|3| You are my best friend

Ich habe ihn nicht angerufen. Nicht weil ich feige bin, sondern weil Hanna wenig später völlig aufgelöst vor meiner Tür gestanden hat. Zumindest rede ich mir das ein. Denn die Tatsache, dass Hanna nun schon volle vier Tage in meinem Gästezimmer wohnt und ich Joris längst hätte anrufen können, wenn auch einen oder zwei Tage später, ignoriere ich geflissentlich.

Doch Hannas Probleme nehmen momentan mein ganzes Denken ein. Julian hat sich von ihr getrennt und sie weiß nicht, wo sie hin soll. Natürlich kann sie bei mir bleiben, so lange sie will. Eigentlich bin ich ganz froh, in dieser riesigen Wohnung nicht mehr allein zu sein.

«Was ist los mit dir, Svenja?», fragt sie, während sie mir einen Kaffee zuschiebt. «Du bist in letzter Zeit so abwesend. Ist es, weil ich hier bin? Ich kann auch-»

«Nein!», falle ich ihr sofort ins Wort. «Nein, Quatsch! Denk sowas nicht, Hanni.»

«Was ist es dann?», hakt sie nach und hantiert an der Kaffeemaschine herum. Sie versucht, Milch aufzuschäumen, und scheitert kläglich. Zwar erhitzt die Maschine die Milch, doch nach weißem Schaum sieht das, was sie fabriziert, eher weniger aus.

«Muss bestimmt mal gereinigt werden», merke ich an, als ich ihren enttäuschten Gesichtsausdruck sehe. «Mache ich nachher.»

«Du sagst mir erstmal, was los ist», beharrt sie weiter und ich seufze.

«Ach vor ein paar Tagen hatte ich eine komische Unterhaltung.» Ich wische mit der Hand in der Luft herum, als könnte ich das Thema somit beenden. Doch natürlich gibt sich Hanna damit nicht zufrieden. Sie zieht die rechte Augenbraue in die Höhe und nippt an ihrer Tasse, was so viel bedeuten soll wie ‹Spuck's schon aus›. Also füge ich hinzu: «Ein alter Schulfreund stand völlig zufällig vorm Garten.»

«Ein Schulfreund?»

«Joris Peters.»

«Der Joris?», quietscht Hanna und spuckt mir beinahe ihren Milchkaffee ins Gesicht.

«Der?»

«Na, der von dem du damals so viel erzählt hast», hilft mir meine Freundin auf die Sprünge.

«Habe ich das?» Daran kann ich mich gar nicht erinnern. Ist er mir damals wirklich so wichtig gewesen?

Ich lasse meinen Blick durch die große weiße Landhausküche schweifen. Wir haben sie erst letztes Jahr gekauft. Richard hat lange gespart, um mir eine Freude zu machen. Meine Traumküche. Die, die ich jedes Mal angehimmelt habe, wenn wir im Möbelhaus gewesen sind. Er hat mir sogar den großen Induktionsherd spendiert. Den mit sechs anstatt nur vier Platten.

«Ja, klar!» Hanna stellt ihre Tasse zur Seite. «Ich war auch fest überzeugt, dass ihr was miteinander hattet.»

Entgeistert starre ich sie an. «Nein, nie!» Abwehrend wedle ich mit den Armen in der Luft herum. «Absolut nicht.»

«Okay, okay.» Sie grinst. «Also, was war an eurem Gespräch so komisch?»

«Er hat sich ein Wohnmobil gekauft.» Ich nehme einen Schluck Kaffee.

«Und? Ist doch toll.»

«Und seine Wohnung gekündigt», fahre ich fort.

«Abenteuerlustig, der Typ. Ist doch geil!» Ihr Grinsen wird breiter. «Aber der Knackpunkt ist welcher?»

«Er hat mich eingeladen, mit ihm zu kommen.» Ich nehme noch einen Schluck Kaffee. «Und gemeint, dass das hier nicht zu mir passt.» Ich mache eine ausladende Geste und deute auf die Küche und hin zu den Fenstern, die von zwei Vintagegardinen behangen sind, die einen Blick auf die Hecke gewähren, die den Garten versteckt.

Hanna wackelt mit dem Kopf. «Wo er recht hat.»

«Was meinst du?» Ich runzle die Stirn und rucke mit dem Kopf vor.

«Na ja.» Sie leckt sich die Lippen. «Du warst früher mal ganz anders. Als ich dich kennengelernt habe, hätte ich dich niemals in so einer Wohnung-»

«So einer Wohnung?»

«Versteh mich nicht falsch!», kräht sie, ehe ich weiterreden kann. «Die Wohnung ist top und auch der Garten. Ein Traum. Absolut. Ich würde gerne hier wohnen. Aber ...» Sie holt tief Luft.

«Aber?»

«Es war nie dein Traum.»

Mein linkes Lid beginnt zu zucken. «Das stimmt doch gar nicht. Natürlich ist das hier mein Traum.»

«Es war Richards Traum», erwidert Hanna und sieht mich mitleidig an. «Du hast dich bloß mitreißen lassen.»

Ich umklammere meine Kaffeetasse und starre den Rest des schwarzen Gesöffs an. Normalerweise trinke ich ihn nicht schwarz, aber heute ist es mir irgendwie egal.

«Du weißt, dass ich recht habe.» Hanna legt ihre schlanken Finger auf mein Handgelenk und beugt sich über die Theke zu mir herüber. «Das weißt du eigentlich schon die ganze Zeit.»

Hat sie damit recht? Habe ich mich mitreißen lassen? Ja, die Wohnung ist Richards Traum gewesen ... aber doch auch meiner. Ich habe mich genauso gefreut, als wir sie gekauft haben. Ich habe mit viel Liebe, Fleiß und Schweiß den Garten gestaltet. Ich genieße jede freie Minute in dem Grün.

«Du hast dich verändert», sagt Hanna. «Und das wegen Richard.»

«Wie meinst du das?»

Hanna holt erneut tief Luft. «Ich weiß, man spricht nicht schlecht über Tote und vor allem nicht, weil du ihn geliebt hast, aber du hast ständig versucht, es ihm recht zu machen. Seit dem du ihn ...» Sie stoppt. Es fällt ihr augenscheinlich schwer, mir das zu sagen, was sie anscheinend all die Jahre zurückgehalten hat. «Du warst früher so lebensfroh.»

«Das bin ich doch jetzt auch. Das war ich auch mit Richard.»

Hanna drückt sich den Zeigefinger an die Stirn und schnalzt mit der Zunge. «Er ist so ganz anders gewesen. Anders als du. Anders als ich. Er hat dich in Kreise mitgenommen, die dir absolut nicht zugesagt haben. Erinnerst du dich, wie du am Anfang ständig dachtest, du hättest dich blamiert?»

Ich reiße die Augen auf. Das hatte ich ganz verdrängt. Aber es stimmt. Am Anfang ist es mir schwergefallen, mich in Richards Freundeskreis zurechtzufinden.

 «Auf einmal bist du ruhig geworden», sagt Hanna. «Weniger quirlig. Fast schon langweilig. Du hast deinen Traum aufgegeben. Du wolltest immer zurück ans Meer und auf einmal war das gar kein Thema mehr. Ihr seid zusammengezogen, habt irgendwann diese Wohnung gekauft. Ich meine, war Richard ein einziges Mal mit dir am Meer? Wenigstens für Urlaub? Ich sehe es in deinen Augen, Svenja. Jedes Mal, wenn du eine Möwe siehst, die sich vom Hafen hier her verirrt hat. Du hast Heimweh. Meerweh.» Sie lacht trocken und mir stehen plötzlich die Tränen in den Augen.

Sie hat recht. Richard hat das Meer gehasst. Er ist gern wandern gegangen, hat die Berge geliebt. Flachland fand er scheiße. Der Strand war ihm zu sandig, die Luft zu salzig und der Wind zu kalt und zu stürmisch. Also sind wir nie zusammen hingefahren. Und weil er nicht gewollt hat, dass wir getrennt Urlaub machen, bin ich auch nie allein gefahren.

Ein scharfer Schmerz schneidet eine schmale Wunde in mein Herz. Lässt es bluten. Ich habe Heimweh. Habe ich all die Jahre gehabt. Doch für Richard habe ich diesen Wunsch fest verschlossen, ihn weggesperrt.

«Du bist meine beste Freundin, Svenja», sagt Hanna und streift mit dem Daumen über mein Handgelenk. «Ich habe so sehr gehofft, du kommst irgendwann von ganz alleine darauf.»

«Warum hast du nie etwas gesagt?»

«Weil du mir ernsthaft beteuert hast, dass du glücklich bist, und außerdem hast du Richard geliebt. Wer bin ich, dass ich dir deine Beziehung schlecht rede?» Sie zuckt mit den Schultern.

Sie hat das all die Jahre mit angesehen und nichts gesagt, weil sie mir Richard nicht schlecht reden wollte. Ich schlucke. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass sie das so sieht.

«Du hast dir die ganze Zeit selbst etwas vorgemacht, Svenja.»

«Nein.» Ich schüttle mit dem Kopf und entziehe ihr mein Handgelenk. «Nein, habe ich nicht.»

«Svenja», setzt sie erneut an, «du bist meine beste Freundin und ich habe dich vollkommen anders kennengelernt. Ich weiß, dass du das jetzt noch alles nicht wahrhaben willst, aber früher oder später kommst du selbst darauf.»

Eine Weile herrscht zwischen und nichts als Schweigen. Nur die Uhr an der Wand tickt leise vor sich hin. Dann trinke ich meinen Kaffee aus. Er ist mittlerweile kalt und schmeckt bitter.

«Und was rätst du mir nun?»

«Konzentriere dich auf dich.»

«Meinst du nicht, dass du jetzt erstmal wichtig bist?», hake ich nach.

Hanna winkt ab. «Ich komm schon klar.»

«Aber die Trennung-»

«Ist halb so wild. Glaub mir, ich hätte mit diesem Idioten nie zusammenziehen sollen. Dann würde ich jetzt nicht auf der Straße sitzen.»

«Du sitzt nicht auf der Straße, Hanni!», beharre ich. «Du kannst so lange hier bleiben, wie du willst. Du weißt, ich bin immer für dich da.»

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