Ade fallen. Schnell gab sie ihrer Frau einen Kuss. „Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, ich musste mich noch um etwas anderes kümmern. Du weißt schon." Sie zwinkerte Ade zu. Dies nickte nur. Anscheinend wollten sie das nicht genauer erläutern.

Kazumis lächelte Sverre und mir zu. Sie wirkte super aufgeregt. „Also dann, hallo alle miteinander. Oh! Fast hätte ich es vergessen." Sie stand ruckartig wieder auf, lief um den Tisch herum und zog Sverre in eine innige Umarmung. „Schön, dich mal wieder zu sehen. Und ausnahmsweise haben wir ja auch mal einen positiven Anlass, uns zu treffen. Das Forschungsteam hat Ergebnisse und wir können dir endlich unser neues Gesetz präsentieren." Kazumi machte eine dramatische Pause. „Hat Ade schon etwas verraten?"

„Nein, bis jetzt wurde ich noch nicht eingeweiht."

Ich konnte mir ein: „Ich schon" nicht verkneifen. Kazumi lachte mir zu. „Jaja, dir haben wir es schon erzählt."

„Jetzt bin ich aber beleidigt. Die beste Freundin der Auserwählten bekommt Informationen und ich nicht? Schießt schon los, jetzt bin ich wirklich gespannt." Sverre tat so, als würde er vor Anspannung gleich vom Stuhl kippen.

„Also gut." Ade nahm ein Dokument aus dem riesigen Stapel an Unterlagen, der nun vor Sophia auf dem Tisch lag, betrachtete das Blatt ein paar Sekunden lang, und schob es dann Sverre hin. Dieser las aufmerksam.

„Ihr wollt zusammen regieren?", fragte Sverre. Auf seinem Gesicht hatte sich bereits ein Lächeln gebildet. „Das finde ich eine wunderbare Idee. Zusammen ist man immer stärker."

Ade strahlte. „Schön, dass du dem Gesetz zustimmst. Dann wird es also beschlossen. Ab morgen wird das Nachtreich von zwei Königinnen regiert."

Auch Kazumi strahlte. „Das wird großartig. Wir können uns die Arbeit teilen und haben dann auch wieder Zeit für andere Dinge. Ich kann endlich wieder meine Serie weiterschauen!" Offensichtlich war der offizielle Rahmen dieser Veranstaltung vorbei, denn Kazumi berichtete Sverre ausgiebig darüber, was in der letzten Folge geschehen war, die sie noch live verfolgen konnte. Erst nach mehreren Minuten merkte ich, dass es wirklich die gleiche Sendung war, die auch Herrik manchmal mit mir schaute. Auch als Königin des Nachtreichs durfte man also noch Kinderserien schauen. Das würde ich definitiv als Argument benutzten, wenn meine Mutter behauptete, dass ich fürs Bobby-Car-Rennen zu alt war.

Irgendwann sah Kazumi auf die Uhr. „Oh Mann, ist es schon spät! Ich muss los!" Sie erhob sich schwunghaft und klatschte in die Hände. „Dann ist es also beschlossen. Ich darf mitregieren. Wie wundervoll. Dann werde ich mich mal an die Arbeit machen. Ich wollte ein paar Bürger anhören, das habe ich nämlich noch nie gemacht." 

Mir lief ein Schauer über den Rücken, als ich an unser Gespräch mit Ade letzten Monat dachte. Wir waren als Bürger zur Anhörung gekommen, die einen Angriff der Feuerbändiger melden wollten und gingen als Verräter aus dem Schloss. Verbannt von ihrer eigenen Königin. Dass Ade in Wahrheit nichts dafür könnte, erfuhren wir erst im Nachhinein. Wer hätte auch ahnen können, dass sie selbst von einem Feuerbändiger besessen war.

Während sich Kazumi durch weitere Küsse und Umarmungen von Ade und Sverre verabschiedete, erschien der Hauptgang. Eine Teller Spagetti mit roter Soße wurde vor mir abgestellt. Hoffentlich bekamen die anderen im Schloss heute das gleiche Essen, den Herrik liebte dieses Gericht, und ihm würde es sicher nicht gefallen, wenn er hörte, dass ich Spagetti ohne ihn gegessen hatte.

Gierig griff ich nach meiner Gabel, doch als ich sah, wie sehr die Nudeln dampften, ließ ich sie wieder fallen. Sverre nachzumachen, und mir meine Zunge zu verbrennen, musste jetzt echt nicht sein.

Stattdessen richtete ich das Gespräch wieder auf die Auserwählten und den eigentlichen Grund des Treffens. „Also, da wir für die Test ja auch die anderen Auserwählten brauchen, wollte ich noch fragen, wann genau wir aufbrechen sollen."

Ade, die gerade dabei war, die Unterlagen vor sich zu sortieren, antwortete mir: „Wann immer ihr wollt. Heute Abend, morgen, nächste Woche. Es ist eure Entscheidung. Aber natürlich solltet ihr so schnell ihr könnt mit den Untersuchungen weitermachen."

Ich nickte. „Dann werde ich Marie und Pia nachher Bescheid geben und sie darum beten, ein paar Sachen zu packen, damit wir morgen früh aufbrechen können. Wo finden wir die Adressen der Auserwählten denn?"

„Komm gleich mit mir in mein Büro, dann werde ich sie dir geben." Ade hatte die Akten fertig sortiert, und machte sich nun über die Spagetti her. Ich tat es ihr gleich, da ich annahm, dass diese nun ausgekühlt waren.

„Luna ..." Sverre schaltete sich nun auch wieder in die Unterhaltung mit ein. „Versprich mir, dass ihr vorsichtig sein werdet. Und überfallt die Familien der Auserwählten nicht. Berichtet ihnen ganz langsam von unserer Lage und ladet sie ein, in das Nachtreich oder das Tagreich zu kommen. Während ihr auf eurer Reise seid, werden wir hier oben auf sie warten. Natürlich werden die Eltern der Auserwählten erst einmal skeptisch sein. Immerhin waren wir es, die sie vor unzähligen Jahren aus den Reichen verbannten, doch nach eurer Erzählung werden sie hoffentlich verstehen, warum sie wieder zurückkommen dürfen."

Ich nickte andächtig. „Alles klar."

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