|6| Someone take me home

Es ist sechs Uhr morgens. Die Sonne geht gerade auf. Ich sitze wie ein Flitzebogen auf dem Sofa. Meine Reisetasche ist überfüllt mit Kleidung, Hygieneartikeln, Kosmetika und ein paar elektronischen Dingen. Ich schlucke. Ich bin mir immer noch nicht sicher. Nicht sicher, ob ich all das hier zurücklassen kann. Doch im Endeffekt hat Hanna recht. Ich habe nichts zu verlieren. Sie wird die Wohnung für mich in Stand halten und sogar monatlich eine hohe Miete überweisen. Ich weiß, dass ihr der Betrag nicht wehtun wird. Auch, wenn er den Nettoverdienst einiger meiner Nachbarn beträgt. Aber Hanna verdient gut. Überdurchschnittlich gut. Und es war ihr eigener Vorschlag. Ich sollte deswegen wirklich kein schlechtes Gewissen haben. Und dennoch gibt es da diese leise, feine Stimme in meinem Kopf.

Meine Augen brennen. Ich habe in dieser Nacht keine einzige Minute geschlafen. Die ganze Zeit haben sich meine Gedanken in einem wilden Karussell herumgedreht. Sollte ich wirklich gehen? Schaffe ich es, Joris noch rechtzeitig abzufangen? Muss ich eine Versicherung abschließen, wenn ich Hanna die Wohnung vermiete? Sollte ich wirklich gehen? Was ist, wenn ich ihn nicht abfangen kann? Sollte ich wirklich gehen? Was ist, wenn mir diese Reise nicht gefällt? Bekomme ich meine Wohnung wirklich so einfach zurück? Sollte ich wirklich gehen? Was wenn ...

Ein aufbrüllender Motor lässt mich zusammenfahren. Dann höre ich Stimmen. Joris' Stimme.

«Was zum ...?!» Ich springe auf, sprinte zum Fenster. Er klopft seinem Kumpel gerade auf die Schulter. Er fährt gleich.

«Nun geh schon!» Hanna ist hinter mich getreten und hält mir meine Tasche entgegen. «Beeil dich!»

Ich greife nach den Riemen der Reisetasche und sprinte an ihr vorbei zur Tür hinaus. «Hab dich lieb!»

«Ich dich auch!», ruft sie mir hinterher.

Ich renne. Stolpere die Treppe hinunter. Drücke die Tür nach draußen auf. Frische Luft weht mir entgegen. Ich renne. Renne. Renne. Mehrmals rutscht mir der Riemen von der Schulter. Ich komme ins Straucheln.

«Halt!», schreie ich. «Halt an!» Doch das Wohnmobil ist bereits angefahren. Es ist zu spät.

Irgendwann ist irgendwann zu spät.

«Halt!» Ich treibe meine Beine erneut an, fuchtele mit den Armen wild in der Luft herum. Verzweiflung kommt in mir auf. Ich spüre das Brennen in meinen Augen, das nun nicht mehr nur durch die Müdigkeit kommt. Gleich laufen mir die Tränen über die Wangen. Ich habe zu lange gezögert.

Aber gerade als ich die Bitterkeit meiner Fehlentscheidung akzeptieren will, stoppt das Wohnmobil. Joris' Kopf schiebt sich durch das geöffnete Fenster, dann sein Oberkörper. Er sieht überrascht aus. «Svenni?»

«Ja!» Erleichtert lege ich mir die Hand übers Herz.

«Willst du dich verabschieden?», fragt er und ich schüttle den Kopf.

«Besser!», schreie ich, ehe ich mich erneut auf das nun stehende Wohnmobil zubewege und schließlich die Beifahrertür aufreiße und auf den Sitz klettere. «Ich komme mit. Du nimmst mich doch noch mit oder?»

Seine Mundwinkel zucken und seine Augen glitzern. «Klar!» Er reißt mich in eine stürmische Umarmung. «Ich habe es ehrlich gesagt, gehofft.»

Ich muss grinsen, als er den Motor startet und ich meine Tasche öffne, um eine Jeansjacke hervorzuziehen. Seine Jeansjacke.

«Was ist das?», fragt er und wirft mir einen kurzen Blick aus den Augenwinkeln zu.

«Deine Jacke.» Ich beiße mir auf die Lippen und kicher leise.

«Du hast sie noch?»

«Natürlich.»

«Und ich dachte, du hast mich komplett aus deinem Leben gelöscht, dass du mich vergessen hast.»

«Nein», sage ich und streiche fast schon zärtlich über den Jeansstoff. «Das könnte ich niemals. Du warst immer mein Anker. Das zarte Garn, das mich mit meinem alten Leben verbindet.»

«Und deinem neuen Leben», sagt er. «Also ... wenn du magst.»

«Und wie ich mag!»

Er reicht mir seine Hand, streichelt kurz meine und legt sie dann auf meinen Oberschenkel.

Heute ist irgendwann. Heute ist eines Tages.

Keine Ausflüchte mehr. Kein Aufschieben. Kein Verstecken.

Ich will mein Leben genießen. Es ist vollen Zügen spüren. Will glücklich sein und mein Herz in einem wilden Rhythmus schlagen fühlen. Ich will so viel mehr als ein schnödes Vorstadtleben.

«Wo darf es hingehen, Fräulein?», fragt Joris und zieht seinen imaginären Hut.

«Dorthin, wo die Winde wüten», lache ich und Joris stimmt mit ein.

«Dorthin, wo die Möwen kreischen. Dorthin, wo man die Wellen rauschen hört und man den Sand zwischen den Zehen nur schwer wieder hervorpulen kann.» Er zwinkert. «Aber gern, mein Fräulein.»

Es fühlt sich richtig an. Joris' Hand fühlt sich richtig an, sein Lachen und seine Wärme.

Den Blickwinkel neu einstellen, das ist es, was ich gebraucht habe, um mit Mut und Überschwang kopfüber in die Fluten zu springen. Und eigentlich war es ein Tritt, den Hanna mir verpasst hat. Ein Tritt, ohne den ich für ewig auf der Stelle marschiert wäre.

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