|5| See we get to the end, but that's where we begin, you feel it

«Komm doch mit mir», versucht Joris es erneut.

Ich schüttle den Kopf. «Nein.»

«Wieso nicht?» Hoffnungsvoll sieht er mich an. Er will einfach nicht aufgeben. Aufgeben, das hat er noch nie gut gekonnt.

«Ich habe hier ...» Ich stocke. Eigentlich habe ich hier nichts mehr, das mich hält. Richard ist tot. Mein Hund auch. Die Wohnung, der Garten ... Nun, nichts, das sich nicht regeln lassen würde. Verdammt, ich habe ja nicht einmal einen Job.

«Du hast hier?» Mit großen Augen sieht er mich an. Er ist vor mir zum Stehen gekommen. Nur noch wenige Zentimeter trennen seine breite Brust von meiner Nasenspitze. Noch immer hält er meine Hand.

Erneut schüttle ich den Kopf. «Nichts.»

Kurz runzelt er die Stirn, ehe er mit dem Zeigefinger mein Kinn anhebt. «Dann komm mit mir, Svenni.»

«Warum ist dir das so verdammt wichtig?», will ich wissen. Er drängt mich ja beinahe schon.

«Weil es nicht nur mein Traum ist.»

«Doch jetzt schon.» Ich löse mich von ihm und lasse ihn stehen. Ohne mich noch einmal umzudrehen, gehe ich davon. Die Straße entlang, die sich lang und dunkel vor mir erstreckt, während kein Stern den Himmel erhellt. Nicht einmal der Mond ist zusehen. Dabei müssten wir eigentlich Vollmond haben.

Blind, wie ferngesteuert, laufe ich den Weg zu meiner Wohnung zurück. Ich stecke den Schlüssel ins Schloss und drücke die Tür zum Treppenhaus auf. Außer Atem rutschte ich in den Flur. Hanna sitzt im Wohnzimmer noch vor dem Fernseher. Sie sieht auf.

«Alles okay?» Als sie mein von Tränen verschmiertes Gesicht sieht, springt sie auf.

Ich nicke. «Ja, es ist nur ... eine lange Nacht.»

Ich verrate ihr nicht, dass ich Joris getroffen habe. Ich sage ihr nicht, dass er mir erneut angeboten hat, mit ihm zu kommen. Ich kann ihr nicht erzählen, dass ich geweint habe, weil ich Heimweh habe. Ich kann es einfach nicht ...

Und dennoch schließt Hanna mich sofort in ihre Arme und drückt mich an ihren weichen Busen. «Du willst mit ihm mit, nicht wahr?»

Sie hat mich durchschaut, noch bevor ich es mir selbst eingestehen kann. Irgendetwas ist in mir wie Eierschale aufgebrochen und hat das zum Vorschein getragen, das ich all die Jahre versucht hatte, unter Schutt und Geröllhaufen zu vergraben.

«Geh mit ihm», sagt Hanna. «Er hat es dir doch angeboten.»

«Aber», fange ich an und schlinge nun auch die Arme um ihre Taille, «die Wohnung und-»

«Vollkommen egal!»

«Mein Traum-»

«Ist weder die Wohnung, noch dieser Garten», sagt Hanna. «Du wolltest das nie. Lebe nicht Richards Traum. Richard ist tot.»

Ich schlucke. Es tut weh. Er ist tot. Richard ist tot. Das weiß ich. Trotzdem tut es weh. Ich habe ihn geliebt. Ich habe so viel für ihn aufgegeben. Ich habe mich für ihn aufgegeben.

«Aber-», beginne ich nochmal, doch diesmal drückt mir Hanna gleich die ganze Hand auf den Mund.

«Hör auf, dich in Ausreden zu flüchten, Svenja!», sagt sie und ihr Blick ist so streng wie nie zuvor. «Du wolltest irgendwann einmal zurück ans Meer. Du wolltest irgendwann einmal diese Tour machen. Du wolltest irgendwann einmal glücklich sein. Doch irgendwann ist irgendwann zu spät. Lass es geschehen. Greife nach dieser Chance!»

Kann ich das einfach? Alles hinter mir lassen und neu anfangen? Darf ich das überhaupt? Bin ich es Richard nicht schuldig, auf seinen Traum ... unseren Traum ... gut Acht zu geben?

«Gib dir einen Ruck.»

«Ich kann nicht.»

«Natürlich kannst du», poltert Hanna und gibt mir einen leichten Klaps auf den Hinterkopf. «Du willst nur nicht. Weil du feige bist und weil du bequem bist. Weil du dich schon viel zu sehr an dieses Leben gewöhnt hast. Du bist eine Gefangene, die vergessen hat, dass sie überhaupt gefangen ist. Du hast vergessen, du selbst zu sein, Svenja.»

Ich schubse sie von mir. «Wie kannst du nur so etwas sagen?»

«Ich sage nur die Wahrheit!»

Mit zusammengepressten Lippen schüttle ich den Kopf. Die Wahrheit, die Wahrheit! Wenn es wirklich die Wahrheit wäre, warum hat sie es all die Jahre nicht ein einziges Mal angesprochen?

«Vielleicht hast du Richards Traum zum Teil als deinen eigenen betrachtet, aber hier ist das Ende, Svenja. Endstation. Hier kommst du nicht weiter. Du trittst seit Monaten auf der Stelle. Meinst du nicht, es ist an der Zeit eine neue Tür zu öffnen?»

«Aber-»

«Richards Tür hat sich längst verschlossen», blubbert es weiter aus ihr heraus. Ich habe nicht einmal den Hauch einer Chance überhaupt dazwischen zu grätschen. «Davon einmal abgesehen ...»

Den Rest ihrer Worte blende ich aus. Ich weiß, wie mein Leben verlaufen wäre, würde Richard noch leben. Wir wären in dieser Wohnung alt geworden, ich vermutlich längst schwanger. Amy wäre bellend und tollend durch den Garten gerast. Irgendwann hätten wir geheiratet. Ganz in weiß, mit einem Oldtimer anstatt einer Pferdekutsche. Richard hatte die Idee mit der Kutsche schon immer doof gefunden. Er hätte lieber einen Oldtimer gehabt. Und ich weiß, dass ich mich gefügt hätte. Dafür hätte er der Idee, mit den hundert fliegenden Luftballons, zugestimmt. Für ihn wäre das zu viel Kitsch gewesen, doch er hätte gewusst, dass er mich damit glücklich machen würde. Und irgendwann wäre auch Kind Nummer zwei unterwegs gewesen, um unsere Familie zu komplettieren. Er hätte irgendwann das Büro seines Chefs übernommen und ich wäre Hausfrau und Mutter gewesen. Doch hätte mich das wirklich glücklich gemacht? Wäre dieses Leben jemals zufriedenstellend für mich gewesen? Wollte ich nicht immer mehr?

Habe ich nicht immer die Welt sehen wollen? Endlich wieder aufs SUP steigen und ganz entspannt den Bodden entlang paddeln. Mit einer heißen Emailletasse voller Kaffee in der Hand in den Dünen sitzen und dem Sonnenaufgang beobachten. Mich kopfüber nur an einem Seil an meinen Füßen von einer Brücke werfen. Einfach in den Tag hineinleben und jedes Mal etwas anderes sehen. Jeden Morgen an einem anderen Ort aufwachen. Ist das nicht die Svenja, die ich eigentlich mal gewesen bin? Die Svenja, die ich tatsächlich noch immer bin?

Wie wäre mein Leben wohl bisher verlaufen, hätte ich Richard niemals kennengelernt? Wäre ich wohl nach dem Schulabschluss wieder in die Heimat gezogen? Hätte ich Joris schon vorher wiedergesehen? Hätte ich ihm wohl meine Gefühle gestanden? Meine Gefühle, die irgendwie noch immer da sind. Meine Gefühle, die ich nie wirklich losgelassen habe.

Ich beiße mir auf die Lippen. Hanna redet immer noch auf mich ein, aber ich begreife den Kontext nicht. Daher lasse ich ihre Worte einfach nur über mich ergehen, bis sie schließlich fragt: «Hast du mich verstanden, Svenja?»

Ich nicke stumpf und hoffe, dass das Thema damit beendet ist, aber als sie freudestrahlend und auch etwas überrascht die Augen aufreißt und in die Hände klatscht, weiß ich, dass ich einen Fehler begangen habe.

«Großartig!»

«Groß-», versuche ich ihren Worten zu folgen. «Warte was?»

Verwirrt sieht Hanna mich an. «Na, ich werde den Vertrag gleich fertig machen.»

«Welchen Vertrag?» Ich blinzle schnell. Welchen wichtigen Tag in dieser sehr einseitigen Konversation habe ich verpasst?

«Den Mietvertrag, Dummerchen.» Sie sieht mich an, als wäre das alles klar wie Kloßbrühe und ich nicht mehr ganz dicht.

«Mietver-»

«Sag mal, hast du mir überhaupt zugehört?» Hanna stemmt die Hände in die Hüften. «Das ist doch ein toller Plan.»

«Plan?» Ich verstehe nur noch Bahnhof. «Wovon redest du bitte?»

«Davon, dass du jetzt hopp, hopp deine Klamotten packst und ich den Mietvertrag aufsetze.»

«Was für ein Mietvertrag, Hanni?» Mit Augen so groß wie Wagenräder starre ich sie an, versuche, einen klaren Gedanken aus ihrem wirren Kopf herauszuziehen.

«Für diese Wohnung?» Sie deutet mit dem Zeigefinger vor sich auf den Boden. «Tausendfünfhundert warm für alles ... mit Möbeln. Und du gehst deinen Traum nach.»

Meine Augenlider flackern. Ich deute mit dem Finger schnell zwischen uns hin und her. «Ich soll dir meine Wohnung vermieten?»

«Ja?» Sie macht eine ausladende Geste mit den Armen. «Eine Tür geht zu, eine andere auf. Davon hatten wir es eben, Svenja. Geh und leb deinen Traum. Ich kümmere mich hier um alles.»

Ich brauche einen Moment, um ihren Worten folgen zu können, und plötzlich dämmert es mir, welchen Teil unserer Unterhaltung ich verpasst habe.

«Du kannst natürlich jederzeit zurückkommen, wenn das Ganze in die Hose gehen sollte. Ich hol dich sogar von irgendwo ab, wenn das der Fall wäre. Aber es ist doch eine Win-Win-Situation. Du musst dir keine Gedanken machen, was mit der Wohnung passiert, und kannst ein neues Kapitel in deinem Leben aufschlagen. Das Kapitel, das schon so lange ungelesen darauf wartet, endlich von dir verschlungen zu werden.»

«Aber ich kann doch nicht einfach hier weg.»

«Du willst es aber. Das weiß ich.»

«Es ist viel zu plötzlich», beharre ich. «Sowas braucht doch Planung.»

«Planung ist etwas für Spießer. Du bist kein Spießer. Richard hat dich nur zu einem gemacht und das weißt du selbst auch.»

Ich beiße die Zähne zusammen und verkneife mir meinen Kommentar. Ich mag es nicht, wie sie über Richard redet, obwohl ich längst weiß, dass sie recht hat. Sie hat mit allem recht.

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