Kapitel 2 || Alea

Plötzlich waren wir umhüllt von Dunkelheit. Am helligtem Tage schaltete sich die Sonne mit einem Mal aus, als wären wir nicht zu hundert Prozent auf sie angewiesen. Als wäre es ihr egal, dass wir ohne ihren Schutz dem Tode ausgeliefert waren.

Hilfesuchende Schreie halten über die Straße und eine panisches Gedrängel entstand. Ich wollte noch nach Julis Hand greifen, doch diese stand nicht mehr neben mir. Die Leute liefen wild durch einander, rempelten mich an, schubsten mich mal nach links und dann wieder nach rechts.

»Alea? Juli?«, hörte ich Ellis Stimme nah bei mir.

»Elli?!«, rief ich etwas lauter.

Verstärkt wurde ich von den Menschenströmen in die entgegengesetzte Richtung geschoben, aus der ich Elli gehört hatte. Mein Sicht war durch die Dunkelheit erblindet.

»Alea!«, hörte ich Elli nochmals schwach meinen Namen rufen, doch sie klang bereits viel weiter weg.

»Elli?!«, suchte meine verzweifelte Stimme nach einer Antwort.

Doch ich hörte Ellis Stimme nicht mehr, zu laut waren die Geräusche, die auf der Straße entstanden. Mutlos kämpfte ich gegen die aufsteigenden Tränen der Verzweiflung und stellte meine Gegenwehr gegen den Strom ein. Besser als dadurch noch einen Kampf anzuzetteln. Hilflos ließ ich mich mit ziehen. Bis einige hundert Meter vor uns plötzlich lautes Geschrei anfing. Urplötzlich wurde ich in eine andere Richtung gedrückt und stolperte über meinen Fuß. Schmerzhaft prallte ich auf den Asphalt, obwohl ich mich mit meinen Armen abfing. Doch die Leute nahmen darauf keine Rücksicht und trampelten auf meinen Körperteilen herum. Hier wurde man wortwörtlich totgetrampelt, erfuhr ich am eigenen Leib.

Schnell versuchte ich mich wieder aufzurichten. Aber sobald ich fast wieder stand wurde ich schon wieder umgerannt. Nach einigen Versuchen änderte ich meine Strategie und kroch vor bis zur Hauswand, welche mir wenigstens von einer Seite Schutz bot.

Mit einem Mal wurden die Straßenlichter eingeschaltet und erhellten die Hauptstraße. Sofort kniff ich die Augen zusammen, um mich langsam wieder an das grelle Licht zu gewöhnen. Dann sah ich mich um und entdeckte wenige Meter von mir entfernt eine Abzweigung. Hastig krabbelte ich dorthin und wurde unterwegs mehrfach nieder getrampelt und steckte so einige Tritten ein.

Nachdem ich die kleine Seitenstraße erreicht hatte und wieder auf zwei Beinen stand, konnte ich - dank der hellen Straßenbeleuchtung - nun erkennen, warum die Menge mit einem Mal die Richtung geändert hatte. Dutzende von Mutanten stellten sich ihnen in den Weg und fielen über sie her. Mir wurde ganz schlecht, als ich daran dachte, dass Juli normalerweise jemand ist, der sich an die Spitze setzt. Wenn sie nun auch auf Mutanten getroffen war... Daran wollte ich lieber nicht denken. Trotzdem entfloh mir eine Träne, der eine zweite folgte.

Die Mutanten verteilten sich, mischten sich unter die Leute und verbreiteten sich schneller als die Omikron Variante des Coronavirus. Durch die Beleuchtung, hatten die Mutanten einfaches Spiel. Mein Vorteil war, dass diese Seitenstraße nur spärlich beleuchtet war. Das steigerte meine Chancen nicht sofort gebissen zu werden. Aber alleine waren meine Chancen zu überleben letztendlich trotzdem gleich null.

Einige Schritte taumelte ich hilflos zurück, bevor ich den Blick von dem scheußlichen Schauspiel, das sich mir bot, losreißen konnte. Vor Schreck hielt ich die Luft an, als ich am Ende der Straße eine Gestalt erkannte. Adrenalin schoss durch meine Adern und mein Herz begann wie wild zu schlagen.

Ohne groß darüber nach zu denken - die Pros und Contras abzuwiegen - jagte ich in die nächste Abzweigung. Es war dunkel und roch gammelig. Doch das rutschte ganz weit in den Hintergrund, als die Gestalt um die Ecke bog und stehen blieb. Sie hatte mich gesehen! Ein flehender Ton, der einem Wimmern glich, huschte mir über die Lippen. Panisch sah ich mich um und wollte weg rennen, doch die Wände um mich herum hielten mich ohne Ausweg gefangen. So blieb mir nicht viel übrig, weshalb ich bis zur Wand schwanken und mich an sie presste, als würde sie sich auftuen und mich ein saugen. Aber nichts passierte. Die Gestalt mit der kalkweißen Haut, kam weiter auf mich zu und kesselte mich ein.

Wie sollte ich Juli und Elli jemals wieder finden, wenn ich jetzt selbst gebissen wurde? Verzweiflung überkam mich und ich brach in Tränen aus. Selbst wenn ich überlebt hätte, hätte ich keine Ahnung gehabt, wie ich sie hätte finden sollen.

Das Gesicht in den Händen vergraben schluchzte ich leise vor mich hin und war verwundert, dass ich immer noch nicht gebissen wurde. Hatte er es sich anderes überlegt? Wollte er mich jetzt doch lieber jemand anderem überlassen? Um selbst ein Bild von der Situation zu bekommen öffnete ich die Augen und lugte zwischen meinen Fingern hindurch.

Vor mir stand - deutlich zu erkennen an der unnatürlich weißen Haut - ein Mutant. Nicht viel älter als ich, würde ich schätzen, vielleicht Ende zwanzig. Seine lockigen Haare trugen die Farbe eines schönen Brauns, welches an Eichenholz erinnerte. Dazu zwei passend graue Augen, die einem Kristall glichen. Niemals hätte ich gedacht, dass ein Mutant so schön sein könnte.

»Hey!«, erschreckte mich eine unfreundliche Stimme, die hinter dem Mutanten erklang und ließ mich zusammen Zucken.

Ich konnte nicht erkennen wer hinter ihm stand, denn er nahm durch seine Schulter den Großteil meines Blickfeldes ein.

»Such dir gefälligst dein eigenes Futter!«, blaffte er augenblicklich zurück, offenbar nicht bereit mich zu teilen.

Zähneknirschend verschwand der andere wieder und machte sich wohl auf die Suche nach seinem eigenen Futter. Das Augenpaar des Bleichen legte sich wieder auf mich. Wollte er mich jetzt wirklich beißen? Somit würde er die giftigen Stoffe auch in mein Blut übertragen und mich zu einem seiner Art machen. Aber anstatt seine Zähne in meinem Fleisch zu vergraben sah er mich einfach nur an. Er stand da und blickte mir in die Augen, als würde er versuchen die Bedeutung eines Kunstwerkes herauszufinden. Was erwartete er von mir?

Bevor die Ungewissheit mich ganz zerfressen konnte, brachte er einen einzigen Satz heraus:

»Alles okay bei dir?«

Diese Frage brachte meine inneren Dämme zum brechen, die Sorge meine Freundinnen nicht wieder zu sehen machte mich Wahnsinnig. Außer ihnen hatte ich doch keinen mehr!

Tränen flossen wie Wasserfälle aus meinen Augen und hilflos suchte ich Schutz bei dem einzigen Wesen, dass in meiner Nähe war. Egal ob Mutant oder nicht, ob giftig, gefährlich oder gar tödlich, ich war gerade einfach ein emotionales Nervenbündel und mir war es egal gegen wessen Brust ich mich gerade lehnte. Meine Arme schlossen sich um seinen Rücken und drückten mich schützend noch näher an ihn, während die Wörter wie unvollständige Sätze meinem Mund entkamen. Hin und wieder wurde mein Redeschwall durch Schluchzer unterbrochen, welche meinen Körper heftig zum Beben brachten.

Ihn schien mein Gejammer nicht zu verschrecken, denn tröstend schloss er seine Arme um meine Schultern und fuhr mir beruhigend über die Haare. Obwohl er mich einfach reden ließ und mich kein einziges Mal unterbrach - nicht mal durch ein zustimmenden Laut, der mir signalisiert hätte, dass er mir zuhört - sagte seine Geste so viel. Ganz sicher war ich mir noch nicht, aber ich hatte das Gefühl er würde mich mit meinen Sorgen nicht einfach alleine stehen lassen und dem Tod übergeben.

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