Kapitel 2
May's P.o.V.
Schon eine halbe Stunde später waren meine beste Freundin (Bild) und ich endlich bei mir zu Hause im Warmen angekommen und hatten es uns auf der Couch unter einer braunen Decke bequem gemacht. Nala und ich hatten jeweils eine Tasse mit heißer Schokolade in den Händen und genossen einfach die Ruhe, nachdem ich mich eben noch bei ihr ausgeheult hatte. Irgendwann waren keine Tränen mehr gekommen und ich hatte einfach nur noch still nach draußen geguckt, wo immer weniger Schneeflocken vom Himmel fielen.
Normalerweise war meine Mum in solchen Situationen meine erste Ansprechperson, vor allem nachdem Nala in letzter Zeit weg war, aber meine Eltern waren auf Geschäftsreise und würden wahrscheinlich erst in den nächsten Tagen wieder hier aufkreuzen. Dass ich die beiden daher nicht so häufig sah, hatte ich akzeptiert, da es immerhin besser war, als meine richtigen Eltern nie zu sehen. Ich war mehr als froh, dass ich damals adoptiert wurde und so nicht mehr im Waisenhaus wohnen musste. Nach einigen Familien war ich schließlich hier gelandet und hatte zwei Menschen gefunden, die für mich wie meine echten Eltern waren. Bei den meisten ist es ja eher anderes rum. Das heißt, dass sie lieber mit Freunden über ihre Probleme reden, aber so bin ich nicht und so bin ich auch nie gewesen, was vielleicht auch ein bisschen daran liegt, dass ich nie diese Art von Mensch war, welche unglaublich viele Freunde hatte. Nein, lieber hielt ich die Anzahl in Grenzen und wusste, dass ich mich auf jeden einzelnen voll und ganz verlassen konnte.
Mit dem Gedanken an die beiden wichtigsten Personen in meinem Leben schlich sich ein klitzekleines Lächeln auf mein Gesicht, was gerade aber eher fehl am Platz war. Generell war diese Situation anders. Zwar hatte ich sowas schon von Freunden gehört, jedoch hätte ich niemals damit gerechnet, dass sowas auch mal in meinen engeren Kreisen passieren würde. Da hatte ich mich gewaltig geirrt. Am liebsten würde ich mich jetzt in meinem Bett verkriechen und mir dort die Seele aus dem Leib heulen. Einen Haufen von Schokolade futtern und mir einreden, dass Jason wieder kommen würde. Jason. Seinen Name auch nur zu hören, zu denken oder gar zu sagen, brach mir immer wieder auf's neue das Herz. Er war so verständnisvoll und hätte nie einer Fliege etwas zu Leide getan. Warum musste das Schicksal genau ihn auswählen? Den Jungen, der mich wieder zurück ins Leben geholt hatte, nach meiner schweren Zeit und mir immer bei Seite stand. Wer sollte mir denn nun aus dem schwarzen Loch helfen und mir Mut zu reden?
Ihr müsst wissen, dass Jason und meine Eltern, als ich noch ein kleines Kind war dank eines Flugzeugabsturzes gestorben sind, wodurch wir beide im Waisenhaus gelandet sind. Nach einiger Zeit wurde erst er und dann auch ich adoptiert. Ich kam in eine neue Familie, welche einfach nur schrecklich war. Irgendwann hat das Jugendamt davon Wind bekommen und prompt bin ich wieder woanders gelandet, wo alles viel besser war. Auch wenn ich damals schon fünfzehn gewesen war, hatte ich endlich eine richtige Mutter und einen Vater bekommen, welche mich, wie ihr eigenes Kind liebten. Jason hatte ich mit der Zeit vergessen, bis zu dem Tag an dem er plötzlich vor unserer Tür gestanden hatte und da war um mir zu Helfen. Dank ihm fand ich ins Leben zurück und schaffte es meine Vergangenheit bei der anderen Familie zu verarbeiten. Ich war ihm unglaublich dankbar für alles was er für mich getan hatte und ich wünschte ich hätte mehr Zeit, als nur diese drei Jahre, mit ihm zusammen gehabt.
,,May! Erde an May! Es hat geklingelt, Süße!", nahm ich plötzlich die Stimme der Blondine neben mir war, welche dabei wild mit einer Hand vor mir rum wank. Verwirrt fuhr ich hoch und machte mich auf den Weg zur Haustür.
Alle Hoffnungen, dass Jason, wie durch ein Wunder doch überlebt hatte, verflogen, als ich die Tür öffnete, sich ein kleines braunes Fellbüschel rein quetschte und direkt an mir vorbei ins Wohnzimmer flitzte. Erst jetzt bemerkte ich auch Thomas, welcher etwas verloren vor mir stand und auf den Boden blickte.
Thomas Manuel Carter ist mein Nachbar und Schulkamerad. Er ist einen guten Kopf größer als ich, hat dunkelblonde kurze Haare, smaragdgrüne Augen und sieht alles in einem schon ziemlich gut aus. Nala hatte schon oft versucht uns zu verkuppeln, aber ich hatte ihr erzählt, dass ich einen Freund hatte, was eigentlich nicht stimmte und damit war das Thema dann auch vom Tisch gewesen. In Wirklichkeit hatte ich jedoch nur Angst davor erneut verletzt zu werden. Das wollte ich nicht. Aber so wie ich sie kenne, wird sie dieses Mal nicht so schnell locker lassen.
Thomas räusperte sich nun, sodass ich aus meiner Starre erwachte und peinlich berührt den Kopf senkte. Erst jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Klar, heute war doch Freitag!
,,Hey Thomas, sorry ich hab voll vergessen, dass du den Hund heute wieder zurück bringst. Danke, dass du auf ihn aufgepasst hast.", brach es aus mir heraus und ich umarmte den Jungen vor mir einmal kurz. ,,Ach ja, willst du vielleicht noch kurz rein kommen?", fügte ich hinzu und hoffte das er meine Gastfreundlichkeit zu schätzen wusste. Schließlich hatte ich gerade ganz andere Probleme und Sorgen, als mit ihm zu quatschen, aber ein bisschen Dankbarkeit musste ich schon zeigen, da er immerhin die Woche über auf unseren kleinen Welpen aufgepasst hatte, während meine Eltern und ich nicht da gewesen waren.
,,Das wäre schön.", antwortete er und lächelte mich dankbar an. Sofort machte ich einen Schritt zur Seite und sah ihm dabei zu, wie er langsam Jacke und Schuhe auszog. Die selbe Jacke hatte Jason auch gehabt... Ich hatte sie ihm letztes Jahr zu seinem Geburtstag geschenkt, da er sie sich so gewünscht hatte. Schnell verwarf ich den Gedanken und versuchte mich stattdessen voll und ganz auf meinen Gast zu konzentrieren. ,,Sag mal, willst du was Trinken? Einen Tee?", fragte ich und bekam ein kurzes Nicken seinerseits als Antwort, bevor ich auch schon in die Küche verschwand.
Es war so unglaublich schwer auch nur ein einziges Wort rauszubekommen ohne direkt loszuheulen und zusammenzubrechen, aber irgendwie schaffte ich es. Irgendwas gab mir Kraft. Ich hatte schon viele schlimme Zeiten erfolgreich durchgestanden, obwohl diese nicht annähernd so schrecklich waren, wie gerade, wenn das überhaupt möglich war. Hoffentlich würde ich es erneut schaffen und akzeptieren können, was passiert war, aber über Jason richtig hinwegkommen würde ich wahrscheinlich niemals. Er würde immer einen Platz in meinem Herzen haben. Egal was noch kommen würde.
Kaum war der Tee fertig, begab ich mich wieder ins Wohnzimmer und ließ mich neben meiner besten Freundin auf der Couch nieder. Thomas reichte ich seinen Tee und fing dann an den Welpen zu kraulen, da mich das in diesem Moment einfach unglaublich beruhigte. ,,Mir ist übrigens ein Name für den Kleinen eingefallen.", fing der Blondschopf mit einem Seitenblick auf mich an. Ziemlich in Gedanken versunken, sah ich auf und versuchte wenigstens ein bisschen interessiert zu wirken, was mir zum Glück auch ganz gut gelang. Mein Äußeres Ich schien, wie eine einzelne falsche Fassade zu sein, doch innerlich herrschte in mir ein totales Chaos. ,,Wie wär's denn mit Cookie?", fügte er noch hinzu und sah abwechselnd von Nala zu mir. Cookie. Eigentlich ein passender, toller Name für den Welpen und langsam brauchte ich sowieso mal einen... ,,Cookie? Find' ich super! Das passt so gut zu ihm und wow der Name ist unglaublich süß! Was sagst du, May?", schwärmte Nala sofort los und riss mir mein Hundchen wieder aus den Armen. Beleidigt verschränkte ich die Arme vor der Brust und sah sie böse an. Erst nahm man mir Jason und jetzt auch noch meinen eigenen Hund. Unglaublich. ,,Ja, Cookie klingt gut.", erwiderte ich bloß bissig und ließ meinen Blick wieder aus dem Fenster raus schweifen, wo es mittlerweile angefangen hatte, wie aus Kübeln zu schütten. Passend zu meiner Stimmung.
Was würde ich nicht dafür tun, jetzt hier mit meinem Bruder zu kuscheln und dem prasselnden Regen zu lauschen, wie wir es so oft getan hatten. Einfach mit ihm zu reden. Über unsere Eltern. Über die Zukunft. Über die vergangenen Tage. Dabei sein Lächeln zu sehen.
,,Hey...Ehhm- Thomas, dass ist jetzt vielleicht etwas unhöflich, aber wäre es in Ordnung für dich, wenn du ein anderes Mal rüber kommst? May geht es nicht so gut.", hörte ich die Stimme meiner besten Freundin neben mir und kurze Zeit später, war Thomas auch schon wieder zu sich nach Hause verschwunden. Hoffentlich nahm er uns oder eher mir das nicht böse, aber heute war wirklich nicht der richtige Tag und auch nicht die beste Situation.
,,Ach Süße, wenn ich irgendwas für dich tun kann, dann sag mir Bescheid. Rede mit mir und fresse nicht alles in dich rein.", versuchte Nala an mich ran zu kommen und tatsächlich huschte ein kleines, aber dennoch trauriges Lächeln über mein Gesicht. Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen um mich machte. Das war echt nicht nötig.
,,Nala, ich kann dass nicht! Ich hatte nur drei verdammte Jahre mit ihm und dann, einfach so, ist alles anders. Ich dachte mein Leben wäre zur Zeit perfekt, aber nein, mir wurde das ganze Glück einfach nicht gegönnt! Wegen diesem scheiß Winter und dem fucking Glatteis ist er gestorben! Jason ist tot! Ich bin alleine. Ich habe mein letztes Familienmitglied verloren! Ich halt das hier nicht mehr aus! Alles erinnert mich an ihn! Ich- ich weiß, du wirst jetzt denken dass ich es überstürze und nicht mehr alle Tassen im Schrank habe, aber ich muss weg gehen. So schnell wie möglich und am besten für längere Zeit.", ratterte ich meinen ganzen angestauten Frust einfach runter und beobachtete dabei die Reaktion der Blondine, welche zu meiner Verwunderung nicht so war, wie ich es erwartet hätte. Ganz im Gegenteil! Sie blieb ruhig, hörte mir zu und es schien so als würde sie mir nicht mal widersprechen wollen. Sie verstand mich und konnte meine Gedanken und Handlungen meistens komplett nachvollziehen. Ich ließ meiner ganzen Wut, meiner Verzweiflung, meiner Trauer und meiner Angst freien Lauf und hatte es tatsächlich geschafft alles rauszuschreien. Irgendwie fühlte es sich ziemlich befreiend an, musste ich feststellen.
,,Und wo willst du so ganz alleine hin?", hakte sie nach und zog dabei eine Augenbraue hoch. Seufzend zuckte ich mit den Schultern und setzte meinen typischen Denkerblick auf, welcher Nala zum Lachen brachte. Ihr Lachen tat so gut. Es machte mich Stück für Stück glücklicher und ließ mich alles vergessen.
Das war aufjedenfall eine gute, berechtigte Frage. Wo wollte ich hin? Was würde mich nicht an Jason erinnern? Wo würde ich mich ablenken und einen Neuanfang starten können? Wo würde ich die nächste Zeit alleine und unbeschwert leben können?
,,London.", kam es mir auf einmal in den Sinn und brachte dabei so viele andere Gedanken mit sich. Meine blau grauen Augen blickten in die himmelblauen von Nala und ich starrte sie, schon fast unheimlich, an. ,,England? London?!", wiederholte meine beste Freundin mich und legte ihre Stirn in Falten, wie sie es immer tat, wenn sie mit etwas neuem konfrontiert wurde. ,,Ja, London.", sagte ich vollkommen ernst.
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