𝐷𝑟𝑒𝑖𝑧𝑒ℎ𝑛


Die Reise durch ein Portal fühlte sie einfach magisch an. Jedes Mal aufs Neue überraschte mich die Unbeschwertheit, die ich durch den Flug erlangte. Ich war jetzt bereits ein paar Mal durch ein Portal hindurchgeflogen, doch das schöne Gefühl ließ nie nach. Auch Minuten nach der Ankunft auf der Erde fühlte ich mich wie im Himmel.

Alles war schön. Der Sonnenaufgang hinter den Baumwipfeln, der kleine Hase, der auf der Wiese vor mir herumsprang, und der seichte Wind auf meiner Haut. Dass uns vielleicht schreckliche Dinge bevorstanden, war im Moment egal.

Kurze Zeit flog ich einfach über dem Wald umher, sorgenlos und unbeschwert, doch dann ließ das berauschende Gefühl nach und es blieb die Einsamkeit.

Was ich Luna erzählt hatte, war wahr. Die meiste Zeit konnte ich es gut verbergen, doch ich fühlte mich einsam. Ich wusste, dass Marie, Saphira und Moritz meine Familie waren, doch nachdem die Phase der Freude über meine neuen Kräfte vorbei war, überlag die Traurigkeit. Es war schön, dass ich meine Eltern gefunden hatte, doch sie konnten mir nicht sagen, warum sie mich anfangs nicht gewollt hatte, weshalb eine gewisse Distanz immer bestehen würde. Wenn sie sich mir gegenüber nicht öffneten, konnte ich das auch nicht andersherum.

Ich wusste, dass es kein Grund war, Marie auszugrenzen. Ich sollte sie nicht dafür hassen, dass sie Zeit mit unseren Eltern verbringen durfte, und ich nicht. Aber manchmal tat ich es trotzdem. Sie schienen meine Eltern genug gemocht zu haben, um sie nicht wegzugeben.

„Pia?" Marie kam auf mich zugeflogen. Ich hatte mich ein wenig von der Gruppe entfernt, als meine Gedanken immer weiter abgedriftet sind.

Na großartig. Ich war mir sicher, dass ich so aussah, als stände ich kurz vor einem Weinkrampf. Und meine Schwester würde das sicher sofort spüren ...

„Ich komme", verkündete ich mit brüchiger Stimme. Schnell blinzelte ich die Tränen weg und flog zu ihr. Zum Glück hatte mich jahrelanges Training darauf vorbereitet, immer, wenn es gefordert war, eine Maske aufzusetzen.

Bitte frag mich nicht, ob es mir gut geht, dachte ich. Dann könnte ich sicher nicht standhaft bleiben. Wenn Marie etwas von mir wissen wollte, dann weihte ich sie normalerweise in alles ein. Sie hatte einfach einer Art an sich, die mich weich werden ließ.

„Geht es dir gut Pia?", fragte sie gerade. Ich schluckte. Super, genau das hatte sie nicht fragen sollen.

Nein, mir geht es gar nicht gut.

„Ja klar. Wo sind die anderen?" Unschlüssig suchte ich den Himmel nach meinen Mitreisenden ab, doch sehen konnte ich niemanden.
„Die sind bereits gelandet. Wir sollen doch auf der Erde nicht herumfliegen." Mist, das hatte ich vergessen. So wie viele andere Regeln der Natesim war diese noch nicht bei mir angekommen.

Auch wenn ich meine neue Familie nicht annehmen konnte, so schätze ich aber meine neuen Kräfte und würde sie am liebsten den ganzen Tag aktiviert haben. Fliegen war das aller Coolste!

Marie zeigte mit ihrem Finger auf eine Stelle zwischen den Bäumen, auf die wir dann zusteuerten.

Von weitem konnte man die goldenen Rüstungen der Reforten sehen. Falls wir jemals mit einem Zug oder Bus reisen wollten, mussten sie sich definitiv umziehen.

Als ich meine Flügel auflöste, indem ich die Energie wieder in mich hineinzog, machten sich die zwei Reforten - ich meinte mit daran zu erinnern, dass sie Valerian und Cyan hießen - bereits auf den Weg, dichter in den Wald hinein. Da sie das Navi hatten, vertraute ich ihnen natürlich, dass sie den Weg finden würden.

Die zwei unterhielten sich und lachten laut. Anscheinend schienen sie sich zu kennen.

Ich sah mich um. Luna hatte sich bei Lance untergehakt, und Marie redete mit Drew. Offensichtlich war ihr Essens-Date gut gelaufen, und das freute mich natürlich.

Da blieb noch Jugi übrig, die gerade, genau so hilflos wie ich, neben den anderen herlief.

„Hey", begrüßte ich sie deshalb.

„Jó napot", antwortete sie mir. Ich hatte keine Ahnung, was das für eine Sprache war und konnte nur erahnen, dass sie mich ebenfalls gegrüßt hatte. Deshalb sah ich sie wahrscheinlich ziemlich doof an. Sie lächelte. „Das war ungarisch."

„Ahhh", sagte ich gedehnt. „Wie alt bist du eigentlich?" Jetzt war ich wirklich gespannt.

„14."

„Und du kannst wie viele Sprachen?"
„11 fließend und 2 lerne ich gerade."

„Wie kamst du darauf, so viele Sprachen zu lernen?"
„Das war nicht meine Idee. Zumindest am Anfang. Meine Eltern hatten ihre Erdjahre in Russland und Kolumbien, weshalb sie mir später Russisch und Spanisch beibrachten. Meine Großeltern fanden das super und machten deshalb mit Französisch, Ungarisch, Italienisch und Koreanisch weiter. Das waren alles Sprachen, die sie im Laufe ihres Lebens mehr oder weniger gut sprechen gelernt hatten. Irgendwann habe ich mein Talent dafür erkannt, und mir selbst die nächsten Sprachen beigebracht."

„Wie cool", gab ich ehrlich zu. „Das würde ich auch gerne können."
„Ja, es ist sehr praktisch."

„Soll jetzt nicht doof klingen, aber inwiefern ist es praktisch? Sprechen im Tagreich nicht alle deutsch? Immerhin ist es ja nicht so, als würden Natesim wo anders geboren werden und ins Tagreich immigrieren können. Du wächst zwangläufig mit Deutsch als Muttersprach auf."

„Das stimmt schon, aber durch die vielen Sprachen habe ich freie Auswahl, wo ich mein Erdjahr machen möchte. Außerdem liebe ich es, Filme und Bücher in ihrer ursprünglichen Sprache zu sehen und zu lesen. Da fühlt man sich den Figuren nochmal mehr verbunden. Unser kleiner Trip hier war zwar nie in meinem Leben vorgesehen, aber jetzt kann ich mich auch hier als hilfreich erweisen." 

Ich lachte. „Das stimmt." Von den 6 Auserwählten lebte nur Paul in Deutschland. Ade nahm deshalb an, dass er deutsch beherrschte, aber man konnte nie wissen. Mit den anderen Auserwählten würde das Kommunizieren sicher kompliziert werden.

Da fiel mir noch etwas ein. „Hast du in den Sprachen, die du dir selbst beigebracht hast, schon mal mit einer anderen Person gesprochen?"
„Ja. Meine Mutter ist genauso ein Sprach-Nerd wie ich und wir gehen oft gemeinsam zu Kursen." 

„Es gibt Sprachkurse im Tagreich?"

„Na klar. Du kannst dort alles lernen was du möchtest. Ob du es brauchst, ist die andere Frage." 

„Was denn zum Beispiel?" Interessiert sah ich zu meiner kleinen Begleiterin.
„Es gibt auch Natesim, die Pilotenscheine machen, obwohl sie selbst fliegen können." 

Jetzt prustete ich los: „Das glaub ich nicht."
„Aber es ist wahr! Glaub mir! Andere telefonieren nur über das Telefon, obwohl sie die Seelenverbindung nutzen könnten."

„Aber warum das denn?" Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Es gab nur eine Situation, in der mir so ein Verhalten einleuchtete. „Also klar, ich kann verstehen, wenn es kleine Kinder sind, die die Seelenverbindung noch gar nicht nutzen können, aber Erwachsene? Warum sollte man auf so eine Gabe freiwillig verzichten wollen?"

„Manche Natesim fürchten sich davor, andere in ihren Kopf zu lassen. Sie haben Angst, dass ihre Schutzwand reißt, und Außenstehende Informationen bekommen könnten, die sie nicht hätten sehen dürfen."

„Das ergibt Sinn", gab ich zu. „Als Luna in meinem Kopf war, und plötzlich über Dinge geredet hat, an die ich nur gedacht habe, fand ich das auch nicht sehr gut." 

„Kannst du denn jetzt die Schutzwand erzeugen?"
„Klar", sagte ich mit höchster Selbstüberzeugung, was Jugi zum Prusten brachte.

Danach gab ich zu: „Naja, zumindest bei einer normalen Unterhaltung. Ich kann noch nicht mit Sicherheit sagen, dass sie einem Angriff standhalten würde." 

„Das bekommst du auch noch hin. Wenn man es wirklich möchte, ist es eigentlich ganz leicht." 

„Kann sein. Aber in letzter Zeit fällt es mir schwer, mich zu konzentrieren. Es ist einfach zu viel in meinem Kopf drin." 

Jugi nickte. „Ich bin sicher, du schaffst es trotzdem. Genauso, wie du den Feuerbändiger in Ades Kopf besiegt hast."
„Das war doch was ganz anderes." 

„Vielleicht. Aber Mut gemacht habe ich dir damit trotzdem." Sie zwinkerte mir zu. Dafür, dass sie erst vierzehn war, war sie ganz schön selbstbewusst.

Ich konnte schon jetzt spüren, dass Jugi eine coole Freundin sein würde. Wer mir auf den ersten Blick sympathisch war, blieb es meistens auch.

Jetzt, wo Jugi es angesprochen hatte, kamen für ein paar Sekunden die Erinnerungen an meine ersten Stunden im Tagreich zurück. Ade, wie sie im Feuer stand und mich böse angrinste. Dann meine Energie, wie sie gegen Jacob William angekämpft hatte. Und dann Ade, wie sie gerettet im Krankenhaus lag. Das hatte ich geschafft. Ich ganz allein. Vielleicht war ich doch zu was gut.

Ich grinste Jugi an. „Du hast recht. Ich werde es schaffen, im Ernstfall meinen Schutzwall oben zu halten." 

„Entschuldigung, wenn ich eure Unterhaltung störe, aber ich müsste Pia kurz entführen." Luna schnappte meinen Arm und zog mich zu sich. Ich hatte keine Chance Jugi ein Tut mir leid zuzurufen.

„Was ist los?", fragte ich sie.

Luna flüsterte. „Hast du mit Marie geredet."
„Noch nicht, aber ich ..." Luna unterbrach mich, indem sie mich ein zweites Mal am Arm zog.

Dieses Mal landeten wir bei Drew und meiner Schwester.

„Hallo ihr beiden", begrüßte Luna sie fröhlich.

Das Paar sah etwas wehmütig aus, da ihre Unterhaltung unterbrochen wurde, weshalb ich nur entschuldigend lächelte.

„Was möchtest du uns erzählen Luna?", fragte Marie sie.

„Ach gar nichts. Pia und ich wollten nur mal kurz zu euch rüber. Wir haben seit dem Aufbruch ja noch gar nichts voneinander gehört."
Marie zog eine Augenbraue hoch. Eine Eigenschaft, die keiner so gut konnte wie sie. „Wir sind seit zehn Minuten unterwegs."
„Ja, zehn Minuten ohne Gespräch. Grässlich. Ich habe es schon vermisst, deine liebliche Stimme zu hören" Luna strahlte.

Drew sah zwischen den beiden hin und her. „Was geht hier ab?"

„Naja, ihr wart so allein, und da dachten wir uns, dass wir euch Gesellschaft leisten wollen."
„Und dafür habt ihr Lance und Jugi allein gelassen?" Marie war immer noch skeptisch, was ich ihr nicht verübeln konnte.

„Nun ja ... ja. Aber die können gerne auch dazu kommen. Genauso wie ..." Luna sah die zwei Reforten an. Ich wusste sofort, dass sie keine Ahnung hatte, wie die beiden hießen. Typisch ...

Ich grinste breit und neckte Luna, indem ich wie beiläufig die Namen erwähnte. „Ich werde Valerian und Cyan Bescheid geben."

„Sehr gut."

Die zwei sahen nicht sehr gesprächig aus. Schweigend liefen sie in ihren goldenen Rüstungen durch den Wald und nickten sich nur zu, wenn sie die Richtung änderten. Das Gesprächsthema, das sie vorhin hatten, war wohl nicht spannend genug gewesen, um eine richtige Unterhaltung zu führen.

Ich zog die Luft ein und quetschte mich zwischen sie. „Hey ihr beiden."

Sie grüßten zurück und sahen mich fragend an.
„Luna und Marie hatten die Idee, dass wir jetzt alle nebeneinander laufen, um uns zu unterhalten. Wie an einer riesigen Redekette. Vielleicht wollt ihr ja auch dazukommen."

Sie sahen immer noch nicht überzeugt aus. Aber was war das auch für eine Idee von Luna? Wir waren nicht im Kindergarten und auch nicht auf einer Kennenlernreise durch den Wald, sondern auf einer wichtigen Mission.

Doch etwas Besseres zu tun hatten wir auch nicht.

„Ihr müsst auch nicht kommen. Wenn ihr nicht wollt, bleibe ich einfach bei euch", entschied ich. „Wie geht's euch so? Was habt ihr so für Hobbys?" Ok, jetzt klang die Unterhaltung zu sehr, als würde ich einfach ihre Steckbriefe abfragen. Warum hatte ich das bloß gesagt?

Valerian schien das nicht zu stören. „Ich spiele Gitarre. Und manchmal singe ich auch in einer kleinen Band."

„Ich male gerne", erklärte Cyan.

„Cool. Und was malst du so am liebsten?"
„Den Ozean. Ich lebe mit meiner Familie in Enwia in einem kleinen Strandhaus. Das heißt, ich habe jede Menge Möglichkeiten, mir das Wasser genauer anzusehen und die Fische aus der Nähe zu betrachten."

„Wow", sagte jetzt auch Valerian. „Das klingt super."

Wir unterhielten uns noch lange über ihre Hobbys und auch ich erzählte, was ich am liebsten tat. In meiner Freizeit hörte ich Musik, probierte neue Rezepte aus, spiele Computerspiele oder ging auf Konzerte.

Irgendwann stieß Luna wieder zu uns. Ihre Versuche, mich dazu zu bringen, mich mit Marie zu unterhalten, nervten zwar, aber ich konnte sie gut abwehren, so dass Marie die Einzige war, mit der ich nicht geredet hatte, als wir vor Paul Fox' Haus ankamen. Es war nicht so, dass ich vorhatte, sie für immer zu ignorieren, aber ich brauchte zumindest für kurze Zeit Abstand von meiner neuen Familie.


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Das Haus der Fox's grenzte zu unserem Glück direkt an den Wald an, sodass wir den Garten von hinten betreten konnten, und dann an die Balkontür klopfte. So wie es aussah, war keiner zuhause. Das Licht war aus und die Rollläden der Fenster geschlossen. Aber es war ja auch erst 9 Uhr morgens und das an einem Dienstag. Wahrscheinlich arbeiteten die Eltern noch. Was Paul betraf, wussten wir nicht, ob er noch in die Schule ging, eine Ausbildung machte, studierte, oder arbeitete. Mit zwanzig Jahren war alles möglich. Leider auch, dass er gerade ein Auslandjahr machte oder bereits ausgezogen war und deshalb gar nicht zuhause war.

Mir fielen noch weitere, ungünstige Situationen ein, als plötzlich Bewegung im Haus meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Auch Marie, die jetzt neben mir stand, sah es und deutete mit ihrer Hand darauf, damit auch die anderen es bemerkten. Valerian kloppte wieder, und die Gestalt, die gerade die Treppe heruntergekommen war, sah zu uns.

Mir blieb für eine Sekunde das Herz stehen, als ich dem Jungen in die Augen sah. Als ich realisierte, in was für Augen ich da sah. Das eine war schwarz, das andere golden.

Es waren die Augen eines Auserwählten.

Ich war nicht die Einzige, die so überwältigt von der Situation war. Das ganze Team hielt für kurze Zeit die Luft an, bis Luna flüsterte: „Das ist er." Freudig sprang sie ein paar Mal auf und ab. Die schwarzen, schulterlangen Haare wippten im Takt.

Pauls Gesichtsausdruck im Haus konnte man nur schwer ausmachen, doch als er langsam auf uns zu trat, wechselte er wahrscheinlich von geschockt zu irritiert. Sicher fragte er sich, was für merkwürdige Gestalten da in seinem Garten standen.

Luna winkte ihm freudig. Auch wenn er sie durch das Glas der Scheibe nicht hören konnte, redete sie bereits mit ihm. „Wie toll, dass wir dich gefunden haben. Das war einfacher als gedacht. Ich bin schon ganz gespannt, was du gleich sagen wirst, wenn wir dir alles erzählt haben."

Als er näherkam, konnte man Paul deutlicher erkennen. Anscheinend trug er noch seinen Pyjama. Er hatte rote Haare und auf seiner Nase tummelten sich abertausende an Sommersprossen. Außerdem war er sehr groß, sodass er uns alle überragte.

Der junge Mann schob die Gardine beiseite, welche noch die Hälfte der Glasfront verdeckt hatte und musterte uns alle nacheinander durch die Scheibe. Sein Blick blieb schlussendlich erst an Marie und dann an mir hängen. Seine Augen weiteten sich, als er die Farben in Maries und meinen Irisen erkannte.

Wahrscheinlich war das auch der Grund, warum er uns schließlich die Tür öffnete. Eine Ähnlichkeit in unseren Augen zu erkennen, hatte Paul so viel Vertrauen geschenkt, dass er sich traute, und hineinzulassen.

Oder vielleicht war er auch einfach zu neugierig.

„Wer seid ihr? Was wollt ihr von mir?", fragte er mit fester Stimme, als er langsam die Balkontür aufzog.

Ich wollte ihm antworten, doch Luna kam mir zuvor. „Wir müssen mit dir reden Paul."
„Woher kennt ihr meinen Namen?"

Ich versuchte erneut, mit ihm zu sprechen. Luna sollte wirklich lieber mir die Erklärung überlassen. Ich war mal in Pauls Lage gewesen, ich wusste, wie er sich fühlte. „Lass uns bitte rein, dann werden wir alle deine Fragen beantworten."

„Erst, wenn ihr mir sagt, wer ihr seid."

„Ich bin Pia. Das sind Marie, Drew, Lance, Jugi, Valerian, Luna und Cyan. Wir kommen aus dem Tag- und Nachtreich, um dich abzuholen. Wir brauchen dich, um die Erde zu retten. Kannst du uns bitte reinlassen?"

„Dir ist schon klar, dass mir das alles gar nichts gesagt hat, oder?" Paul rang sich ein Lächeln ab.

„Ich kann dir das gerade leider nicht besser erklären, aber wenn du uns dein Vertrauen schenkst, können wir dich in alles einweihen."
„Und dafür müsst ihr in mein Wohnzimmer kommen?"

Ich lächelte schüchtern. Wahrscheinlich war das wirklich keine sonderlich schlaue Taktik gewesen. Jeder Entführer hätte auch als erstes gefragt, ob er ins Haus kommen dürfte.

„Wir können das auch auf der Terrasse klären", schlug ich ihm vor. „Uns geht es wirklich nicht darum, reinzukommen. Es ist nur wichtig, dass du die Wahrheit erfährst."

Paul winkte ab. „Nein, schon gut. Kommt rein."

Erleichtert atmete ich aus. Wenigstens das hatte schon mal geklappt.


꧁꧂


Nachdem wir uns alle im Wohnzimmer verteilt hatten, sah Paul unschlüssig zwischen uns hin und her. Offensichtlich wusste er nicht, was er von seiner Lage halten sollte.

„Paul, kannst du deine Eltern anrufen, und ihnen sagen, dass sie herkommen sollen? Es ist wichtig, dass auch sie mit uns reden."

„Ich denke nicht, dass sie Zeit haben."

„Dann sag ihnen, dass Sverre und Ade uns schicken. Dann werden sie kommen."
„Wer?" Paul runzelte die Stirn.

„Lass mich mit ihnen telefonieren", bot Luna an.

Paul nickte unsicher und holte das Telefon. Verständlicherweise schien er sich unwohl zu fühlen, zwischen all den fremden Menschen. Als er Luna das Telefon hinhielt, bemerkte ich, dass seine Hände zitterten. „Ich habe bereits die Nummer meiner Mutter gewählt", erklärte er ihr.
„Danke Paul."

„Man spricht es anders aus. Paul." Er betonte seinen Namen auf Englisch. „Und du musst deutlich sprechen, meine Mutter kann nicht allzu gut deutsch."
Die Natesim sahen sich vielsagend an. Jugi hatte vorhin wohl recht gehabt. Die Eltern der Auserwählten versuchten, ihre Vergangenheit abzulegen und dafür dachten sie sich Geschichten aus.

Noch konnten wir Paul nicht erklären, dass seine Mutter sehr wohl Deutsch konnte. Ich hoffte nur, dass es sich nachher nicht als etwas herausstellte, was sich zwischen ihr und ihren Sohn stellte. Nachdem Paul von seinem Schicksal erfahren hat, würde er die Unterstützung seiner Eltern brauchen.

Luna lächelte. „Danke, ich schaffe das schon." Sie ging aus dem Raum und ließ uns schweigend zurück. Keiner wusste, wo wir anfangen konnten. Was hatten Saphira und Moritz gesagt, als sie mir von all dem erzählt hatten? Ich konnte mich nicht mehr erinnern. Dafür war der Tag zu aufregend gewesen.
Damals hatte ich noch gedacht, ich wäre nur in einem sehr merkwürdigen Traum, aus welchem ich hoffentlich bald erwachte.

Ich nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass auch Marie überlegte, wie wir Paul von seinem Schicksal erzählen sollte.

Sie hatte mir mal davon erzählt, wie sie von den Natesim erfahren hatte. Marie war nach einer Verfolgungsjagt mit Jacob William in einem dunklen Keller aufgewacht und Luna hatte sich ihr mit ihren Flügeln gezeigt. Danach hatte Luna wohl erst die legendäre Geschichte rund um die Natesim erzählt, bevor sie auf die Auserwählten und schließlich auf ihre persönliche Geschichte zu sprechen kamen.

Während ich noch immer überlegte, wo ich anfangen sollte, kam Luna wieder ins Zimmer. „Sie kommt so schnell sie kann und sagt deinem Vater Bescheid."

Paul nickte nur. Anscheinend war auch er in einem Stadium, in welchem er sich fragte, ob er einfach in einem sehr merkwürdigen Traum gefangen war.

„Erzählt ihr mir jetzt bitte mal, was hier abgeht?", fragte er vorwurfsvoll. „Ihr steht in meinem Garten und wollt mir irgendwas erzählen und jetzt habt ihr meine Mutter angerufen. Also, worum geht es?"

„Das ist kompliziert. Aber wir werden versuchen, dir alles begreifbar zu machen." Luna nahm neben Lance auf dem Sofa Platz. Offensichtlich hatte sie beschlossen, dass sie die Geschichte erzählen wollte. Eigentlich war ich ganz froh, dass sie den Part übernahm. Ich war noch nie eine sonderlich gute Erzählerin gewesen. „Hast du dich jemals gefragt, warum du zwei verschiedene Augenfarben hast?", fragte sie Paul.

Er schluckte. „Nun ja ... ja. Als ich in die Schule gekommen bin haben mich ein paar der Kinder blöd angeguckt. Dann haben mir meine Eltern im Internet Bilder von anderen Kindern gezeigt, die unterschiedliche Augenfarben haben und mir gesagt, dass es nicht schlimm ist."

„Ok." Luna überlegte. „Bei den anderen Kindern ist das wohl wirklich nur ein Gen-Defekt, doch bei dir ist es etwas anders. Deine Augen haben eine Bedeutung."
„Aha. Und welche?"

„Ist dir jemals ein komisches Ereignis mit einem Stern passiert?"

Paul schluckte wieder. So wie er aussah, hatte Luna mit ihrer Frage voll ins Schwarze getroffen. Und er fragte sich wohl gerade, woher Luna von seiner Vergangenheit wusste. „Ja, da gab es mal einen Stern, der in mein Zimmer geflogen ist. Der Traum fühlt sich bis heute sehr real an. Aber wenn ihr so fragt, war das kein Traum, oder?"

Anscheinend kannte er die Antwort auf seine Frage schon, denn als Luna den Kopf schüttelte, nickte er nur. „Das habe ich mir schon gedacht."

Luna erzählte weiter. „Sonne und Mond haben dir damit ihre Energie geschickt. Du bist einer der acht Auserwählten, du musst uns helfen, die Erde zu retten." 

Während Paul über das Gesagte nachdachte, sah ich die verschiedenen Emotionen, die er durchlief. Erst Unglauben, Verstehen, Freude, Wut und Traurigkeit. Schließlich sagte er: „Warum erfahre ich davon erst jetzt?"

„Sagen wir, es gab einige Schwierigkeiten, aber jetzt fühlen sich die Reiche bereit, die Erde zu retten." Luna lächelte noch immer breit. Sie schien wohl zu versuchen, ihn durch Freundlichkeit von ihren Worten zu überzeugen.

„Geht es vielleicht ein bisschen genauer?" Paul sah in die Runde. „Ich sitze hier mit merkwürdigen Menschen, vier davon in goldenen Rüstungen, zwei, mit dem gleichen Augenproblem, was ich anscheinend auch habe und was mir magische Kräfte gibt, einer Jugendlichen und einer merkwürdigen Grinsekatze in einer Runde." Paul deutete auf uns. Bei seinem Vergleich von Luna mit einer Grinsekatze mussten wir alle lachen. Nur Luna gab Lance einen leichten Hieb dafür, dass er über sie lachte.

„Hey!", beschwerte sich ihr Freund.

Dann sammelte sich Luna wieder und sah zu Paul.
„Tut mir leid, ich versuche in Zukunft weniger zu lächeln, wenn es euch alle glücklich macht. Und es tut mir leid, dass wir dich mit all dem so überfallen. Ich versuche, vorne anzufangen."

Dann begann Luna die wahre Geschichte über die Entstehung von Sonne und Mond zu erzählen. Und wie jedes Mal, wenn jemand die gesamte Historie zum Besten gab, konnte ich nicht glauben, dass ich ein Teil von ihr war. 

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