Sommerregen
Warnung!!!
Dies soll auf keinen Fall Ermunterung zum Suizid sein! Ich möchte dieses Thema auch keineswegs verharmlosen! Also, bitte seid gewarnt!!! Es ist nur eine Geschichte!!!
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Es war schwül. Fast schon warm. Eine warme Sommernacht.
Ein dunkelblondes Mädchen im knielangen, dunkelblauen Stoffkleid tänzelte barfuß durch die Gegend. Um ihre Schultern lag eine beigefarbene Strickjacke, in der linken Hand hielt sie ein Paar dunkle Ballerinas.
Sie tanzte über den grauen Asphalt einer einsamen Straße, die nur spärlich von den Laternen am Straßenrand beleuchtet wurde, denn der Himmel war bewölkt und ließ keinen Platz für das Licht des Mondes.
Leise summte das Mädchen vor sich hin. Die Melodie des letzten Songs auf der Party, auf welcher sie gerade gewesen war. Es war keine gute Party gewesen; zu viel Alkohol für ihren Geschmack, darum war sie auch früher gegangen. Und dennoch war es bereits kurz vor elf.
Also tänzelte sie summend vor sich hin, lief fröhlich über eine Brücke, als sie plötzlich ein Schluchzen hörte. Sie hielt inne und fuhr herum. Es dauerte einige Sekunden bis sich ihre Augen an die dämmrigen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, doch dann wurden die Umrisse einer menschlichen Gestalt erkennbar: Da stand doch tatsächlich ein Junge etwa ihren Alters im Schatten der Bäume. Nichts Ungewöhnliches, nur stand er auf der anderen Seite des metallenen Geländers, welches die Brücke umrandete und die Überquerer davon abhielt in den reißenden Fluss zu stürzen.
"Guten Abend?"
Erschrocken blickte er auf und drehte sich zu ihr um, doch sein Gesicht lag immer noch im Schatten, weshalb sie sich ihm vorsichtig näherte. "Was tun Sie hier?", fragte sie, als sie ihn erreicht hatte. Aus hellen, tiefen Augen blickte er sie an. "Wo nach sieht es denn aus?" Sie biss sich auf die Lippe und musterte ihn leicht pikiert. "Verzeihung, ich...", auf einmal weiteten sich ihre Augen und ein Geistesblitz leuchtete hinter ihnen auf, "...ich weiß, wer Sie sind!" Der Junge schnaubte vor Verachtung, doch auch die Verletzlichkeit war in seiner Stimme unüberhörbar: "Sie wissen überhaupt nichts über mich!" "Ich habe auch nie behauptet etwas über sie zu wissen. Ich weiß lediglich wer sie sind, kenne also folglich ihren Namen. Sie sind der Junge, der letztens im Fernsehen war, da Sie den entscheidenden Punkt beim Football erzielt haben, aber daraufhin von einem Gegenspieler angegriffen wurden; Sie wurden sehr stark verletzt. Chad Willford, nicht wahr?", entgegnete sie daraufhin und stellte sich zu ihm, nur eben auf der 'richtigen' Seite des Geländers.
Verwundert schaute er sie an und zögerte, ehe er zaghaft nickte. Irgendwas an ihr schien ihn aus der Fassung zu bringen. "Freut mich Sie kennenzulernen! Mein Name ist Joleen Mitchell.", kam es daraufhin von ihr und sie streckte ihm freudig die Hand entgegen. Er schlug nicht ein. "Keine Manieren, also echt!", murmelte sie kopfschüttelnd und zog die Hand wieder zurück. Dann jedoch setzte sie eine fröhliche Miene auf und lehnte sich zu ihm nach vorne. "Und? Was hat dich nun dazu bewogen deinem Leben ein Ende zu setzen?", erkundigte sie sich wie beiläufig, als ob es nichts Alltäglicheres gäbe als einen Selbstmord, wobei sie ganz bewusst ins 'Du' wechselte.
"Wieso sollte ich dir das erzählen?", schnaubte er erneut und wischte sich einmal mit dem Ärmel seines dunklen Pullovers über die Augen. Sie zuckte mit den Schultern. "Dann lass es halt. Ich dachte nur, ich würde dir damit einen Gefallen tun. Deine Seele entlasten und so. Was weiß ich...", meinte sie gelangweilt und wandte sich wieder zum Gehen.
"Meine Freundin hat mich mit meinem besten Freund betrogen, wodurch meine Noten so drastisch abgefallen sind, dass meine Mutter mit mir umgezogen ist und ich all meine Freunde verloren habe, und meine Karriere als Quarterback aufs Eis legen konnte. Jetzt hat meine Mom einen neuen Typen und der behandelt mich wie den letzten Dreck."
Wenig überrascht blieb sie stehen und drehte sich wieder zu ihm um. Mit langsamen, schwungvollen Schritten schlenderte sie zu ihm zurück. "Ja, das klingt wahrlich nicht gerade berauschend...", sie kräuselte nachdenklich die Stirn und stützte die Arme auf das Geländer, "Jetzt, wo ich so recht darüber nachdenke, ist mein Leben auch nicht so prickelnd...", sie lehnte sich mit dem Rücken gegen das Geländer, so dass sich ihre Köpfe kreuzten und sie ihm daher in die Augen blicken konnte, "...ich meine, meine Mum ist bei meiner Geburt gestorben, woraufhin mein Vater alkoholabhängig wurde und aufgrund mehrerer Schlägereien ins Gefängnis kam. Darum zog ich zu meinem Großvater, welcher jedoch vor knapp drei Monaten die Diagnose Krebs erhielt und nun nicht mehr mehr als ein halbes Jahr zu leben hat. Da ich aber erst in acht Monaten volljährig werde, komme ich dann ins Heim. Scheiße, da hast du vollkommen recht." Sie richtete sich auf. "Danke, dass du mich daran erinnert hast, dass das Leben so Scheiße ist...", sie schien einige Sekunden zu überlegen und biss sich auf die Lippe. "Weißt du was? Wir springen zusammen!", meinte sie dann kurzerhand und ehe er sich versah, hatte sie sich gut gelaunt und dynamisch über das Geländer zu ihm rüber geschwungen.
Perplex starrte er sie an, offenbar mehr als verwirrt von ihrem sehr sonderbaren Verhalten. "W-was?!" "Du hast mich daran erinnert wie furchtbar das Leben doch ist und darum werde ich nun auch springen. Danke, dass du mir endlich die Augen geöffnet hast. Also, komm! Worauf warten wir noch?", entgegnete sie vielleicht eine Spur zu fröhlich und locker, und lehnte sich ein Stück nach vorne, woraufhin er erschrocken aufschrie. Wie in Zeitlupe zog sie sich wieder näher ans Geländer. "Ja?" "Ich...ich kann das nicht! Ich kann es einfach nicht verantworten, dass wegen mir ein so junger Mensch wie du stirbt! Ich könnte damit einfach nicht leben! Bitte! Geh zurück und verschwinde! Für immer! Okay?", stammelte er aufgebracht und schluckte schwer. Sie lachte kurz auf und schüttelte scheinbar amüsiert den Kopf. "Das macht überhaupt keinen Sinn, merkst du das eigentlich? Wenn ich springe und du nicht damit leben kannst, springst du. Wenn ich allerdings wieder zurückgehe, dann springst du auch. Egal, was ich tue, du springst so oder so, also was sollte mich davon abhalten es dir gleich zu tun?"
Mit offenem Mund starrte er sie an, schwieg jedoch erst einmal. "Was war das Letzte, was du getan hast, bevor du...nun ja...hier her bist?", brach sie dann irgendwann die Stille, welche sie förmlich einzuhüllen schien. Er schluckte. "Ich...ich habe einen Brief geschrieben. Ich dachte, man würde ihn finden, wenn man auch meine...also mich finden würde.", erwiderte er, wobei ihr auffiel, dass er bewusst das Wort 'Leiche' mied. "Darf ich ihn lesen?", fragte sie leise und er zuckte mit den Schultern. "Wieso nicht?", lachte er leicht und kramte einen Plastikbeutel aus seiner Hosentasche hervor. Darin steckte ein blütenweißer Umschlag. Zitternd hielt er ihn ihr hin und sie nahm ihn entgegen, während ihre Hand krampfhaft das Geländer umklammerte, welches sie davon abhielt in den Fluss zu stürzen. Flink setzte sie sich auf das Geländer, das eine Bein in Richtung Fluss, das andere Richtung Brücke, so dass sie nun beide Hände zum Auspacken des Briefes benutzen konnte. Behutsam öffnete sie den Umschlag, entfaltete das schlampig gefaltete Blatt Papier und begann stumm zu lesen:
Mom, es tut mir leid. Ich konnte nicht anders. Greg, Cathy und Dan - sie alle sind Schuld. Bitte, verzeih mir, aber es gab keinen anderen Ausweg für mich.
- Chad
Bei Anblick der krakeligen, unleserlichen Buchstaben und der verschmierten Tinte verzog sie nur nachdenklich die Lippen. "Du hast das in großer Eile geschrieben, oder?", fragte sie schließlich und klappte den Brief wieder zusammen. Zögerlich nickte er. "Also wenn das dein Abschiedsbrief ist, dann heult deine Mutter aber doppelt so viel!", lautete ihr Kommentar dazu, "Hast du immer eine solche Sauklaue?" Er schüttelte den Kopf. "Und was hast du getan bevor du den Brief geschrieben hast?", bohrte sie unverfroren weiter. Er runzelte die Stirn. "Ich hab mich gestritten...wieso? Wieso willst du das wissen?" Sie verzog ihren Mund zu einem schwachen Lächeln. "Ich finde es nur äußerst traurig, dass die letzte Tat eines Menschens auf Erde ein Streit gewesen sein soll." "Was war denn deine letzte Tat?", entgegnete er und sie merkte, wie unwohl ihm bei dem Gespräch war. "Ich war auf einer Party und habe getanzt. Schön, oder? Tanzen ist eine schöne letzte Tat.", meinte sie lächelnd und spielte mit dem Brief in ihren Händen. Er nickte stumm. Sie legte den Kopf auf die Seite und musterte ihn eingiebig. Ein Schweigen breitete sich über ihnen aus.
"Was hältst du davon, wenn wir jetzt tanzen?", schlug sie dann nach einer ganzen Weile vor und er blickte auf. "Ist das dein Ernst?", ein trockenes, ein wenig heiseres Lachen drang aus seiner Kehle. "Absolut und vollkommen. Ich möchte mit einem Lächeln auf den Lippen sterben können.", erklärte sie ernst und blickte ihn aus ihren blau-grauen Augen an. Blau-grau, wie ein bewölkt Himmel. Blau-grau, wie der Himmel über ihnen.
"Dann kann ich dich also nicht davon abhalten zu springen?", fragte er seufzend und blickte zu Boden, wo die Strömung des Flusses tobte und jedes noch so winzige Blättchen mit sich riss. "Wenn du springst, springe ich auch." Er sog hörbar die Luft ein und schaute sie an. Einige Sekunden schien er mit sich selbst zu ringen, doch dann fasste er einen Entschluss:
"Dann werde ich nicht springen."
Überrascht von dieser wahrlich plötzlichen Wendung sah sie ihn an. "Bist du dir da sicher? Was ist mit deinem ach so schlimmen Leben? Mit deinem verräterischen besten Freund, deiner billigen Freundin und deinem aggressiven Stiefvater?", fragte sie, scheinbar ein wenig bestürzt. Vielleicht aber auch ein wenig freudig. "Ich kann einfach nicht einen so jungen Menschen wie dich...ich kann das einfach nicht! Und wenn ich der Grund für deinen Sprung bin...dann spring ich lieber nicht.", erklärte er und schwang sich zurück über das Geländer, an welchem er sich dann langsam hinunter gleiten ließ. Beeindruckt tat sie es ihm nach. "Ganz schön selbstlos von dir...aber, wenn du unbedingt springen willst, dann spring. Ich will dir nicht im Wege stehen.", wisperte sie und biss sich auf die Unterlippe. Er seufzte und wandte seinen Kopf in ihre Richtung.
"Ich will doch gar nicht springen."
Nun war sie wirklich mehr als fassungslos. "Was tust du dann hier?" Er atmete schwer. "Ich wollte springen. Ich wollte mir das Leben nehmen. Aber ohne Zeugen. Ganz allein. Ich und die Welt. Und dann bist du gekommen und...hast mich aufgehalten. Und jetzt weiß ich einfach nicht mehr, ob ich es wirklich über mich bringen kann. So mit Mitwisser.", gestand er und ließ den Kopf in den Nacken fallen. "Wieso hast du mich dann nicht springen lassen? Dann gäbe es keine Mitwisser." "Das fände ich noch schlimmer. Dann wäre ich nämlich nicht nur ein Selbstmörder, sondern auch ein reiner Mörder. Und das will ich nicht sein.", meinte er und seine Stimme zitterte dabei verdächtig, so als ob er jeden Moment in Tränen ausbrechen würde. "Ich bevorzuge das Wort 'Freitodgänger'", lautete ihr einziger Kommentar dazu. "Macht es das irgendwie besser?", fragte er mit einem hörbaren Kloß im Hals. Sie schüttelte den Kopf. "Nein."
Sie lauschte seinem Atem, ehe sie den Kopf in seine Richtung drehte. "Willst du reden?" Er wandte ebenfalls dem Kopf, so dass sich ihre Blicke trafen. Es war ein merkwürdig vertrauter Moment. "Worüber?" "Egal.", entgegnete sie achselzuckend, während sie in seine hellen Augen, von denen sie nun erkannte, dass sie grau waren, blickte. "Ich weiß nicht, wie ich jemals auf den Gedanken kommen konnte zu springen...", murmelte er dann kopfschüttelnd. Sie lachte schwach. "Das weiß ich auch nicht." "Du bist irgendwie ein komischer Mensch, weißt du das?", fragte er und zog eine Augenbraue in die Höhe. "Ich bevorzuge das Wort 'besonders'.", entgegnete sie schmunzelnd. "Du hast offenbar viele bevorzugte Wörter." "Ich weiß..."
Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. "Aber ich weiß nicht, wie ich jetzt noch mit meinem Leben klar kommen soll...", erwiderte er darauf und ein Zittern erschütterte erneut seinen Körper. Vorsichtig legte sie ihren Kopf auf seine Schulter, um ihn zu beruhigen, was auch zu funktionieren schien, denn augenblicklich senkte sich sein Herzschlag ein wenig und sein Atem wurde regelmäßiger.
"Um ehrlich zu sein, verstehe ich dein Problem gar nicht. Du bist offensichtlich ein netter Kerl, du könntest problemlos neue Freunde finden. Und wenn deine Gene auch nur annähernd nach denen deiner Mutter kommen, wird auch sie bald erkennen, was für ein Idiot ihr neuer Typ ist.", flüsterte sie und kaute schon wieder auf ihrer Unterlippe herum, welche sich davon mittlerweile schon ganz ausgefranst anfühlte. Er lachte trocken. "Freunde? Nenn' mir auch nur eine Person, die mit einem psychisch labilen, von der Schule verwiesenen Suizidgefährdeten befreundet sein wollen?!", prompt beschleunigte sich sein Herzschlag wieder. "Also ich wüsste da ja jemanden...", fing sie an, ein Lächeln in ihrer Stimme, "...mich!" Er lächelte matt. "Irgendwie lustig, dass man immer die richtigen Menschen zum richtigen Zeitpunkt trifft.", grinste er und es war das erste richtige Grinsen, das sie an diesem Abend von ihm sah. Und während sie einander so anlächelten, immer noch ein wenig gequält von ihren Sorgen, begann der Himmel zu weinen und Regentropfen fielen erbarmungslos auf sie hinab.
"Ich glaube, du bist ganz schön kaputt.", meinte sie dann irgendwann, als beide schon vollkommen durchnässt waren und ihre Haare ihr im Gesicht klebten. "Das hast du wohl recht...", er schaute durch das Geländer hindurch auf den Fluss, welcher von den kleinen Kreisen des Regens komplett durchzogen war, "...ich frage mich, ob ich nicht doch noch springen sollte." Sie seufzte. Sie dachte, sie hätte ihn endlich davon abgebracht. "Willst du das wirklich?" Er presste die Lippen aufeinander. "Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.", seufzte er niedergeschlagen. Sie überlegte kurz. "Was hältst du davon, wenn wir tanzen? Hier und Jetzt im Regen. Und wenn du dann immer noch springen willst, dann spring. Und ich verspreche dir auch, dass ich nicht springen werde. Einverstanden?", schlug sie schließlich vor und hielt ihm die Hand hin. Er zögerte. Offenbar wog er in diesem Moment die aus diesem Angebot resultierenden Möglichkeiten ab. "Was hast du schon zu verlieren?", es war als ob sie seine Gedanken gelesen hätte. Also schlug er ein.
Mit einer eleganten Bewegung erhob sie sich und zog ihn, so gut es für ihre Umstände eben ging, hoch. Ein bisschen lustlos ließ er sich von ihr mitziehen. Offenbar wollte er sich so gering wie möglich von dem Geländer entfernen, welches ihm jederzeit die lang ersehnte Erlösung bringen konnte. Doch sie ließ nicht locker und, als sie ihn endlich bis zur Mitte der Brücke gezerrt hatte, positionierte sie seine eiskalten Hände an ihren Hüften. Leise fing sie wieder an die Melodie zu summen, welche sie bereits eben gesummt hatte. Und langsam wogen sie sich im Takt hin und her. Regen prasselte auf sie hinab.
Doch es war nicht annähernd so romantisch wie es hätte sein sollen: Ihre Körper waren steif vor Anspannung. Ihre Haare nass und verklebt. Ihre Gedanken voller Probleme und Sorgen. Sie tanzten, bewegten sich zu der Musik, die sie summte, und waren einfach nur zwei armselige, kleine Teenager, die nicht mehr weiter wussten. Sie wusste nicht, was sie noch tun konnte, um ihn von dem Sprung abzuhalten; er wusste nicht, was er noch tun sollte, um sein Leben wieder auf die Reihe zu kriegen. Ja, sie waren einfach nur zwei hilflose, verlorene Teenager, die vielleicht auch schon ein bisschen zu viel miteinander geredet hatten.
Er nahm ihre Hand, drehte sie einmal im Kreis und dann waren sie sich auf einmal ganz nah. Ganz nah. So nah, dass sie verstummte und aufhörte ihre kleine, verträumte Melodie zu summen. Sie blickte in sein Gesucht und er blickte zurück; die Augen voller Tiefe, Kummer und Schmerz.
"Willst du immer noch springen?"
Ihre Worte zerrissen die Stille, welche bislang nur von dem Aufprall des Regens auf den Asphalt getrübt wurde. Er schwieg. Und dieses Schweigen zerriss ihr das Herz. Also stellte sie sich vorsichtig auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Es war ein letzter, verzweifelter Versuch ihn umzustimmen. Es war das einzige Ass, welches sie noch in ihrem Ärmel hatte. Doch Liebe, oder zumindest freundschaftliche Zuneigung, war der stärkste Pfeil in ihrem Köcher, das wusste sie.
"Und wie sieht es jetzt aus?"
Er schwieg weiterhin. Also trat sie einen Schritt zurück. "Ich werde dennoch bleiben. Niemand sollte alleine sterben.", flüsterte sie und deutete auf das Geländer. Sie hatte wirklich geglaubt ihn so weit gehabt zu haben, dass er nicht sprang.
Schluckend wartete sie auf irgendeine Reaktion seinerseits.
"Joleen ist ein schöner Name.", das war das Erste, was er sagte. Überrascht schaute sie ihn an. Einerseits verwundert darüber, dass er sich ihren Namen gemerkt hatte, andererseits irritiert von diesem plötzlichen Themenwechsel in einer solch ernsten Situation. "Du hast ihn dir also gemerkt?", fragte sie darum, denn jede andere Reaktion hätte sie selbst heillos überfordert. Sie sah ihn an, so wie oft an diesem Abend. Er nickte und es entstand wieder eine kurze Pause.
"Ich werde nicht springen, Joleen."
Es dauerte ein paar Sekunden bis sie seine Worte realisiert hatte, dann atmete sie auf. Sie war mehr als nur erleichtert. Ihr Plan war aufgegangen. Sie hatte ein Leben gerettet. Sein Leben. Und das erfüllte sie mit Freude, Stolz und einem breiten Lächeln.
"Das ist das Beste, was ich heute gehört habe, Chad.", sie sah ihn lächelnd an. "Danke, dass du mich aufgehalten hast.", entgegnete er leise und sie grinste scheu. "Immer wieder gern.", sie blickte sich besorgt um, "Und nun lass uns gehen. Hier herrscht eine schlechte Aura." Entschlossen griff sie nach seiner Hand und zog ihn mit sich, zog ihn von der Brücke, zog ihn weg von diesem melancholischen, verhängnisvollen Ort.
Sie gingen einfach von dannen und alles, was zurückblieb, war ein Paar dunkler Ballerinas am Rande des Geländers und ein paar Papierschnipsel eines Abschiedsbriefes, welcher nun nicht mehr als solcher zu erkennen war, im Fluss. Und Chad erfuhr erst sehr viel später, dass Joleens Großvater putzmunter als Baseballtrainer an ihrer Schule arbeitete, dass ihre Eltern glücklich einen Pärchenurlaub in der Karibik verbrachten, und dass sie so oder so nicht gesprungen wäre. Das alles erfuhr er erst sehr viel später, denn in diesem Moment war das Einzige, was zählte, dass sie beide nicht gesprungen waren. Alles, was zählte, waren ihre Leben, die von nun an auf wundersame Art und Weise miteinander verbunden waren.
Ja, sie schritten einfach von dannen.
Und der Sommerregen prasselte auf sie nieder...
~ The End, 3030 Wörter ~
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