Kapitel 19

• E V A N •

Ungläubig stehe ich unter einem Baum und schaue nach oben. Matthew sitzt auf einem Ast, als wäre es das Normalste der Welt. "Hey Matty! Sag mal, wie zur Hölle bist du da hochgekommen?", rufe ich zu ihm hoch.

Er zuckt mit den Achseln. "Bin geklettert." 

Ich habe kein gutes Gefühl. Matt zieht sich wieder zurück, da stimmt doch irgendwas nicht. 

Seufzend gehe ich auf den Baumstamm zu und überlege, wie ich zu ihm gelangen könnte. Es wirkt nämlich nicht so, als wolle er auf den sicheren Boden kommen. Wie jetzt können wir uns aber auch nicht gerade optimal unterhalten. 

Ich schlucke meine Höhenangst herunter und ziehe mich mit aller Kraft nach oben. Was sich als nicht sehr einfach herausstellt, wenn die eigenen Hände zittern. 

Matt scheint in Gedanken versunken zu sein, als ich nun auch auf dem Ast sitze und langsam zu ihm herüberrutsche. Darauf bedacht, nicht herunterzufallen. Während ich mit einem aufkommenden Schwindelgefühl zu kämpfen habe, versuche ich, für meinen Freund da zu sein.

"Was machst du denn hier oben?" 

"Nachdenken." 

"Und das hättest du nicht an einem Ort machen können, wo man sicher auf zwei Beinen stehen kann?", knurre ich mit einem Blick nach unten, was ich sogleich bereue.

"Du hättest ja nicht raufkommen müssen", brummt er, schaut aber noch immer geradeaus. Ich glaube, er hat nicht einmal einen festen Punkt, sondern starrt einfach nur in die Leere. "Sag mal, hat sich Chris bei dir gemeldet?", fragt er mich dann auf einmal.

Verwundert lege ich die Stirn in Falten.

Bedeutet das etwa, dass er vorgestern nicht bei ihm war, so wie ich es erst vermutet habe? Was hat das zu bedeuten? Sonst ist Chris immer zu erreichen, aber ich bin davon ausgegangen, dass er einen schönen Abend mit seinem Freund genießen wollte und deshalb sein Handy beiseite gelegt hat. Jetzt scheint Matt aber selbst nicht zu wissen, was mit Christopher ist.

Als ich den Kopf schüttle, verzieht er enttäuscht das Gesicht. "Matty, wenn er sich schon nicht bei dir meldet, warum sollte er es dann bei mir versuchen? Du bist doch derjenige, der mit ihm ins Bett geht."

Auf meine letztere Bemerkung steigt ihm die Röte in die Wangen, was mich grinsen lässt. "D-das … Das hat doch damit nichts zu tun!" 

"Süß, wie rot du gleich wirst", ziehe ich ihn auf, werde aber schnell ernst. "Hattet ihr denn Streit?"

"Nein, das ist es doch eben! Ich will doch einfach nur wissen, ob es ihm gut geht. Aber er geht ja nicht mal ans Handy. Auf meine Nachrichten antwortet er nicht und wenn ich ihn anrufen will, springt gleich seine Mailbox an. Es macht mich ganz wahnsinnig, nicht zu wissen, was mit ihm ist." 

Merkwürdig. Er hat also genauso Probleme wie ich, ihn zu erreichen. Da liegt doch irgendwas in der Luft. 

"Sollen wir nach der Schule mal bei ihm vorbeischauen?", schlage ich vor, doch mein bester Freund schüttelt den Kopf.

"Ich laufe Chris bestimmt nicht hinterher ..." 

"Das ergibt ja gar keinen Sinn, Matt. Du machst dir Sorgen, willst aber nicht zu ihm." 

"Ja, meine Logik musst du auch nicht verstehen! Es reicht, wenn ich klar durchsehen kann", gibt Matt grimmig von sich und wendet sich von mir ab. Ich sehe ihm dabei zu, wie er sein Handy aus der Jackentasche krammt und es entsperrt. Er wirkt nicht begeistert. "Es ist nur meine Mutter."

"Was schreibt sie?", erkundige ich mich, woraufhin er mir die Nachricht zeigt.

Mutter [09:38 Uhr]: Ich bin für ein paar Tage bei einer Freundin. Geh deinem Vater nicht auf die Nerven, am besten redest du erst gar nicht mit ihm. Er braucht Ruhe - wegen des Stresses auf der Arbeit. Mach ja keine Dummheiten!

Wut steigt in mir auf, als ich ihre Worte lese. Immer und immer wieder.

Wie kann man nur so herzlos sein?

"Die Alte spinnt doch!", zische ich aufgebracht und reiche ihm sein Smartphone. Er überspielt seine Trauer darüber, wie es zwischen ihm und seinen Eltern steht, mit einem Achselzucken, was mich umso wütender macht. Allerdings nicht auf ihn, sondern auf seine Eltern. Besonders auf seine Mutter.

"Jetzt mal ganz ehrlich, Matty, warum tust du dir das noch weiter an? Du weißt doch, dass du so lange du willst bei mir schlafen könntest. Weg von der alten Hexe", biete ich ihm an, obwohl ich die Antwort darauf eigentlich schon kenne.

"Aber ich kann doch nicht Selena und Emma allein lassen. Das geht einfach nicht." 

Meinen Freund in dieser Verfassung zu sehen, zieht mich herunter. Seufzend lege ich meinen Arm um ihn und drücke seinen schmächtigen Körper an mich. "Dann nimm sie halt mit. Mom liebt Kinder über alles, auch wenn sie komische Angewohnheiten hat, das zu zeigen." 

Er schüttelt den Kopf. "Evan, sei mal realistisch, das kann ich nicht machen. Am Ende habe ich noch eine Anzeige wegen Kindesentführung am Hals. Und ihr vielleicht auch."

Verdammt, da kann er recht haben. Es wäre seinen Eltern zumindest zuzutrauen, dass sie diesen Schritt wagen würden. Aber irgendwie muss ihm doch geholfen werden. Er kann nicht in diesem Haus bleiben. Erst durch den Einfluss seiner Mutter ist es Matthew schlechter ergangen, bis es soweit ging, dass er an sich selbst zweifelte und noch mehr - er verspürte Hass sich selbst gegenüber.

Soweit darf es niemals wieder kommen.

"Dann ziehst du zumindest zu uns. Du bist in ein paar Monaten volljährig, danach brauchst du sowieso nicht mehr die Erlaubnis deiner Eltern", versuche ich, ihn zu überreden und glaube zu sehen, wie etwas in seinen Augen aufblitzt. Es stimmt mich optimistisch. "Und weißt du, wegen der Zwillinge werden wir auch noch eine Lösung finden. Glaub mir, ich werde dir helfen", versichere ich ihm weiter. "Selbst wenn Plan Z wäre, dass meine Mum in euer Haus einbricht." 

Matthew gibt mir belustigt einen Klaps auf die Brust, als die Schulglocke über den Schulhof ertönt. Die Schüler machen sich langsam daran, zurück ins Schulgebäude zu laufen.

Nur widerwillig rutsche ich über den Ast in Richtung Stamm, um vom Baum zu klettern. Meine Laune ist vollkommen im Keller, als ich meinen Freund neben mir kichern höre. "Hör auf, so dumm zu lachen. Man kann sich das Genick brechen, wenn man fallen würde", knurre ich über die Schulter ihm zu und konzentriere mich darauf, auf sicheren Boden zu gelangen.

Dort warte ich mit schnell klopfendem Herzen auf Matt, der mit einer Leichtigkeit vom Baum klettert, und mich anschließend herausfordernd anfunkelt. Um uns herum leert sich der Hof und ich zerre ihn in Richtung Schulhaus.

"Weißt du, dein Bett wird aber ganz schön unbequem bei drei Mann", sagt er auf einmal, was mich verwirrt die Augenbrauen zusammenziehen lässt. Er wiederrum grinst breit. "Naja, du und ich … und Wes."

Seine Mundwinkel wandern weiter hoch, als ich spürbar rot anlaufe. "Ach man, sei doch leise." 



• W E S •

Das kleine Glockenspiel über der Tür erklingt, als ich das Café betrete. Schnell lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen, kann Evan allerdings nirgends sehen. Unschlüssig bleibe ich stehen und ziehe mein Handy aus der Hosentasche.

Wir sind verabredet. Besteht etwa wirklich die Möglichkeit, dass ich vor ihm hier bin? Das ist bisher nie der Fall gewesen, wenn wir uns treffen wollten. Da musste er immer auf mich warten. 

Ob ich mir schon etwas zu trinken bestellen oder einen freien Tisch belegen sollte?

"Wesley."

Ein unangenehmes Kribbeln legt sich in meinen Nacken, als ich mich umdrehe. Vor mir steht Piper, sie ist allerdings nicht allein, sondern in Begleitung. Und das ausgerechnet von diesen Idioten aus der Schule, die Matt das Leben schwer machen wollen.

Die Blondine legt lächelnd den Kopf schief. Es erreicht aber nicht ihre Augen. "Welch eine Überraschung, dich hier anzutreffen. Was führt dich her?"

"Ich habe gehört, dass der Kaffee gut sein soll", lüge ich misstrauisch und behalte die Jungen im Auge, die mich wiederum ebenfalls fixiert haben. Sie sehen so aus, als seien sie auf Ärger aus.

"Oh, das ist er! Aber weißt du ..." Sie tritt einen Schritt nach vorne. "Vielleicht ist es keine gute Idee, dass du hier bist."

"Warum?"

"Es könnte zu Spannungen kommen. Wenn ich mich recht erinnere, bist du nicht sonderlich gut auf meine Freunde zu sprechen." Ich folge ihren Bewegungen, wie sie die Hand von diesem Aaron ergreift, der ihr daraufhin zuzwinkert.

Ungläubig verschränke ich die Arme vor der Brust. "Spielst du gerade darauf an, dass ich verschwinden soll?"

"Das hast du richtig verstanden", ergreift der Blondhaarige nun selbst das Wort. "Ich will deine Visage hier nicht sehen ..."

"Aaron, lass mich ..."

Über seine Worte kann ich nur amüsiert den Kopf schütteln, was ihn wiederum weniger zu gefallen scheint. Sein Gesicht zu einer hässlichen Fratze verzogen, baut er sich vor mir auf und möchte mich damit wohl einschüchtern. 

"Findest du das hier etwa witzig?", knurrt er. Eine Ader an seinem Hals tritt gefährlich hervor.

"Zum Totlachen, ehrlich gesagt. Hört mal, mich interessiert es herzlich wenig, dass wir im selben Café sind", entgegne ich und deute über meine Schulter hinter mich. "Ich schlage vor, wir suchen uns ein paar Plätze aus, die weit genug voneinander entfernt sind, damit wir uns nicht sehen müssen." Das Grinsen um meine Lippen wird breiter, als ich hinzufüge: "Wie wäre es, wenn ihr euch einen Tisch am Hinterausgang platzieren lasst? Dort würdet ihr euch doch zurechtfinden, in der Nähe der Müllcontainer ..."

Aaron fasst nach dem Kragen meines Hemdes und zieht mich an sich. Sein Gesicht ist meinem so nahe, dass sein stinkender Atem auf meiner Haut prallt. "Pass mal auf, du miese Ratte ..."

"Ich würde an deiner Stelle lieber vorsichtig sein", falle ich ihm sogleich ins Wort. "Um uns herum sind genügend Leute, die sicherlich bezeugen würden, dass ihr mich belästigt, falls ich die Polizei rufen muss", entgegne ich mit einem drohenden Unterton und entreiße mich aus seinem Griff. "Wenn ihr mich jetzt entschuldigen würdet, ich erwarte eine nettere Gesellschaft."

In dem Moment, als ich mich von ihnen abwende, klingelt mein Handy, das ich die ganze Zeit über in der Hand gehalten habe. 

Evans Stimme dringt in mein Ohr, als ich den Anruf annehme. "Hey, Wes. Entschuldige, ich ..."

"Wo steckst du?", frage ich verwundert, als ich, wenn ich mich nicht täusche, einen Fernseher bei ihm Hintergrund höre. 

"Es tut mir leid, ich schaffe es wohl nicht ins Café. Bist du schon da?"

Ein wenig enttäuscht beiße ich mir auf die Lippe und nicke dann, bis mir einfällt, dass er es nicht sehen kann. "Ist denn etwas passiert?"

"Matty ist gerade bei mir. Ich muss ihn ein wenig aufbauen. Anscheinend haben er und Chris ein paar Probleme, von denen er selbst aber nichts weiß."

Innerlich seufze ich.

Es ist eine der Eigenschaften, die ich an Evan gern habe. Er sorgt sich um seine Mitmenschen. Aber leider vergisst er in all dem oft sich selbst. Nur scheint es ihm gar nicht aufzufallen. 

"Wollten wir nicht über Geschenkideen für meine Mutter sprechen?", erinnere ich ihn zähneknirschend, höre ihm aber an seiner Stimme an, dass es ihm selbst unangenehm ist, mir absagen zu müssen.

"Es tut mir wirklich leid, Wes ..."

"Alles gut, Evan. Wir haben noch ein paar Tage, bis dahin können wir uns ja noch etwas überlegen."

"Was hältst du davon, wenn ich heute Abend bei dir vorbei komme? Ich könnte vielleicht … bei dir schlafen?", schlägt er zögerlich vor, was mich schmunzeln lässt.

"Das hört sich gut an. Dann sehen wir uns später."

"Ich freue mich auf dich."

"Ich mich auch."

Nachdem wir aufgelegt haben, wende ich mich dem Gehen zu, muss aber dann feststellen, dass sich Piper und die anderen von der Stelle gerührt haben. Sie stehen noch immer vor mir und starren mich feindselig an.

Um sie ein wenig zu ärgern, zwinge ich mich zu einem übertrieben freundlichen Lächeln und dränge mich an den dreien vorbei. "Euch noch einen schönen Tag", rufe ich ihnen zu, bevor ich das Café verlasse und spüre, wie eine gewisse Anspannung von mir abfällt, die ich jedes Mal verspüre, wenn ich auf diese Typen treffe.

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