Hypersensibel
Hellu!
An dieser Stelle eine Leseanweisung:
Lest den Text mit Pausen. Lest den Text in eurem Kopf mit Sprechpausen, in und nach den Sätzen, wie wenn ihr vorlesen würdet. Nehmt euch die Zeit die ihr braucht, lest nicht alles in a rush durch, sondern lasst die Bilder in eurem Kopf klar werden, sich ausdetallieren. Und vor allem: Hört zu! Werdet euch der tatsächlichen Geräusche bewusst! Wie hört sich was eigentlich an, welche Geräusche kommen noch dazu?
Have fun!
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Wir sind in einem Haus in der Toskana, in den Bergen, Voralpenland. Wir sind in einem richtig abgelegenem Ort. Zwei Bergspitzen sind verbunden durch eine Senke des 'Bergfirsts'. Ihr müsst euch das als 'Dreiseitenhof', bestehend aus Bergen, vorstellen. In dieser Senke ist das kleine Dorf. Die Hälfte der Häuser steht leer, die Leute sprechen nur Italienisch und Französisch. Die alte Nachbarin lässt ihre Haustüre immer offen, in dem Raum in den man dann hineinblickt sitzt sie, mit dem Rücken zur Tür, essend, einen Meter von einem Fernseher auf Kopfhöhe entfernt, auf dem 70er/80er-Jahre Live-Konzerte auf Dauerschleife laufen. Wenn sie gerade mal an ihrer Küchenzeile steht, winkt sie und lächelt wenn man vorbeiläuft. Um sieben Uhr früh werden die Glocken der Kirche, dem größten Gebäude im Dorf, von Hand geläutet. Um acht wird, genauso laut, eine Melodie geläutet. Ich glaube, außerhalb der Häuser gibt es in diesem Dorf keine einzige gerade Fläche, alles ist auf Abhang.
Wir haben auf der Terrasse geschlafen, man hört die Vögel bis von der gegenüberliegenden Seite des Berges zwitschern, weil es so still ist. Es sind erstaunlich wenig Vögel, wenn man bedenkt dass, das Dorf von Wald umrundet ist. Im Dorf gibt es dafür genauso viele Mauernsegler. Fast wie zuhause.
Dort zu liegen, auf dem Rücken, mit geschlossenen Augen, halb unter einem Dach aus Weinreben, sonst freier Himmel, sternenklar, versteht sich, die dünne Matratze liegt auf einem Steinboden, der gefühlt schon seit Jahrhunderten so existiert, diese Vögel auf der anderen Seite des Berges, Luftlinie bestimmt 300/400 Meter.
Die Vögel von einer so weiten Entfernung zu hören war fast ein wenig psychedelisch.
Ich hatte das Gefühl mein Gehör hatte sich erweitert. Als würde ich jede Bewegung, eines jeden Tieres am Berg hören. Jeden Windhauch an jedem Zweig. Ich hatte das Gefühl als würde ich jede Bewegung auf der vorhin überblickten, bergig-vulkanischen, bewaldeten Ebene hören. Und schließlich war es als breitete sich dieses Gehör auf die gesamte Welt aus. Ich hörte überall.
Ich hörte wie eine Ameise aus ein paar Metern Höhe von einem Affenbrotbaum in einen Wassertropfen klatschte. Ich hörte wie in einem sehr leisen, und sehr gedämmten Raum, in der größten Bibliothek der Welt vorsichtig eine Buchseite umgeblättert wurde. Ich hörte wie in einem sehr stickigen, recht synthetischen Raum, ein Rudergerät qietschte und sich Schweiß von der Stirn gewischt wurde. Ich hörte wie ein Eichelhäher in Westkasachstan einen Habicht nachahmte, den er über einem Feld, angrenzend an seinen Wald, hatte kreisen sehen. Ich hörte wie eine Zurückgekehrte in Santiago de Chile einen Einheimischen in klangvollem Spanisch nach dem Weg fragte, und wie er in seinen Sandalen aus seinem Haus heraus und auf die Straße trat, um ihr den Weg zu weisen. Ich hörte wie in einem sehr reichen Land, in einem sehr leeren Museum, eine Person in einem sehr großen Raum, gefüllt mit sehr alten Dingen, an einer dieser wertvollen Artefakte arbeitete um diese zu schützen, zu erhalten sodass sie eines Tages möglichst unbeschädigt wieder dem Volk zurückgegeben würde, dem sie eigentlich gehörte. Ich hörte wie auf der anderen Seite der Welt, jemand aus einer sehr heißen Küche auf Gummicrocs heraustrat und sich eine Kippe anzündet, während er den aufgeregten Stimmen von drinnen, dem Zischen des Fettes, dem rythmischen Klappern des Messer auf dem Brett und dem leisen Rascheln von Verpackung, verursacht durch Hände, welche Reispapier und Bratgemüse zu Gyoza falteten, lauschte. Ich hörte wie jemand in einer Wüste, auf einer sehr hohen Draa-Düne, den Namen eines anderen in den starken Wind hineinschrie und wie ihm alle folgenden Worte von den Lippen gerissen wurden. Ich hörte wie jemand, nahe des Gardasees aus der Mittagsplage hervorschreckte, weil sie dachte sie hätte jemanden schreien gehört. Ich hörte wie jemand in einer sehr alten, sehr klapprigen, sehr zugigen und vor allem sehr vollen, Metro auf einem gerade so ergatterten Sitzplatz, anfing aus Panik mit den Knien zu zittern, daraufhin die Fäuste auf den Oberschenkel fest zusammenballte, sodass die Knöchel weiß hervortraten, sich dann mit einem langem Atemzug nach hinten lehnte, in dem Versuch sich zu beruhigen, und die Augen schloss.
Es war als würde ich jeder Zelle innewohnen, nur um die passierenden Geräusche in mich aufzunehmen. Und gleichzeitig als sei ich eine Dokumentarfilmerin, die, einfach allem, durch den früheren Einsatz eines sehr feinen Mikrophons, nur aus dem Schnitt beiwohnte.
Ich fantasierte das im Halbschlaf. Aber fantasieren klingt so negativ.
Ich habe danach nicht gut geschlafen.
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