Kapitel 17
• E V A N •
Hand in Hand laufen wir nebeneinander her. Wes redet mich mit irgendwelchen Geschichten aus der Pizzeria zu, die ich allerdings nur mit einem Ohr verfolge.
Wir gehen in seiner Wohngegend spazieren. Als ich den Vorschlag gemacht habe, ist er skeptisch gewesen und musste erst von mir überredet werden.
Jetzt aber bin ich derjenige, der am liebsten wieder nach Hause gehen würde. Weg von all den kritischen Blicken der anderen.
Wes scheint diese gar nicht so zu stören, oder aber er bemerkt sie nicht. Sie brennen sich allerdings in mich hinein.
Und mich beschäftigt dabei nur ein Gedanke. Sehen sie uns so an, weil wir zwei Jungen sind? Das wäre doch das Offensichtlichste.
Es fühlt sich schon ein wenig seltsam an, mit ihm unterwegs zu sein. Dabei seine Hand zu halten. Es stört mich aber nicht.
Es ist nur so neu für mich, mit jemanden zusammen zu sein. Und es dann so öffentlich zu zeigen, ist noch surrealer.
"Hey."
Wes' sanfter Händedruck und seine Stimme reißen mich aus den Gedanken. "Du bist so ruhig. Alles okay?"
"Es ist ein wenig albern."
"Erzähl es mir."
"Das hier ist meine erste Beziehung. Ich muss mich an all das noch gewöhnen, denke ich", erkläre ich ihm und mache dann eine Handbewegung, die all das um uns herum einfangen soll. "Und dann noch die Blicke anderer. Es ist ..."
"Du bist unsicher?", fragt er und als ich nicke, lächelt er vergnügt. "Das ist doch normal, Evanboy."
"W-wirklich? Du bist nicht sauer?"
Nun runzelt er die Stirn. "Warum sollte ich das sein?"
Bevor ich etwas darauf erwidern kann, spricht er weiter. "Du machst dir einige Gedanken - vielleicht auch zu viele -, aber das ist gut, Evan. Du setzt dich mit deinen Gefühlen um uns auseinander, und jetzt fasst du den Mut, mit mir darüber zu reden. Das finde ich wirklich schön."
Wes ist so verständnisvoll. Ich schätze mich glücklich, ihn an meiner Seite zu haben. Er weiß einfach mit den richtigen Worten umzugehen.
Wir überqueren eine wenig befahrene Straße, als er mich von der Seite anstupst. "Gestern schienst du nicht gerade unsicher. Erinnerst du dich? Auf dem Sportplatz?"
Wie aufs Stichwort steigt mir die Wärme ins Gesicht. Entschuldigend lächle ich. "Was mich dazu geritten hat, weiß ich auch nicht so wirkl ..."
"Du hast es genossen, mich wuschig zu machen", sagt er und scheint über seine Worte nicht peinlich berührt zu sein. "Das war echt unfair von dir."
"Ich habe doch nur mein Shirt ausgezo..."
"Du bist dir wohl echt nicht bewusst, was du für eine Wirkung auf mich hast, Evan." Wes wirkt deutlich überrascht über seine Erkenntnis, was mich umso verwirrter aussehen lässt. "Ich ... wäre gestern beinahe über dich hergefallen."
Von seiner Beichte komplett überrumpelt bleibe ich stehen. Da er noch meine Hand hält, halte ich ihn vom Weitergehen ab.
"Du … was? Findest du mich wirklich so attraktiv?"
Um Wes' Lippen bildet sich ein kleines Lächeln. "Vor allem bist du wahnsinnig süß."
Und dann beugt er sich zu mir herüber, um mich zu küssen. Meine Augen fallen flatternd zu, als sich meine Lippen bewegen. Ich öffne sie, um den Kuss zu vertiefen, ziehe Wes näher an mich heran und lege meine Arme um ihn. Seine Hand ruht ein paar Sekunden später auf meiner Wange.
Sein Mund ist angenehm warm und fühlt sich gut an. Ich lasse eine Hand zwischen uns nach oben wandern und lege sie auf seine Brust, spüre dort seinen gleichmäßigen Herzschlag.
Wes streicht mit den Zähnen an meiner Unterlippe entlang und ich lasse mich unter dieser Berührung fallen.
Das ist eine der Sachen, die ich an ihm besonders mag. Wes tut nichts mit halbem Herzen. Und er zeigt mir auch immer, wenn wir zusammen sind, wie sehr er das hier mit uns möchte. Es fühlt sich an, als würde er sein ganzes Herz und seine Seele in diesen Kuss legen. Ich bin in diesem Moment vollkommen hilflos, und ich möchte es auch gar nicht anders. Ich seufze in Wes' Mund und schmelze gegen seinen Körper.
Tatsächlich vergesse ich, dass wir uns inmitten fremder Menschen befinden, die uns in diesem intimen Augenblick sehen können. Wes schafft es, mich vergessen zu lassen und stattdessen zu leben. Einfach nur zu leben und mir keine Gedanken über irgendwas zu machen.
*
"Wann musst du zuhause sein?", fragt Wes, als wir später in seiner Wohnung sind.
Ich werfe ihm eines der Kissen zu, die sein Sofa im Wohnzimmer schmücken sollen. Er fängt es aber leider mit Leichtigkeit auf. "Das klingt, als wäre ich ein kleiner Junge, der die Erlaubnis seiner Eltern braucht."
"Bist du das denn nicht?", provoziert er mich absichtlich und wackelt amüsiert mit den Augenbrauen.
Er lässt sich mit einer mit Chips gefüllten Schale neben mir sinken und betrachtet meine Filmauswahl. "'Sierra Burgess is a Loser'? Sag mir nicht, du stehst auf diesen Noah Centineo."
Meine Stirn legt sich in Falten. Kopfschüttelnd greife ich in die Schale in seinem Schoss. "Ganz bestimmt nicht. Er ist nicht mein Typ. Ich mag ..."
"Nicht dein Typ also?", fällt Wes mir ins Wort. "Was entspricht denn so deinem Typ?"
Damit habe ich mir jetzt ins eigene Fleisch geschnitten. Natürlich muss er diese Angriffsfläche für sich ausnutzen, die ich ihm unbeabsichtigterweise gegeben habe.
"Das weißt du."
"Woher soll ich wissen, was in deinem schönen Kopf vorgeht, Evanboy?"
Ein Seufzen entweicht mir. "Du bist mein Typ, okay? Können wir jetzt den Film schauen?", bitte ich und hoffe, dass die Sache hiermit abgeschlossen ist. Doch damit schätze ich meinen Freund falsch ein.
Er legt breit grinsend seinen Arm auf die Lehne hinter mich und sieht mich mit einem unergründlichen Blick an, der mich auf meinen Platz nervös herumrutschen lässt.
"Das wird hier aber gerade interessant", sagt er amüsiert und lehnt sich dann zu mir herüber. Er macht Anstalten, mich küssen zu wollen. Dabei wird er aber unterbrochen von seinem Handy, das zu klingeln beginnt.
Nun bin ich es, der seine Belustigung nicht verstecken kann. Weniger begeistert ist Wes, der nachschaut, wer versucht, ihn zu erreichen.
Mir entgeht nicht, dass er neben mir zusammenzuckt. Ich lehne meinen Kopf gegen seine Schulter und riskiere einen Blick auf das Smartphone. "Wer ist Gideon?"
"Mein Vater."
"Geh ruhig ran", erlaube ich ihm und richte mich auf. "Ich hole uns derweil etwas zu trinken." Mit diesen Worten lasse ich ihn zurück und verlasse das Wohnzimmer, um in die Küche zu gelangen.
• W E S •
Ich warte, bis Evan das Wohnzimmer verlassen hat, und nehme den Anruf dann entgegen. "Was willst du?", zische ich ins Handy und vermeide dabei jegliche Form von Höflichkeit.
Das entgeht Gideon nicht, er geht aber nicht darauf ein. "Es ist auch schön, deine Stimme zu hören, mein Sohn. Ich rufe an, um dich an Moms Geburtstag zu erinn-"
"Ich habe keine Zeit zu kommen", sage ich ausweichend, was ihn aber nicht weiter kümmert.
"Was hast du denn vor?"
"Muss ich mich dir gegenüber rechtfertigen?"
"Nein, aber ich ziehe es schon vor, nicht angelogen zu werden. Wesley, denk doch bitte darüber nach. Wir würden uns sehr freuen, dich mal wiederzusehen."
Ich höre, wie in der Küche Schranktüren geöffnet und wieder geschlossen werden. Evan soll von diesem Telefonat so wenig wie möglich mitbekommen. Dafür muss ich es schnell beenden.
"Damit ich mir anhören darf, dass ich mein Leben durch den Dreck ziehe? Danke, darauf kann ich getrost verzichten", werfe ich meinem Adoptivvater an den Kopf.
Ausgerechnet in dem Moment kommt mein Freund zurück ins Wohnzimmer und sieht mich fragend an, als er mit zwei Gläsern in der Hand auf mich zukommt. "Was ist denn los?", flüstert er. In seiner Stimme schwingt ein Hauch von Besorgnis mit.
Ich bedecke das Smartphone mit der Hand und erkläre ihm: "Es ist nichts Gravierendes. Er meint, ich sollte unbedingt anlässlich des Geburtstags meiner Mutter nach Hause fahren."
"Was spricht dagegen?"
"Ich verstehe mich nicht sehr gut mit meiner Familie", sage ich leise und möchte mich schon wieder dem Telefonat mit Gideon zuwenden. Doch der plötzlich ernste Gesichtsausdruck von Evan hält mich ab.
"Wes, du bist manchmal echt kindisch. Diese Eigenschaft mag ich zwar an dir, aber findest du nicht, dass du gerade ein wenig übertreibst?", fragt er. "Es ist der Geburtstag deiner Mutter."
Ich überlege für einen Moment, inwieweit ich ihm von meiner Familie erzählen sollte, als ich meinen Vater am anderen Ende der Leitung irgendwas sagen höre. "Gideon, warte mal kurz", bitte ich ihn und schenke dann Evan meine volle Aufmerksamkeit.
Er umfasst mein Gesicht und zwingt mich damit, ihn anzusehen. "Du hast nur eine Familie, Wes. Denk darüber nach. Du kannst nicht mehr die Zeit zurückdrehen, wenn es irgendwann zu spät ist und du es vielleicht bereust."
Nachdenklich beiße ich mir auf die Lippe.
Selbst wenn Evan damit recht hätte, würde es mir trotzdem einiges an Überwindung kosten, nach Hause zu fahren. Ich würde dann nicht nur meinen Eltern begegnen, sondern auch anderen, worauf ich getrost verzichten könnte.
Der Lockenkopf scheint mir mein Zögern anzusehen. Er beugt sich zu mir herüber und für einen Augenblick glaube ich, er wolle mich küssen. Doch stattdessen lehnt er seine Stirn gegen meine und schließt leise seufzend die Augen. "Vielleicht könnt ihr auch eure Streitigkeiten klären", versucht er, mich zu überreden.
Und ich knicke schließlich ein.
Augenverdrehend hauche ich ihm einen Kuss auf den Mund, bevor ich mich von ihm wegdrehe und mein Handy wieder ans Ohr halte. "Gideon, bist du noch dran?"
"Bin ich. Und du bist ganz offensichtlich nicht allein."
"Ich werde zu ihrem Geburtstag kommen ..."
Ich höre ihn erfreut keuchen. "Das ist wundervoll! Annabelle wird sich so freuen!"
Mein Blick liegt auf Evan, der mich abwartend beobachtet. "Rechnet damit, dass ich jemanden mitbringe", eröffne ich meinem Adoptivvater, der nicht weniger überrascht zu sein scheint wie mein Freund selbst, dessen Augen sich weiten.
"O-okay. Dann sehen wir uns. Ich freue mich auf dich", verabschiedet sich Gideon.
Als ich auflege, starrt Evan mich weiterhin geschockt an. "Was … sollte das, Wes?"
Seufzend nehme ich seine Hand und führe ihn zurück auf die Couch. "Entschuldige. Ich hätte dich vorher fragen sollen. Aber ich könnte es dort einfach nicht allein aushalten. Und sonst ist immer mein bester Freund mitgekommen, wenn ich mich doch überwinden konnte."
Er verschränkt unsere Finger miteinander. "Aber geht das nicht zu schnell? Und was soll ich denn tun, wenn deine Eltern mich nicht mögen?"
Habe ich Evan überhaupt verdient, so süß wie er immer ist? Wie kann er nur Angst vor meinen Eltern haben? Dabei ist er ein wundervoller Mensch, den man doch nur mögen kann. Oder bin ich etwa so verblendet?
"Denkst du wirklich, sie könnten dich hassen? Evan, ich stelle ihnen nicht jeden Menschen vor, den ich kennenlerne. Du bist mir aber wichtig, verstehst du?"
Seine Wangen laufen verräterisch rot an, doch dann umspielt auch ein leichtes Schmunzeln seine Lippen. "Du hast also keine Bedenken deshalb?"
Ich schüttle entschlossen den Kopf und entziehe ihm eine Hand, um sie auf seine Wange zu legen. Evan schließt seufzend die Augen und schmiegt sich gegen meine Handfläche. "Ich schätze mich wahnsinnig glücklich, dich an meiner Seite zu haben. Und ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als dass du meine Familie kennenlernst."
"Okay."
"Okay?"
"Wie soll ich dir etwas abschlagen, wenn du mir so schön Honig ums Maul schmierst?", witzelt er und beugt sich dann vor, um mich zu küssen.
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