𝐸𝑖𝑛𝑢𝑛𝑑𝑑𝑟𝑒𝑖ß𝑖𝑔


Ich war kurz davor, meine Augen zu schließen, als plötzlich eine neue Person in mein Sichtfeld trat. Ich konnte nicht erkennen, wer es war. Dafür bewegte sich die Person zu schnell und mein Geist war zu müde.

Die Umrisse schienen weiblich und die Person trug ein goldenes Schwert bei sich, das Schwert eines Reforten. Doch sie war kein Refort, denn sie trug keine Rüstung. Nur der goldene Helm lag auf ihrem Gesicht.

Schon halb in Trance erkannte ich nun, dass es sich ganz sicher um ein Mädchen handeln musste. Die schwarze Hose und das noch schwärzere Oberteil lagen eng und blutverschmiert über ihrem Körper und mir fiel auf, dass ich diese Klamotten kannte. Noch vor wenigen Minuten hatte ich genau dieses Outfit eine mir bekannte Person tragen sehen.

Die Kleidung gehörte Luna.

Doch war sie es wirklich? Stand sie hier vor mir, oder halluzinierte ich schon? Ich hatte ihr doch befohlen, sich auszuruhen und dem Kampf fernzubleiben.
Doch beschwerten konnte ich mich nicht. Immerhin rettete Luna mir hier gerade das Leben.

Ihr Schwert bohrte sich erst tief in die Seite der Sensenträgerin, dann in die Brust der Dolchfrau. Beide Bändigerinnen gingen schreiend zu Boden und verschwanden so aus meinem Sichtfeld.

So schnell wie Luna gekommen war, war sie auch schon wieder weg. Erneut musste ich mich fragen, ob ich mir ihr Auftreten nur eingebildet hatte.

Doch dann erreichten mich ihre Worte und nachdem ich die bekannte Stimme gehört hatte, bestand eigentlich kein Zweifel mehr daran, dass es wirklich Luna gewesen war. „Ich hab was gut bei euch."

Für kurze Zeit fühlte ich mich sicher. Es schien kein Feind in der Nähe zu sein, der mich hinterrücks attackieren konnte und so schloss ich für einige Sekunden die Augen.

Luna hatte die letzten zwei Angreiferinnen in diesem Zimmer erledigt. Ich, meine Schwester und meine Eltern waren nun erst einmal in Sicherheit. Wir waren frei.

Als ich das begriff, schossen meine Augenlieder wieder nach oben.

Meine Eltern waren hier! Ich musste sie begrüßen!

Durch die vielen Wunden fehlte mir eigentlich jede Kraft dazu, doch mit reichlich Anstrengung, und immer mit dem Gedanken an meine Eltern, ließ sich irgendwann trotzdem die nötige Motivation finden, sich zumindest wieder aufzurichten.

Sofort erblickte ich Mum und Dad, die mit Tränen in den Augen auf mich zukamen. Die Erleichterung war ihnen anzusehen.

Ohne große Worte zu verlieren, schlossen sie mich in meine Arme und zogen mich auf die Füße. Zum Glück hielten sie mich, denn noch traute ich mir nicht zu, allein zu stehen.

„Hallo Marienkäfer", begrüßte mich mein Vater.

Meine Mutter brachte kein Wort heraus. Ihr liefen immer mehr Tränen über die Wange und das war mir Antwort genug.

Kurz hielt ich sie fest, doch dann erinnerte ich mich an Pia und wandte mich zu ihr. Mit vorsichtigen Schritten näherte ich mich meiner Schwester.

Sie lag noch immer am Boden. Mit schmerzverzehrtem Gesicht hielt sie sich ihre linke Wade.

„Hallo Schwesterchen. Soll ich dir helfen?" Liebevoll legte ich meine Arme um sie, und richtete ihren Körper auf, so dass sie nun vor mir saß.

Leicht lächelte Pia. „Das ist nett, danke. Hätte ich ein bisschen Energie übrig, könnte ich wenigstens für kurze Zeit die Blutung stoppen, aber wir haben William ja unsere besondere Fähigkeit geschenkt. Deshalb muss ich wohl leiden." 

Sie sah zu Williams Gefängnis, in dem er noch immer schmollend vor sich hin philosophierte. Wahrscheinlich darüber, wie es zu seiner Gefangennahme hatte kommen können.

So schnell würde er den Palast des Nachtreiches wohl nicht mehr verlassen.

Denn hoffentlich würden wir den Käfig bald auflösen können und William eine echte Zelle in diesem Schloss schenken.

Pias Sätze brachten mich trotz unserer Lage zum Schmunzeln. „Ich würde nicht sagen, dass wir ihm unsere Kräfte geschenkt haben. Geliehen trifft es wohl eher." 

Nun war Pia hoffentlich doch froh, dass wir William nicht getötet, sondern mit ins Nachtreich genommen hatten. Wie versprochen, hatten wir es geschafft, ihn während des gesamten Kampfes ruhigzustellen. Er war nicht entkommen und konnte nun für Befragungen genutzt werden. Besser ging es gar nicht.

„William wird nie wieder Schaden anrichten", pflichtete mir Pia bei und lehnte sich zu mir, um ihren Kopf auf meine Schulter zu betten.

Kurz schloss ich wieder die Augen. Fokussierte mich einfach auf die Wärme, die Pias Körper neben mir ausstrahlte. Es fühlte sich unglaublich schön an, friedlich nebeneinanderzusitzen.

Doch kurze Zeit später verschwand das Lächeln wieder aus meinem Gesicht. Die Gedanken an vorhin holten mich ein. Ja, William würde nie wieder Schaden anrichten. Doch eben hatte er dafür umso mehr zerstört.

Ich sah Ade vor mir, das Schwert eines Feuerbändigers in ihrer Brust.

Fast kamen mir bei diesem Gedanken wieder die Tränen, doch ich hielt sie zurück.

Jetzt nicht. Ich konnte nachher um sie trauern. Nun musste ich mich erst einmal daran erfreuen, meine Familie wieder unbeschadet bei mir zu haben.

Ich atmete tief durch. Meine Eltern hatten sich mittlerweile auch zu uns auf den Boden gesetzt.

Sie hielten Pias Hände.

Plötzlich fing mein Vater an zu lächeln.
Da ich noch immer an Ade dachte, verstand ich den Grund nicht. Ich suchte im Raum nach irgendetwas, was man belächeln konnte. Erst fand ich nichts, doch dann sah ich wieder auf Pias Wunde.

Kein neues Blut quoll daraus. Es sah so aus, als sei sie bereits verheilt.

Mein Vater hatte seine Energie über die Wunde gelegt, so wie Luna damals, vor langer Zeit, als sie in der Schule gestürzt war.

Er würde sie damit zwar nicht heilen, denn das war uns Natesim ja nicht möglich. Aber er konnte die Wunde stopfen, bis sie von allein aufhörte zu Bluten.
Durch die beruhigende Wirkung der Energie nahm er ihr so auch die Schmerzen und Pias Gesichtsausdruck entspannte sich langsam wieder.

Mein Vater sah unglaublich zufrieden auf. Als wäre es ihm lange ein Anlegen gewesen, etwas für Pia zu tun. Und nun hatte er endlich die Möglichkeit dazu. 

Wenn dies wirklich seine Gedanken waren, konnte ich sie ihm nicht verdenken. Noch immer sagten uns meine Eltern nicht, warum sie Pia damals abgegeben hatten. Irgendetwas lag zwischen den drein, weshalb sie nicht vollends offen miteinanderwaren.

Dass mein Vater den Moment nutzte, um sich mit seinen Taten an seine Tochter anzunähern, fand ich schön. Vielleicht würden wir ja irgendwann doch so etwas wie eine Familie sein.

„So, und jetzt müsst ihr mir erzählen, was ihr alles erlebt habt, während wir hier tatenlos herumsitzen mussten", forderte uns mein Vater auf. Dann deutete er auf William. „Und wie ihr geschafft habt, ihn einzusperren."

„Kann das warten?", fragte ich leise. „Ich ... ich möchte erst zu Kazumi." Wir hatten sie allein im Thronraum zurückgelassen und ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie schlimm es ihr physische gerade ging.

Da wir die Feuerbändiger alle vernichtet hatten, ging für sie keine Gefahr mehr aus. Das hatte sie aber auch sicher dazu verleitet, weiterhin bei Ade zu bleiben. Wahrscheinlich würde sie für immer an der Seite ihrer toten Frau bleiben wollen, doch das wäre echt nicht gut für ihre Gesundheit.

Ich musste jetzt sofort nach ihr sehen und sie vom Thronsaal wegbringen.

Wir mussten sie jetzt unterstützen und für sie da sein. Sie hatte Ade schon einmal fast verloren, und dass hatte ihr damals schon das Herz gebrochen. Ich wollte eigentlich nicht wissen, wie es ihr gerade gehen musste.

Ich hoffte inständig darauf, dass meine Eltern nicht nachfragen würden, was ich bei Kazumi wollte. Noch konnte ich nicht aussprechen, weshalb ich so plötzlich aufbrechen wollte. Erst musste ich mich von Ade verabschieden.

Ich wollte ihr dafür danken, dass sie Pia und mich zurück ins Nachtreich gelassen, mir mein Leben zurückgeben und immer an mich geglaubt hat.

Ohne sie wären wir jetzt nicht hier. Wären Sverre und sie nicht bereit gewesen, die Gesetze zu ignorieren und nach einer neuen Lösung zu suchen, wüssten wir noch immer nichts von den Natesim, Sanna und Mano, den Kräften und der erschreckenden Wahrheit über die Erde.

Das wusste auch Pia. Sie verstand, warum ich jetzt nicht hier sitzen und mit meinen Eltern über die Reise plaudern konnte.

„Wir haben noch etwas zu tun", pflichtete sie mir bei. Doch auch meine Schwester sprach nicht aus, was da vorhin passiert war. Es war zu unwirklich. Wir konnten es beide noch nicht glauben.

Mein Vater half Pia beim Aufstehen. Er warf meiner Mutter einen fragenden Blick zu, doch diese zuckte nur mit den Achseln. Anscheinend verstanden sie nicht, was Pia und ich so Wichtiges zu tun haben konnten, aber glücklicherweise ließen sie uns trotzdem gehen. „Also gut. Wir folgen euch zu ... wo auch immer ihr hinmüsst und dann setzten wir uns zusammen und reden über den heutigen Tag. Und natürlich auch über eure Reiseerlebnisse."


꧁꧂


Keine fünf Minuten später waren wir im Thronraum angekommen. In der Zwischenzeit waren wir Reforten begegnet, die nun wieder ihre goldenen Rüstungen trugen. Sie bestätigten uns, dass die Kämpfe nun wirklich überall vorbei waren. Wir hatten gewonnen. Die Feuerbändiger waren besiegt. Zumindest vorerst.

Ich fühlte mich erleichtert, doch gleichzeitig auch so unendlich müde. Alles tat mir weh. Meine Muskeln schmerzten, die Energie, welche weiterhin um William gespannt war, bereitete mir Kopfschmerzen, und mein Herz hatte sich schon wieder zusammengezogen, als ich an Ade und all die anderen Natesim dachte, die im heutigen Kampf ihr Leben verloren hatten.

Unter den Reforten, die wir auf dem Weg aufgegabelt hatten, befanden sich auch Drew, Cyan und Valerian. Zum Glück hatten sie alle überlebt.

Lange Zeit hatte mich Drew einfach in ihren Armen gehalten, doch nun lösten wir uns voneinander. Wir hatten noch etwas zu erledigen.

Mit der Unterstützung der Reforten konnten wir endlich William aus seinem Gefängnis entlassen. Pia und ich zogen unsere Energie zurück und überließen den Bändiger unseren Freunden. Sie nickten uns zu und wandten sich dann ab, um den Gefangenen zu einer feuersicheren Zelle zu bringen.

Es fühlte sich gut an, endlich wieder seine ganze Energie bei sich zu tragen. Sie breitete sich in meinen Handflächen aus und versprühte ein Gefühl von wohliger Wärme. Sie gab mir neue Kraft, den bevorstehenden Teil des Tages zu überstehen. Denn als wir vor dem Thronsaal ankamen, bildete sich wieder ein Kloß in meinem Hals. 

Weder Pia noch ich hatten es geschafft, unsere Eltern vorzuwarnen. Keiner wollte die folgenschweren Worte über den Mund bringen.

Schließlich zogen wir wortlos die Türen zum Thronsaal auf und gingen hinein. Meine Eltern zuckten vor Schreck zusammen, als sie die leblose Ade erblickten. 

Das Schwert, welches der Königin des Nachtreichs ihr Leben genommen hatte, war mittlerweile entfernt worden. Ich sah es nicht mehr neben ihr liegen. Nur die blutige Spur war zurückgeblieben.

Kazumi war noch immer an Ades Seite. Irgendwann musste sie wohl aufgegeben haben, stark wirken zu wollen. Ihr Gesicht war rot vom vielen Weinen und ihre Körperhaltung zeigte, wie zerstört sie war.

Auch mir kamen nun wieder fast die Tränen, wie ich die beiden da so liegen sah.

Ich hatte mich nicht richtig von Ade verabschieden können und nun lagen mir so viele ungesagte Worte auf dem Mund. Ich wollte ihr von unseren Fortschritten erzählen, ihr sagen, dass Hoffnung bestand. Wir würden es schaffen, wir würden die Erde retten.

Auf der rechten Seite meines Sichtfeldes nahm ich eine Bewegung wahr. Alles war verschwommen, da sich wieder Tränen in meinen Augen gebildet hatten. Ich blinzelte sie beiseite.

Es war eine Person, welche die Bewegung in meinen Augenwinkeln erzeugt hatte.

Luna stand vor mir. Auch sie sah schlimm aus. Der Mordlust in ihrem Blick hatte sich nun wieder in Traurigkeit verwandelt.

Ich sah Lance nirgendwo und auch ihre Eltern waren nicht bei ihr. Kurz bekam ich Panik. War ihren etwas zugestoßen?

Luna musste meinen Blick richtig gedeutet haben, denn sie schüttelte den Kopf und flüsterte: „Ihnen geht es allen gut."

Eine weitere Träne lief ihre Wange nach unten. Sie weinte ebenfalls um Ade.

„Wir müssen Kazumi von hier wegbringen", flüsterte Luna. „Je länger sie hier ist, desto schmerzvoller wird der Abschied."

Ich nickte. Das war eine gute Idee. Die Distanz würde sie vielleicht dazu bringen, ein bisschen Ruhe zu bekommen. Natürlich würden die nächsten Tage, Wochen, Monate oder vielleicht sogar Jahre nicht einfach für sie werden. Immerhin hatte sie ihre Lebensgefährtin verloren. Den Menschen, der ihr alles bedeutet hatte.

Aber wir konnten ihr immerhin helfen, sich nun zu verabschieden und dann erst einmal eine Nacht darüber zu schlafen.

Luna, Pia und ich gingen auf Kazumi zu. Sie sah nicht einmal auf, als wir näherkamen.

Seicht berührten wir sie, damit sie uns wahrnahm, und als sie schließlich erkannte, wen sie da vor sich hatte, ließ sie sich von uns hochziehen.

Sie sprach nicht, dafür war sie viel zu erschöpft.

Auch wir redeten nicht weiter, denn es gab nichts zu sagen. Wir begleiteten Kazumi nach draußen, doch zuvor warfen wir alle noch einen letzten Blick auf Ade, der mir wieder die Tränen in die Augen steigen ließ.

Ich würde sie nie wieder sehen, so viel war sicher, und das schmerzte so sehr!

Kurz hatte ich Panik, dass Kazumi sich von uns losreißen, und wieder auf Ade zu rennen würde. Ihrem Gesichtsausdruck nach, wollte sie ihre Frau noch nicht verlassen. Doch auch sie wusste, dass jede verstreichende Minute den Abschied schwerer machen würde.

Also nahmen Luna und ich ihre Hand und zogen sie behutsam mit uns. Unschlüssig wanderten wir eine Weile umher und endschieden uns schlussendlich für ein, uns unbekanntes, Zimmer.

Wir hatten extra nicht ihr Schlafzimmer, oder einen der viel genutzten Speise- Versammlungs- oder Ruheräume ausgewählt, da diese zu viele Erinnerungen geweckt hätte. Stattdessen war dieser Raum nur spärlich eingerichtet und für Kazumi hoffentlich nicht von Bedeutung. Er war ein eher weniger genutztes Gästezimmer.

Wir ließen sie aufs Bett fallen und wollten gerade gehen, doch sie schluchzte laut auf und sagte: „Bitte bleibt. Ich kann jetzt nicht allein sein." Und wir blieben.

Blieben, bis die Sonne unterging und Kazumi eingeschlafen war. Blieben, bis sie sich langsam in unseren Armen entspannte und ich Luna zum Aufbruch aufforderte.

Endlich hatte der Tag ein Ende gefunden.  

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top