|2| Can I call you tonight?

«Das gibt's doch nicht!», reißt mich eine Stimme aus meinen Gedanken. Ich sehe auf und stelle den Wasserschlauch aus, während die Pumpe weiter vor sich hin brummt.

Ich lege meinen Kopf schief. «Entschuldigung, kennen wir uns?» Ich bin mir sicher, ich habe diesen Mann, der sich aufgeregt auf meinem Gartentor abstützt und seinen Kopf unter den Rosenbogen hindurch steckt, noch nie in meinem Leben gesehen.

Er deutet mit dem Zeigefinger auf seine Brust. «Ich bin's Joris.» Sein Grinsen bedeckt sein gesamtes Gesicht. «Du bist doch Svenja oder? Svenja Bente aus der 10c?»

Perplex nicke ich und lasse den Schlauch fallen. «Ja.» Ich überlege. Joris. Der Name kommt mir bekannt vor.

«Joris Peters», sagt er. Sein norddeutscher Akzent ist nicht zu überhören. «Aus der 10a. Sag nicht, du hast mich vergessen, Svenni.» Er klimpert mit den Augen und schlagartig kommt mir das Bild eines jungen Mannes mit endlos langen Wimpern in den Sinn, der nie aufgehört hat zu grinsen. Selbst dann nicht, wenn eigentlich alles nur zum Heulen gewesen ist.

Ich hebe den Zeigefinger. «Moment.» Dann drehe ich mich um, stapfe zur Pumpe und stelle sie aus. Ich habe keine Lust, dass mir das Ding irgendwann noch einmal um die Ohren fliegt. Richard hat zwar immer gesagt, dass das nahezu unmöglich ist, aber sie ist mir immerhin schon einmal heiß gelaufen und ich will es nicht riskieren.

«Nicht so viel Begeisterung», feixt der Mann am Gartentor. «Ich kann mich ja gar nicht vor so viel Freude retten.» Er streckt mir die Zunge raus, woraufhin ich leicht schmunzeln muss. Er hat sich kein Stück verändert. Zumindest nicht vom Charakter. Äußerlich ist er ein vollkommen anderer Mensch.

Ich öffne das Tor und falle ihm in die Arme. Wir haben uns Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Mindestens zwölf Jahre nicht mehr. Seit dem Umzug. «Was machst du denn hier?», frage ich und genieße seine starken Arme um mich. Er riecht immer noch so gut. Nach salziger Seeluft. Nach Heimat.

«Das sollte ich dich fragen», grinst er mich an, als er die Umarmung löst. «Ein schmucker Vorort. Ein spießiger Garten. Svenni, wann hast du dich so verändert?» Er deutet in einer ausladenden Handbewegung an mir auf und ab.

Spießig. Ich lecke mir über die Lippen und betrachte dann mein grünes Paradies. Ich finde es nicht spießig. Nun, zugegeben, es ist sehr ordentlich und aufgeräumt. Ich bin sehr darauf bedacht, allen Pflanzen reichlich Wasser zuzuführen, damit sie nicht vertrocknen. Und im Gegensatz zu den Nachbargärten strahlt mein kleiner Garten wie ein funkelnder Diamant. Aber spießig? Ich verziehe den Mund und zucke die Schultern. «Findest du?»

Joris nickt. Seine hellbraunen Haare trägt er lässig. Ein Undercut, sodass seine Locken, anders als früher, nicht mehr die Oberhand übernehmen können. Seine blaugrauen Augen mustern mich. Sie glitzern wie die Sonne auf den Wellen des Meeres. «Schon, ja.»

«Was machst du hier?», frage ich erneut, um nicht erklären zu müssen, warum ich mich verändert habe.

«Ich penne die nächste Woche bei einem Kumpel.»

«Ah.» Ich nicke. «Und unternehmt ihr etwas schönes? Will er dir die Stadt ein bisschen zeigen?»

Joris winkt ab. «Nein, es ist eher organisatorischer Natur.»

Ich runzle die Stirn. Das verstehe ich nicht.

«Ich habe meine Wohnung gekündigt», fährt er fort und ich sehe, wie er sich das Schmunzeln über mein ahnungsloses Gesicht nicht verkneifen kann. «Er hat mir angeboten, mein Zeug bei ihm im Schuppen zu lagern. Dann penn ich 'ne Weile hier und dann geht's los.»

«Was geht los?», hake ich nach. Ich habe es noch nie gemocht, wenn Menschen, um den heißen Brei herumgeredet haben. Entweder man spricht Klartext oder man schweigt.

Joris wackelt aufgeregt hin und her. «Ich habe mir ein Wohnmobil gekauft.»

Ich ziehe die Augenbrauen so stark zusammen, dass sie sich beinahe berühren. «Das ist doch noch kein Grund, seine Wohnung zu kündigen.»

Joris rollt mit den Augen. «Mensch, Svenni! Verstehst du nicht? Ich werde im Wohnmobil wohnen. Durch Europa reisen und dann mal schauen.» Anscheinend ist meine Reaktion anders als erwartet, denn seine Mundwinkel fallen schlagartig nach unten und er reißt die Augen weit auf. «Ich habe es wahr gemacht, Svenni!» Er packt mich links und rechts bei den Schultern. «Unser Traum.»

Ich blinzle. Unser Traum. Stimmt, damals als wir fast noch Kinder waren, haben wir davon geträumt, eines Tages in einem Wohnmobil zu leben und die Welt zu sehen. Eine kindische Spinnerei.

«Es ist auch immer noch ein Platz frei», bietet er ganz unverblümt an. «Wenn du magst, dann pack deine Sachen und komm an Bord, du Leichtmatrose.»

Ich winke ab. Wie stellt er sich das vor? Das ist unmöglich! Ich kann doch schlecht alles stehen und liegen lassen, um mit ihm, einen Mann, den ich seit der zehnten Klasse nicht mehr gesehen habe, in einem Wohnmobil durch Europa zu touren. «Du bist verrückt!»

Er lächelt wissend. «Sind wir das nicht alle?»

«Nein», sage ich, «ich nicht. Ich bin nicht verrückt. Ich kann nicht einfach alles zurücklassen. Das geht nicht.» Und dann sehe ich ihn an. Immer noch grinst er. Und er grinst, als hätte er in seinem Leben nie etwas anderes gemacht. Als gebe es in seinem Leben keinen Schmerz, nur Spaß und Heiterkeit. Wie stellt er sich das vor? Wie nur?

«Du hast dich wirklich verändert, Svenja Bente», sagt Joris und fährt sich mit den Fingern durchs Haar. Ich erinnere mich daran, dass er das immer so getan hat, wenn er nicht mehr wusste, was er sagen sollte. «Wo is dat seute Deern hin? Das Mädchen, das wild und frei war? Immer offen für ein Abenteuer?»

Bin ich das denn nicht mehr? Wie kann er innerhalb von so wenigen Minuten so ein Urteil fällen? Ich bin doch immer noch dieselbe. Immer noch derselbe Wirbelwind. Nur älter. Erwachsener. Und das sollte er eigentlich auch sein. Wir sind beide achtundzwanzig. Haben bestimmt beide viel erlebt, seit dem letzten Mal, das wir uns gesehen haben. Wie kann er so vorschnell urteilen?

Ich stoße ihm in die Seite. «Dat Deern ist immer noch da.»

«Dann hältst du es gut versteckt.»

«Musst du nicht los?», frage ich. «Dein Kumpel wartet bestimmt schon auf dich.»

Joris schüttelt mit dem Kopf. «Der wartet auch noch länger. Den Zufall muss ich nutzen.»

«Welchen Zufall?», will ich wissen und bin langsam etwas gefrustet.

«Na, der Zufall, dich hier getroffen zu haben, Svenni.» Er reckt das Kinn vor. Tiefe Grübchen bilden sich kurz oberhalb seiner Mundwinkel. Ich habe sein Lächeln schon immer gemocht. Es ist ehrlich, niemals falsch. Und dennoch nervt es mich gerade. «Wir haben uns so lange nicht gesehen. Ich hätte nie gedacht, dich hier zu treffen.»

«Weil diese Wohngegend spießig ist?»

Er nickt. «Ja, das passt nicht zu dir.»

«Vielleicht habe ich mich ja wirklich verändert», seufze ich und lasse erneut einen Blick über meinen Garten schweifen. «Ich finde, diese Wohngegend passt sehr gut zu mir.»

«Eine Wohnung mit Garten», meint er und reibt sich das Kinn. «In einem Vorort zu einer lauten und lärmenden Stadt. Die Häuser sind grau und das Wetter im Winter ... davon will ich gar nicht erst anfangen. Das ist nicht die Svenja Bente, die ich von früher kenne.»

«Bist du nur hier, um mich zu beleidigen?» Die feine Ader an meiner Schläfe hat bereits vor einer Minute zu pochen begonnen. Noch ein falsches Wort und ich werfe ihn eigenhändig aus den Garten. Träume ändern sich. Menschen ändern sich. Vielleicht habe ich mich verändert. Doch ich fühle mich wohl.

«Die Svenja, die ich von früher kenne, war auch niemals so schnell beleidigt.» Er wackelt mit den Brauen, woraufhin ich mit den Augen rolle.

Ist er schon damals so furchtbar nervig gewesen? So genau erinnere ich mich nicht mehr. Die Zeit von früher kommt mir vor, wie ein weit entfernter Traum. Surreal. Ungreifbar.

Eine leichte Brise streift durch mein Haar. Das erste Anzeichen, dass die Hitze bald vorüber geht. «Ganz schön heiß oder?», fragt Joris und wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn.

Ich nicke. «Ja.»

«Kein Vergleich zur Küste», meint er und ich bin mir sicher, dass er damit noch mehr auszudrücken versucht. Doch mir ist nicht bewusst, was.

«Joris, was genau willst du?»

«Was meinst du?» Er verschränkt die Arme vor der Brust. «Es war Zufall.»

«Nein, ich meine, was bezweckst du mit diesem Gespräch?»

«Smalltalk?»

Ich schüttle den Kopf. «Smalltalk? Dann bin ich definitiv die falsche Ansprechpartnerin dafür.» Ich hasse Smalltalk. Ich hasse Smalltalk so sehr, dass ich in den zwei Jahren, die ich nun schon hier wohne, nicht einmal einen guten Draht zu den Nachbarn habe. Für Richard ist das immer einfach gewesen. Er konnte ohne mit der Wimper zu zucken auf andere zugehen und mit ihnen über Gott und die Welt reden. Ich hingegen fühle mich unwohl. Ich bin gerne für mich. Es gibt nur wenige Menschen, die ich wirklich gerne um mich herum habe. Und Joris entwickelt sich gerade zu jemanden, den ich schnellsten wieder loswerden will. Schade, früher waren wir echt gut befreundet. Also, wenn man das so nennen will. Denn auch damals, auch an der Küste, habe ich nie viele Freunde gehabt. Vielleicht sollte man besser sagen, dass wir wirklich gute Bekannte waren.

«Mensch, Svenni, jetzt mach es mir doch nicht so schwer. Ich freu mich einfach, dich zu sehen, und will mich mit dir unterhalten. Ich habe nie verstanden, warum du dich nie wieder gemeldet hast.»

Ich blinzle. Stimmt. Ich habe mich nach dem Umzug nie wieder gemeldet. Weder bei ihm, noch bei einem der anderen. Ich könnte jetzt sagen, dass damals einfach so wahnsinnig viel zu tun gewesen ist. Die neue Schule. Neue Freunde. Ein neues Zuhause. Doch das wäre gelogen! In der Schule habe ich mich schnell eingelebt gehabt. Das hat vor allem an Hanna gelegen, die sich gleich an meinem ersten Schultag wie eine Klette an mich geklammert und nicht mehr losgelassen hat. Sie hat mir ihre Freunde vorgestellt und mich in ihre Gruppe integriert. Doch von den Leuten aus der Schule ist auch sie mir nur geblieben.

Eigentlich habe ich immer davon geträumt, eines Tages wieder zurück an die Küste zu ziehen. Irgendwann das Grau hinter mir zu lassen und wieder am Meer zu stehen. Doch dann habe ich Richard kennengelernt und meine Pläne haben sich geändert.

Wir sind zusammengezogen. Erst in eine kleine Wohnung mit zwei Zimmern auf fünfundvierzig Quadrat und später haben wir uns diese Wohnung hier gekauft. Dann haben wir Amy aus dem Tierheim adoptiert und über Kinder gesprochen. Richard ist sein Job bei der Versicherung sehr wichtig gewesen. Er hat so gut verdient, dass ich nicht arbeiten gehen musste. Seit seinem Tod lebe ich von Ersparnissen. Das muss sich jedoch auch bald ändern. Mal schauen, wie es weitergeht ...

«Ich habe all die Jahre meine Handynummer nicht geändert», gesteht Joris nun.

«Wieso?»

«Weil ich gehofft habe, dass sich meine beste Freundin noch einmal bei mir melden wird.»

Unwohl zucke ich mit den Schultern. Plötzlich fühle ich mich ganz klein. Ich reibe meine Finger an den Handflächen. «Deine beste Freundin?»

«Bist du immer gewesen», sagt er dann und lächelt wieder. «Du warst die Einzige, mit der ich wirklich reden wollte. Die Einzige, mit der ich reden konnte. Du hast zugehört, hast keine blöden Ratschläge gegeben.»

«Als hättest du mein offenes Ohr jemals wirklich gebraucht», scherze ich. «Du bist immer gut gelaunt.»

«Du solltest mich besser kennen, Svenni.» Er streckt eine Hand nach mir aus und streift mir eine Haarsträhne hinters Ohr. Er seufzt. «Ich werde dich nicht weiter aufhalten. Tut mir leid, falls ich dir Unbehagen bereitet haben sollte.» Joris dreht sich um und geht. Er schließt das Tor hinter sich und ist beinahe außer Sichtweite.

«Ist deine Nummer immer noch dieselbe?», frage ich plötzlich und bin selbst von mir überrascht.

Joris stoppt, dann nickt er.

«Kann ich dich heute Abend anrufen? Also nachher?»

«Jederzeit!»

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