Kapitel 9
• W E S •
Summend suche ich das Gemüsesortiment durch und werfe alles in den Einkaufswagen, das ich so finde. Glücklicherweise ist der Lebensmittelladen abends weniger überfüllt, sodass ich entspannt meinen Einkauf erledigen kann.
Eines der Nachteile allein zu wohnen ist wohl, dass ich mich nun alleine auf den Einkauf kümmern muss. Sonst haben Oliver und ich uns abgewechselt, aber seit er in New York ist muss ich sehen, wie ich mich versorge. Es soll ja auch nicht so rüberkommen, dass ich es ohne ihn nicht schaffen könnte weiterzuleben. Das ist nun wirklich absurd.
Gerade als ich eine Mutter mit Kinderwagen durchlasse, fällt mir ein bekannter Lockenkopf ins Auge, der sich mir nähert. Evan lächelt breit, als er sich versichert, dass ich es bin.
"Wesley, was für eine Überraschung!", begrüßt er mich erfreut, als wir uns schließlich gegenüberstehen.
Mir entgeht sein Schatten nicht. Hinter ihm steht dieser Chris, der ab und zu in der Pizzeria saß, um mit seinen Freunden schlechte Stimmung zu verbreiten. Und offenbar ist er nicht gerade so glücklich darüber, mich zu sehen. Ich tue ihm den Gefallen zu grinsen, um ihm die zufällige Begegnung noch unangenehmer zu machen.
"So spät noch unterwegs, Evan?"
"Wir helfen meiner Mutter beim Tragen der Einkäufe." Er zeigt in irgendeine Richtung hinter sich. "Sie übertreibt es immer und kann es dann nicht allein wegbringen."
Ich nicke, begegne dann nochmals dem gereizten Blick seines Freundes, den ich provokant erwidere. Evan entgeht das nicht. "Ähm, Chris … du kennst Wes, stimmt's? Er arbeitet mit Matt in der Pizzer ..."
"Ich weiß, wer er ist", fällt er ihm ins Wort, ohne den Blick von mir zu nehmen. "Ich werde mal nach Tina schauen, solange ihr euch unterhaltet." Und damit ist er verschwunden.
Während ich mich augenverdrehend an Evan wende, schaut dieser ihm hinterher. "Er ist so charmant", kommentiere ich sein Auftreten spöttisch, was meinem Gegenüber natürlich nicht entgeht.
Ein Schmunzeln umspielt seine Lippen, als er mich wieder ansieht. "Chris kann nicht so gut mit Fremden."
"Du nimmst ihn ganz schön oft in Schutz. Und das, obwohl du es gar nicht müsstest", merke ich an.
"Er ist mein Freund."
"Interessant wäre zu wissen, ob er dasselbe für dich tut ..."
"Natürlich!"
"Das vermutest du. Aber weißt du es auch hundertprozentig?", hinterfrage ich und deute mit einem Kopfnicken in die Richtung, in die der Typ verschwunden ist. "Ihr scheint euch ausgesprochen zu haben."
Evan fährt sich mit der Hand durch die dichten braunen Locken. "Wir haben gestern miteinander gesprochen. Es hat sich herausgestellt, dass tatsächlich etwas vorgefallen ist ..."
Ich verziehe das Gesicht. "Muss ja aufregend gewesen sein, dass er seine schlechte Laune an dir ausgelassen hat."
"Kann man so sagen. Aber ich denke, wir sollten über etwas reden", weicht er aus und lächelt mich entschuldigend an.
Da spiele ich gern mit!
"Klingt gut", stimme ich zu und lehne mich an meinen Einkaufswagen an. "Denkst du nicht auch, es ist Schicksal, dass wir uns wieder treffen?", frage ich spaßeshalber, wobei dieser Gedanke meinen Bauch zum Flattern bringt.
Seine Augen weiten sich vor Verblüffung über meine Worte, dann schüttelt er amüsiert den Kopf. "Denkst du manchmal auch nach, bevor du etwas sagst?"
"Meistens nicht. Man sollte sich öfter von seinen Gefühlen leiten lassen, Evan", entgegne ich und frage mich in diesem Moment nur eines.
Was geht gerade in mir vor, dass ich mich auf so glattes Eis bewege? Ganz offensichtlich flirte ich mit ihm, es fühlt sich auch echt schön an, und anscheinend ist er nicht sonderlich abgeneigt davon.
Wahrscheinlich deshalb, weil er denkt, ich mache nur Spaß.
Dass er mir noch ziemlich gefährlich werden wird, wusste ich von dem Moment an, als ich mit ihm das erste Mal gesprochen habe. Aber jetzt … es ist anders. Ich konnte ihn ein wenig besser kennenlernen, um sagen zu können, dass er mir schon ziemlich gut gefällt.
Aber ich laufe Gefahr, abserviert zu werden. Und dafür bin ich mir nun wirklich ein wenig zu fein.
Evan fasst mir am Arm und zieht mich zu sich. Überrascht schaue ich ihm zu, wie er auch meinen Einkaufswagen beiseite schiebt. "Was zum ..."
Er sieht lächelnd an mir vorbei, und als ich mich umdrehe, steht ein älterer Herr vor uns, der dann an uns vorbeigeht.
So an den Lockenkopf gepresst zu sein, bringt mein Herz zum schneller schlagen. Bevor er irgendwas davon mitbekommt, trete ich zur Seite. "Du magst wohl Kuscheln, mhm?", merke ich amüsiert an, was ihn wiederum dazu bringt, mir einen Klaps auf die Schulter zu geben.
"Halt den Mund, Idiot", entgegnet er lachend. Bei dem Anblick habe ich ein Kribbeln im Bauch.
Meine Laune fällt ein wenig, als ich hinter ihm seinen Freund sehe. Er schiebt einen vollen Einkaufswagen vor sich, scheint sich auch mit jemanden zu unterhalten. Ich kann seinen Gesprächspartner durch die Regale allerdings nicht sehen. Doch ich vermute, dass es Evans Mutter ist, mit der die beiden unterwegs sind.
Als Evan meinen neugierigen Blick bemerkt, seufzt er. "Ich sollte lieber gehen, glaube ich. Meine Mom ist ..." Er zögert. "... anders. Es ist schwer zu erklären."
"Verstehe." Ich mache ihm Platz, damit er durch kann. "Wir sehen uns ja sicherlich demnächst in der Pizzeria."
"Das würde mich freuen", sagt er und wird tatsächlich dabei rot.
Verdammt, ist er süß!
• E V A N •
Ausgiebig strecke ich mich, während ich mich auf dem Schulhof umschaue. An solch sonnigen Tagen wie heute verbringen wir Schüler gern die Pause draußen.
Vor mir steht schon unser Mittagessen bereit, aber von Matthew fehlt jede Spur. Er wirkt heute sowieso schon wieder so abwesend, wie schon die Tage zuvor. Aber ich dachte, dass sich das übers Wochenende legt. Offenbar liege ich da total falsch.
Schlussfolgernd würde ich behaupten, dass Chris wohl bisher noch nicht mit ihm geredet hat. Oder aber es lief nicht gut. Woran es auch liegt, es ist nicht gut.
Zu meiner Überraschung entdecke ich Piper in der Masse der Teenager. Sie unterhält sich mit irgendwelchen Mädchen, die ich nur vom Sehen kenne. Als würde sie meinen Blick spüren, sieht sie sich um und nach nur kurzer Zeit haben wir Augenkontakt.
Die Blondine scheint abwesend, wendet sich auch gleich darauf von mir ab und spricht mit ihren Begleiterinnen weiter. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihnen verwirrt hinterher zu sehen.
Sie verhält sich schon die letzten Tage so komisch. Am Montag hat sie kaum etwas gesagt, gestern hat sie sich schon von uns weggesetzt. Heute hat sie uns auch schon den ganzen Tag gemieden. Irgendwas scheint sie zu haben, nur möchte sie wohl nicht mit uns reden.
Ich zucke zusammen, als sich Matthew neben mich setzt. Ohne etwas zu sagen, schiebt er das Tablett zu sich und greift nach seiner Wasserflasche. Ich sehe ihm zu, wie er davon trinkt.
"Hast du eine Ahnung, was mit Pip los ist?", frage ich ihn schließlich, als er sich seinem Mittagessen zuwendet. Doch er zuckt nur mit den Achseln. "Ist irgendwas vorgefallen?"
Matthew schweigt.
Augenverdrehend greife ich nach meinem Apfel. "Matt, so langsam bin ich genervt. Ich komme nicht an dich heran, du redest nicht mit mir … Piper distanziert sich seit Tagen von uns. Ich würde gern wissen, ob irgendwas zwischen euch beiden in der Luft liegt. Also bitte, sag es mir."
Er beißt sich auf die Unterlippe, scheint darüber nachzudenken. Ich lasse ihm die Zeit, die er braucht, um schließlich zu erzählen:
"Piper war Freitag bei mir zuhause. Und sie hat meine Eltern kennengelernt ..."
Verwundert hebe ich eine Augenbraue, lasse ihn aber weiterreden.
"... Ich hatte sie gebeten, mich allein zu lassen. Aber dann hat sie sich von meinem Vater zum Abendessen einladen lassen und saß dann mit uns am Tisch. Das war so merkwürdig, verstehst du?"
"Und was ist passiert?"
Er senkt den Kopf. "Sie hat sich aufgeführt, als wäre sie meine Freundin. Als wären wir zusammen. Sie saß neben mir am Tisch und wollte immer wieder meine Hand halten. Ich habe mich an dem Abend so unwohl gefühlt und das wusste sie auch."
Dass Piper diese Chance nutzt, sollte mich eigentlich nicht überraschen. Sie hat ein skurriles Verständnis dafür, jemanden nahe sein zu wollen. Vor allem Matthew.
Es ist nicht einmal schlimm, dass sie sich in ihm verguckt hat. Sowas kann nun mal passieren. Aber sie ist so aufdringlich. Und seinen Erzählungen nach zu urteilen, konnte sie es auch in seinem Elternhaus nicht lassen.
"Habt ihr darüber geredet?", erkundige ich mich. "Sonst würde sie uns ja nicht aus dem Weg gehen, oder?"
"Freitagabend ist sie nach dem Essen schnell gegangen. Da hatte ich nicht mehr die Möglichkeit, sie darauf anzusprechen. Wir haben Samstag miteinander telefoniert und da habe ich ihr deutlich gemacht, wie blöd ich ihr Verhalten gefunden habe", sagt mein bester Freund und zuckt mit den Achseln. "Jetzt ist sie wohl ziemlich gekränkt deswegen. Aber ich kann auch nicht verstehen, was sie sich dabei gedacht hat."
Ich muss mir auf die Zunge beißen, um nichts zu sagen.
Nur Matthew ist so naiv, dass er nicht mitbekommt, was in Piper vorgeht. Jeder andere wäre schon längst dahinter gekommen - es ist auch ziemlich offensichtlich -, aber er ist diesbezüglich wirklich ein wenig langsamer. Irgendwann wird er den Einfall haben, und dann bin ich gespannt, wie das alles ausgehen wird.
Ich klopfe ihm auf die Schulter. "Das wird schon wieder. Lassen wir ein wenig Gras darüber wachsen."
Er nickt zustimmend, bevor er in sein Sandwich reinbeißt.
"Aber … sonst beschäftigt dich nichts?", versuche ich, noch ein wenig weiter zu graben, doch keine Chance.
Mein Freund schüttelt den Kopf.
Da ist er wie Chris. Er macht dicht, fährt eine Schutzmauer auf, um in sich gekehrt zu sein. Und es ist wahnsinnig schwer, diese Blockade zu durchbrechen. Irgendwann wird er von selbst aus sich herauskommen. Bis dahin ist es beinahe hoffnungslos, irgendwas zu probieren.
Also lasse ich dieses Gespräch in die Leere verlaufen und wende mich nun selbst meinem Essen zu. Stumm sitzen wir nebeneinander und beobachten die anderen Schüler um uns herum, die sich angeregt unterhalten.
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