Kapitel 9 || Aaron

Bisher hatte ich angenommen Alea sei einfach gutgläubig. Doch inzwischen war ich mir da gar nicht mehr so sicher. Denn ihre Vorschläge balancierten auf dem schmalen Grad an der Grenze zur Lebensmüdigkeit.

»Sollen wir euch dann als Köder benutzen, oder was?«, hörte ich mich sagen, als ich die Gruppe wieder eingeholt hatte.

Im nächsten Moment biss ich mir verärgert auf die Zunge, um nicht noch mehr Blödsinn von mir zu geben. Am Ende brachte ich sie zu noch mehr solcher lebensmüder Ideen!

»Bevor du mich als Köder einsetzt, hacke ich dir den Kopf ab!«, drohte Jacky vor Angriffslust strotzend.

Beim nächsten Mal sollte ich sie vielleicht doch dem Mutanten übergeben. Dann vermeide ich eine Auseinandersetzung und erspar mir weitere Streitereien mit dieser verdammten Frau. Allerdings würde mir Alea ganz bestimmt dafür eine reinhauen, was ich dann vermutlich auch verdient hätte.

»Bevor du mir den Kopf abhackst, hab ich dein ganzes Blut ausgesaugt!«, konterte ich und erinnerte mich damit leider auch wieder an das stärker werdende Brennen in meinem Hals.

Hilfesuchend sah ich zu Zak, der Alea gerade etwas zuflüsterte. Nur er als Mutant, konnte mein Problem gerade wirklich nachempfinden. Die langjährige WG machte sich bezahlbar, denn er deutete meinen Blick richtig. Darauf folgte ein besorgtes Augenbrauen hochziehen.

»Hast du etwa noch nicht... ?«, für die anwesenden Menschen ließ er den Satz netterweise unbeendet.

Und auch mir war nicht wohl dabei, es ausgesprochen zu hören. Mich daran zu erinnern, dass ich ein Monster war. Nicht das menschliche Wesen, welches ich in der letzten Stunde geglaubt hatte zu sein. Welches Alea in mir hervorrief.

»Es kam soviel dazwischen! Erst Alea, dann die Suche nach ihren Freundinnen, dann Jacky und jetzt du!«, verteidigte ich mich nach einem schuldigen Kopfschütteln.

»Ich glaube wir müssen euren Kumpel nicht mehr suchen.«, hörte ich die schwache Stimme von Aleas Freundin unser Gespräch unterbrechen.

Allarmiert drehte ich mich zu ihr um und erkannte, was sie damit gemeint hatte. Noel stand vielleicht fünfzehn Meter von uns entfernt, mitten auf der halbdunklen Straße. Überall lagen Leichen - neben dem Bordstein und auf der Straße verteilt. Es sah aus wie ein Schlachtfeld! Was für ein Kampf hatte er hier auszutragen, dass er sich auf einmal so veränderte?!

Angst kroch mir den Rücken hinauf. Nicht um mich! Mein Leben war mir ziemlich egal - oder zumindest deutlich weniger wichtig. Sondern vor allem um eine hübsche, eventuell lebensmüde Brünette.
Ich hatte eigentlich gehofft mir noch einen Plan auszudenken, wie ich sie noch in Sicherheit schaffen kann. Allerdings war es dafür jetzt mehr als zu spät. Daher musste ich wohl oder übel improvisieren.

»Noel?«, rief ich.

Vielleicht erkannte er mich und kam wieder zur Besinnung, hoffte ich inständig. Doch selbst auf die Entfernung, bei der schwachen Beleuchtung, konnte ich seinen irren Blick sehen, die Wut und Aggression darin.  Und das Messer in seiner Hand. Das Messer, welches wir immer bei uns trugen, um nicht noch mehr unserer Sorte zu erschaffen. Nur rissen wir damit nächtlich bloß eine Person aus ihrem Leben und jetzt war es schon eine ganze Straße voll.

Ein ungutes Gefühl machte sich in meinem Magen breit. Was auch immer das für ein Kampf war, den er hier führte und der schon so viele Opfer gefordert hatte, er würde ihn nicht alleine kämpfen können. Obwohl er mehr durchgemacht hatte als ich mir vorstellen konnte und mochte, würde er alleine nicht stark genug dafür sein. Ganz besonders Zak und auch ich waren ja für ihn da - er musste nicht alleine sein! Doch was immer diese Opfer gefordert hatte, wollte er offenbar nicht an uns heranlassen.

Mit erhobener Waffe rannte er im nächsten Augenblick schreiend auf unsere Gruppe zu, sein nächstes Opfer fest im Blick. Schützend stürzte ich sofort nach vorne, ihm entgegen. Dicht gefolgt von seinem Freund. Gemeinsam bekamen wir ihn zu packen und konnten ihn festhalten. Allerdings wehrte er sich ganz schön dagegen, so dass er mich durch einen gezielten Kinnhaken von sich wegstoßen konnte. Danach war es ein Kinderspiel für ihn, sich von Zaks Händen zu befreien.

Ohne dass ich ihn nochmals hätte fangen können, war er bereits auf eine der drei Frauen gestürzt. Nicht sie, betete ich mit rasendem Herzen. Würde ihr was passieren, könnte ich das weder ertragen, noch mir verzeihen.

Nachdem ich erkannt hatte, wie erfolglos meine Gebete waren, rappelte ich mich schnell wieder auf, um in Windeseile wieder bei der Gruppe zu sein. Noel hatte Alea gegen eine Hauswand gepresst und drückte ihr das Messer gegen die Kehle.

Meine Kiefer pressten sich schmerzhaft aufeinander, um mich von unüberlegten Dummheiten abzuhalten. Ich hätte ihn besser fest halten sollen, rügte ich mich. Wenn sie jetzt starb, wäre es meine Schuld.

»Noel! Ganz ruhig, okay?«, redete Zak auf ihn ein und nährte sich ihm langsam.

Wie festgefroren stand ich ein paar Meter entfernt, bei den anderen beiden Frauen. Durch den Schock schien ich völlig regungsunfähig. Mit angehaltenem Atem verfolgte ich angespannt das Spektakel.

»Nimm das Messer bitte runter.«, flehte der Schwarzhaarige seinen Freund an.

Ohne Protest wäre das Ganze ja zu einfach gewesen. Daher kam dieser auch mit entschlossener Stimme von Noel:

»Nein, niemals!«

Diese Entschlossenheit, gemischt mit der Wut, in seiner Stimme verpasste mir eine eiskalte Gänsehaut. Vielleicht lag die eisige Kälte auch an der fehlenden Sonnenwärme. Aber erstmal hatte ich dringendere Probleme, als so einen popeligen Stern! Nämlich diese unschuldige Frau verdammt nochmal aus den Händen meines Kumpels zu befreien!

Zak versuchte weiterhin gut auf den Blonden einzureden:

»Weißt du, sie ist eine der Guten!«

Aufgebracht widersprach der Bewaffnete seinem Freund:

»Nein! Es gibt keine der Guten!«

»Vielleicht hast du Recht.«, mischte sich die Gefangene plötzlich selbst ein.

Mach es bitte nicht noch schlimmer, flehte ich in Gedanken. Wobei sie gerade auf dem besten Weg genau dorthin war.

»Nein, natürlich gibt es auch gute Menschen.«, versuchte Zak das Unheil noch abzuwenden.

Allerdings schien sie nicht angetan von der Idee, Zak das Reden zu überlassen und startete eine Diskussion:

»Woher willst du wissen, dass ich zu ihnen gehöre? Du kennst mich seit maximal fünf Minuten. Vielleicht hab ich es ja verdient!«

»Also los! Schneid mir die Kehle durch!«, wendete sie sich mit fester Stimme wieder an Noel.

War sie jetzt völlig übergeschnappt?! Warum wollte sie unbedingt sterben? Da gab es doch zig andere Wege und sie wollte meinen besten Freund ein weiteres Leben beenden lassen?! Glücklicherweise schien Noel aber wieder zur Besinnung zu kommen, denn er ließ das Messer ein Stück sinken.

»Verdammte Scheiße, warum sollte ich das tun?!«, das klang schon wieder eher nach dem Noel, den ich kannte. »Warum?«, wiederholte er verwirrt noch einmal ganz leise die Frage.

»Ich hab keine Ahnung wieso, aber du bist extrem sauer auf die Menschen. Warum solltest du bei mir also eine Ausnahme machen?«, stellte die lebensmüde Frau eine Gegenfrage und schien damit auf ihn einreden zu wollen.

»Alea, hör auf.«, versuchte ich sie davon abzuhalten noch mehr Blödsinn zu reden.

»Du willst, dass ich dich umbringe?«, fragte Noel eher rhetorisch und plötzlich wieder total in Rage.

Sofort schnürte es mir die Kehle zu, als er das Messer wieder an ihre Kehle setzte. Ihr Leben sah ich vor meinem geistigen Auge bereits schwinden. Wie Wasser durch die Finger rinnt, den Händen entgleitend. Das reine Blut ihre Kehle verlassen und ihre Augen ganz leer werden.
Ein verzweifelter Aufschrei blieb mir hilflos im Hals stecken. Aber dann nahm Noel das Messer runter und ließ kopfschüttelnd von ihr ab.

»Ich kann nicht.«, wiederholte er in Trance ein paar Male.

Erleichtert entspannte ich mich. Sie lebte! Das war momentan alles was zählte.

»Wieso?«, stocherte sie in der Wunde herum.

Wenn sie schon mit Messer an der Kehle, gegen eine Wand gepresst, den Mund nicht halten konnte, warum sollte es dann ohne Messer anders sein? Aber trotzdem hatte ich gehofft ihre Lebensmüdigkeit würde ohne den Adrenalin-Kick abklingen.

»Weil du unschuldig bist.«, stellte Noel vernünftig fest.

Wenigstens er machte bei diesem Selbstmordversuch nicht mehr mit.
Jetzt wo ich mir ziemlich sicher war, dass sie nicht naiv, sondern tatsächlich lebensmüde war, brachte sie dieses Wissen mit ihrem nächsten Satz schon wieder ins Wanken:

»Und all die anderen Menschen?«

Ihre Stimme klang nicht vorwurfsvoll oder anklagend, als sie auf die Straße wies. Sondern einfühlsam, besorgt, ja fast schon mitleidig.

Wie konnte sie noch immer ruhig und einfühlsam mit ihm umgehen?! Er hatte Dutzende von Menschen abgeschlachtet und auch sie mit einem Messer bedroht! Dabei sprach sie mit ihm, als wäre er gerade bedroht worden.

Mit ihrer letzten Frage, hatte Alea ihm offenbar die Augen geöffnet. Langsam schien dem Blondschopf bewusst zu werden, was er getan hatte. Als er den Boden unter den Füßen verlor, war Zak bereits bei ihm, um ihn liebevoll aufzufangen.

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