Kapitel 60 - Stärke und Schauspiel
„Still!", knurrte Anne in einem Ton, den ich noch nie bei ihr gehört hatte. Ich gestattete mir nicht, mich darüber zu wundern, wie durchsetzungsfähig sie sein konnte, denn es hätte mich auf innerlich mehr als nur ein bisschen angeturnt. Doch jetzt war nicht der Augenblick dafür. Streng presste sie die Hand auf den Mund ihrer Schwester und tatsächlich verstummte Julie augenblicklich. Trotz der Tonlage, die keine Widerworte zuließ waren Annes Augen ebenfalls schreckgeweitet und ich mein ein nervöses Schlucken zu sehen. Anne sah mich an, und kurz war ich hingerissen zu ihr zu gehen, um sie an mich zu ziehen und ihr zu versichern das alles gut werden würde. „Ihr bleibt hier! Ich gehe zur Tür und sehe nach.", sagte Stefan mit mehr Mut als er vermutlich verspürte. Sein besorgter Blick sprach mehr als seine Stimme. Er war schon als Kind ängstlich gewesen, erst redete er gut und viel und wenn das nicht half begann er zögerlich zu werden. Auch, wenn ich wusste, dass er sich Henry dennoch entgegenstellen würde, wenn es sein musste. Ich schüttelte über seine Worte den Kopf. „Ich gehe, du passt auf die Mädchen auf.", meinte ich im ruhigen Ton. Stefan zog die Augenbrauen hoch, auch wenn ich meinte Erleichterung in seinen Augen zu sehen. „Aber du-„ „Nichts aber, mir geht es gut genug, dass ich die beschützen kann, die mir etwas bedeuten. Also halt den Mund und versuch nicht den Helden zu spielen." Ich wusste, dass er mich trotz seiner Erleichterung über mein Einschreiten auf meinen Rollstuhl ansprechen wollte. Dass ich mich nicht gut genug darin bewegen konnte, nicht schnell genug war. Er wollte sagen, dass ich zu schwach war, um mich einem potentiell gewalttätigen Alkoholiker entgegenzustellen, der allem Anschein nach nicht allzu lange über seine Handlungen nachdachte. Auch, wenn er es auf seine übliche Art natürlich in schönere Worte kleiden würde. Ich warf Anne einen Blick zu, den sie mit einem leichten Lächeln erwiderte. Es löste in mir einen Damm, hinter dem sich ungeahnte Stärke verbarg. Stärke, die ich seit dem Unfall als verloren geglaubt hatte. Nein... ich würde nicht zu schwach sein.
Entschlossen fuhr ich zum EinbauSchrank auf meiner rechten und zog die oberste Schublade des mahagonifarbenen Möbelstücks auf. Unter einigen wenigen Dokumenten öffnete ich den doppelten Boden mit kurzem Zug und zog eine silbern glänzende AMT hervor. Sie gehörte eigentlich meinem Vater, aber während des Trainings in der Army hatte ich gelernt damit umzugehen. Sie war schwerer als in meiner Erinnerung, kalt und irgendwie fremd. Aber ich wusste, wenn ich sie benutzte würde mir das Gefühl wieder vertraut sein. Ich schob sie in meinen Hosenbund und ließ mein Shirt darüber fallen, dass man sie nicht mehr von außen sehen konnte. Als ich zur Tür wandte konnte ich Annes entsetzten Blick erhaschen. Sie wirkte bleich. „Keine Sorge, ich habe eigentlich nicht vor Henry zu verletzen. Ich will nur sichergehen das er es auch nicht tut.", sagte ich zu Anne, die mit einem halbherzigen Nicken zur Kenntnis nahm. Julie wirkte nicht erschrocken, sie sah die Waffe mit kühler Sicherheit an, als akzeptierte sie, was damit getan werden musste. Damit erinnerte sie mich fast ein wenig an Winter, einem meiner Kameraden mit dem ich mir für kurze Zeit ein Zelt und das Essen geteilt hatte. Ich musste schmunzeln, ob dieses Blitzes der Erinnerung und ich fragte mich, ob ich mit Löwe, auch ihn wiedersehen würde.
Aber so schnell der Gedanke kam, so schnell verschwand er auch wieder, als es erneut klingelte und ich tief durchatmend endlich zur Tür rollte. In dem Augenblick ging mir nichts durch den Kopf, ich rutschte in meinen durchaus vertrauten Überlebensmodus in dem ich keine Angst fühlte, keine Aufregung und oft auch kein Mitgefühl. Ich hatte nicht vor Henry zu töten, ich wollte nur Anne und Julie beschützen und das sollte er nicht unterschätzen. Selbst nach der scheinbar kurzen Zeit, die wir uns erst kannten.
Ich kam bei der Tür an und atmete durch. Feuer durchströmte meine Adern, gutes Feuer, das mir unglaublichen Antrieb gab. Bereit, mich Henry von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stellen. Ich drückte voll Motivation die Klinke runter, doch als ich die Tür öffnete, blickte mir nur drei nicht gerade erfreute Gesichter entgegen. Ich erkannte sie als meine Eltern und meine Tante, die vollgepackt waren mit Tüten und Paketen. Von einem Moment zum anderen war mir die Luft aus den Segeln genommen und mein bis ins äußerste angespannte Körper blieb verwirrt, als ich die angehaltene Luft zischend zwischen meinen Zähnen entweichen ließ.
„Ihr seid früh.", schaffte ich halbwegs normal zu sagen, ehe meine Mutter die Augen verdrehte. Sie schien nichts von meiner Anspannung zu bemerken. „Wenn einer von euch beiden vielleicht mal ans Telefon gehen würde, hättet ihr gewusst, dass wir schon früher losfahren, wegen dem Schneesturm, der für später angekündigt wird. Wahrscheinlich habt ihr das Gästebett für eure Tante auch noch nicht aufgestellt. Es ist mal wieder typisch. Die Herren waren wohl zu beschäftigt um sich darum zu kümmern.", schimpfte meine Mutter und ging an mir vorbei ins Haus. Mein Vater kam ihr treu ergeben hinterher. Er trug besonders viele Koffer, die Ladung, die eigentlich meine Mutter getragen hätte. Offensichtlich hatte es Streit zwischen ihnen gegeben. Die Stimmung zwischen den beiden und bei jedem für sich war im Keller. „Wann hab ihr denn angerufen?", fragte ich vorsichtig und fuhr mir schuldbewusst durchs Haar. Mein Blick huschte zu dem schweigenden Telefon rüber. Auf dem Anrufbeantworter blinkte es, sie hatten also wirklich angerufen. „Vor knapp drei Stunden.", antwortete mein Vater verstimmt und runzelte missbilligend die Stirn, ehe auch er sich an mir vorbei drückte. Meine Tante, Irma, kam milde lächelnd herein, sodass ich die Tür hinter ihr schließen konnte. Als sie, froh wieder im Warmen zu sein seufzte und ihren Schal abnahm beugte sie sich zu mir runter. Bei der Umarmung konnte ich ihr typisches Lavendelparfum riechen. „Ach Schatz, ich habe dich ewig nicht gesehen. Du bist...", sie blickte an mir hoch und runter. „...ein ganz anderer Mensch geworden. Ich habe noch immer das Bild von dem kleinen Derren in Erinnerung, der mit Windeln durch das Haus läuft. Was-" „Bitte, lass uns das Gespräch verschieben. Ich muss erstmal mit meinen Eltern reden.", unterbrach ich sie, als ich sah wie meine Eltern bereits die Koffer abgelegt und die Klamotten ausgezogen hatten. Gleich würden sie in die Küche gehen, um sich einen Tee zu machen. Und dann würden sie Julie und Anne entdecken... und Fragen haben. Ich beeilte mich vor ihnen an der Tür zu sein, doch gerade als ich sie erreichte war es auch schon geschehen. Sie öffneten die und... Stefan stand mit einem breiten Lächeln vor ihnen, die Tür zum Wohnzimmer verschlossen. „Ma, Dad, wie schön euch zu sehen. Ich hoffe ihr hattet eine gute Fahrt bei dem Schnee da draußen.", sagte er herzlich und fiel seiner Mutter etwas zu schwungvoll in die Arme. „Ich war so frei schon mal Tee zu machen. Nach der Fahrt seid ihr sicher durchgefroren und braucht erstmal eine kleine Aufwärmung. Und verzeih Derren seine Verwirrung, ich habe ihn ausschlafen lassen und kam noch nicht dazu ihm zu sagen, dass ihr früher kommt. Der Fehler liegt also bei mir. Soll ich schon mal die Koffer hochbringen?", fragte er schon auf dem Sprung. Unsere Mutter sah ihn einen Moment überrumpelt an. Mit so einer Begrüßung hatte sie dann wohl auch nicht gerechnet. Vor allem aber kannte sie ihren Sohn, und erkannte seine schlecht aufgesetzte Maske sofort. „Ist irgendwas passiert?", fragte sie misstrauisch und sah auch zu mir zurück woraufhin auch ich ein wenig gelungenes Lächeln auf meine Lippen zwang. Stefan lächelte noch herzlicher, wie eine Sonne strahlte seine scheinbare gute Laune bis zu mir. „Nein, es ist alles in Ordnung.", antwortete er so fröhlich wie ich es selbst vor dem Unfall nicht gekonnt hätte. Ma hob ungläubig eine Augenbraue, doch sie entschied nach kurzem Schweigen die Worte zu hinzunehmen. Ob aus Erschöpfung von der Fahrt, nach der sie nicht noch mehr Stress wollte oder weil sie den Grund respektierte, aus dem Stefan sich verstellte. Sie ging mit Dad an ihm vorbei und holte sich besagten, vorbereiteten Tee. Stefan begrüßte in dem gleichen Überschwang unsere Tante, die diese Stimmung wie ein Spiegel zu reflektieren schien, doch ich hörte sie nur noch am Rande.
Zögerlich wie ein kleines Kind das etwas ausgefressen hatte rollte ich meinen Eltern hinterher is in die Küche und atmete einmal tief durch. „Anne und ihre Schwester werden über Weihnachten bei uns bleiben.", sagte ich nach einem Räuspern und presste die Lippen aufeinander. Meine Mutter sah mich einen Moment irritiert an. Ich konnte ihr ansehen das sie nicht erfreut war. Immerhin überfiel ich sie damit, aber es würde leichter sein ihnen es jetzt sofort zu erzählen, als zu warten. Ihr Blick lag einige Momente auf mir, ehe ich mich erneut räusperte. "Also, Anne, du weißt schon. Das Mädchen das Stefan vor nicht allzu langer Zeit eingeladen hat. Die Krankschwester, die sich unter anderem um mich gekümmert hat.", zählte ich vorsichtig auf und erntete ein ungeuldiges Nicken. "Ich weiß, wer sie ist. Wie könnte ich das vergessen. Das Mädchen das meine Söhne anscheinend den Kopf verdreht und gegeneiander aufhetzt." Ich war erschrocken, dass sie so dachte. Natürlich war sie sowieso gerade in schlechter Laune, aber das hatte ich nicht kommen sehen. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. „Jetzt schau mich nicht an, als wäre das ein Geheimnis gewesen. Das letzte Mal als sie hier war hat sie nur Chaos verbreitet. Warum feiern sie nicht mit ihrer Familie?", fragte meine Mutter genervt und nippte von dem Tee von dem kleine weiße Wolken aufstiegen. Mir dämmerte, dass sie nicht viel von Anne hielt. Nicht gut. Auch, wenn es an der Situation nichts ändern würde, da ich den Teufel tun würde Anne und Julie wieder wegzuschicken. Es würde Anne das Ankommen in meiner Familie nicht erleichtern.
Ich entschied mich spontan von dem bisherigen Plan abzuweichen. „Weil ich sie eingeladen habe.", antwortete ich nun ebenfalls in einem raueren Ton. "Ihre Eltern sind über Weihnachten verreist und da habe ich angeboten, dass sie mit uns feiern können, anstatt allein unter dem Weihnachtsbaum zu sitzen." Ich sah Mutter fest an, stellte sie vor Tatsachen und würde keinen Einspruch gewähren. Sie sah mich unerfreut an, den Mund verzogen, die Lippen argwöhnisch gekräuselt. Vater platzte in diese stumme Auseinandersetzung. "Warum nicht. Vielleicht wird es ganz schön.", brummte er, nachdem er den Tee probiert hatte. Mutter war ihm einen giftigen Blick von der Seite zu, sagte aber nichts. Sie schnaubte, setzte den Tee an die Lippen und beendete die Unterhaltung damit. "Schönes Weihnachtsfest wird das... ganz bestimmt...", murmelte sie leise in gälisch vor sich hin. Ich schaubte meinerseits und warf meinem Vater einen kurzen dankbaren Blick zu, den er nicht ganz zu verstehen schien. Auch Stefan schien nichts von der angespannten Atmosphäre zu bemerken, als er, einen Arm um Irmas Schultern geschlugen reinkam. Er lachte fröhlich auf, als unsere Tante gerade mit einer kurzen Geschichte endete, die sich schon hundert mal erzählt hatte. Ich beobachtete seine Darbietung eines glücklichen Jungen. Er war gut, er war perfekt. So perfekt das er wenigstens ein bisschen der Freude wirklich fühlen musste. Und vielleicht hatte das eine auch einen Effekt auf das andere. Seine Maske auf seine echte Stimmung und andersherum. Für Weihnachten, entschloss ich mich, als Stefan strahlend zu mir sah, sollte ich das vielleicht auch mal probieren. Und dann erwiderte ich sein Lächeln so gut ich konnte.
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