Kapitel 56 - Zu zweit müde

Der Tag ging ohne weitere Ereignisse um nachdem wir nachhause gefahren waren und das Krankenhaus endlich verlassen konnten. Ich fühlte Erleichterung, doch ich konnte sie mit niemandem teilen. Das erste Mal seit Wochen fühlte ich mich wieder vom Glück der anderen ausgeschlossen. Das aktive Gespräch von Anne und Julie, Stefan der dann und wann mit einem Lächeln in den Rückspiegel sah und seinen Kommentar einwarf. Alles war so normal... nur ich nicht. Ich konnte einfach nicht mitreden, nicht mitlachen. Die wenigen Male die ich gezwungen die Mundwinkel hob um an dem Gespräch doch noch Teil zu nehmen waren schwer und zogen mich runter wie Blei. Wir beschlossen, dass wir unserer Familie am nächsten Tag eine Halbwahrheit auftischen würden, die Stefan präsentieren wollte. Er war von uns der beste Lügner, wenn das auch häufig nicht zu seiner Vertrauenswürdigkeit beitrug, so war es jetzt einer der besten Wege auf die wir uns einigen konnten. Sie würden die Tür rückwärts wieder verlassen, wenn wir versuchen würden ihnen die Wahrheit zu erklären, immerhin war das alles nicht so leicht zu verstehen. Und spätestens ab vorgetäuschter Verlobung würden sie vollkommen ausflippen. Also doch besser die nette kleine Geschichte, dass Anne und Julie zuhause rausgeflogen waren und nun über Weihnachten bei uns bleiben wollten. Nicht elegant, aber leichter zu erklären.

Ich träumte in dieser Nacht mal wieder besonders schlecht, weshalb ich schon früh wach war und Kaffee kochte. Es war zermürbend und irgendwie deprimierend, dass die Albträume immer noch anhielten. Ich soll mir Zeit geben, hatte mein Vater gesagt. Ich soll geduldig mit mir sein. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, die Albträume würden nie verschwinden, meine Seele war vernarbt und tat am Tag kaum mehr weh. In der Nacht aber, wenn ich schlafen wollte riss die Narbe, egal wie gut verheilt wieder auf und präsentiert mir all den Schrecken, den ich glaubte überwunden zu haben. Ich hatte die Albträume satt! Die Qualen, die ich dabei durchlitt, der Ausgang, den ich schon kannte aber trotzdem nicht verhindern konnte. Ich hatte es so satt ständig müde zu sein, weil ich diese Alpträume hatte sobald ich die Augen schloss. Es war wie Folter. Meine ganz persönliche Folter, die niemand außer mir mitbekam.

Deshalb saß ich jetzt kurz vor Sonnenaufgang am Küchentisch und war so müde, dass mein Kopf drohte auf die Tischplatte zu fallen. Der Kaffee gluckerte hinter mir in einem beruhigenden Ton, doch ich war innerlich aufgewühlt. So aufgewühlt, dass ich schließlich aufstand und zu einem schmalen, schwarzen, und wahrscheinlich schon historisch wertvollen Schrank ging, in dem mein Vater immer seine Brände und Schnäpse aufbewahrte. Ich hatte ihn schon oft dabei gesehen wie er sich und seinen Freunden einen guten Schluck Whisky einschenkte, wenn sie zu Besuch waren und bei bester Laune. Nun zog ich ebenfalls die sündhaft teuere Flasche hervor und sah mir das Etikett an. 18 Jahre alt, aller feinste Qualität. Sie war kaum zu einem Drittel geleert und ich hätte schwören können, die Flasche stand hier seitdem gut zwei Jahren. Schulterzuckend holte ich mir ein Glas, ging ich mit der Flasche und dem Glas zurück an den Tisch und befüllte es daumenbreit. Der aromatische Geruch zog mir in die Nase, leicht rauchig, mit einer süßen, fast honigartigen Note. Ich nahm den ersten Schluck von dem gold-gelben, fast bronzefarbenen Alkohol und merkte sofort wie er in meinem Mund, meinem Hals und meinem Bauch brannte. Irgendwie unangenehm, aber gleichzeitig auch tröstlich. Ich sah raus aus den Fenstern und beobachtete wie sich das Schwarz der Nacht allmählich aufhellte und zu einem satten Orange wurde, der den Himmel einfärbte und den Schnee in ein kupfernes Glitzern tauchte, während ich Schluck für Schluck von dem Whisky trank. Früher hätte ich niemals die Schönheit des Morgens bemerkt - vielleicht auch, weil ich nie so früh aufgestanden war um ihm zu begegnen - doch jetzt erschien sie mir so deutlich, dass ich über ihr den Kaffee vergaß. Mir war jetzt nicht mehr danach. Die Schatten der Bäume zeichneten im Schnee eine Landschaft von Licht und Dunkel, wie eine verzauberte Welt. Und mein Blick war darin gefangen, mein Körper bewegungslos. Es war irgendwie erholend, fast wie Schlaf ohne zu schlafen. Ich starrte in vollkommener Paralyse hinaus und hätte ewig so weiter machen können. Einfach hier sitzen und beobachten, wie eine geisterhafte Existenz ohne Körper.

Doch dann wurde ich durch das Öffnen der Tür aus meinen Gedanken gerissen. Anne kam gähnend und äußerst verschlafen aussehend in die Küche. Sie hatte die Augen nur halb offen, und kurz hatte ich Sorge sie würde schlafwandeln. Anne sah sich scheinbar verwirrt um, entdeckte mich und kam dann zu mir an den runden Küchentisch geschlurft. Also eines stand fest; Wirklich wach war sie noch nicht. Wie ein nasser Sack ließ sie sich auf den Stuhl neben mir fallen und seufzte. „Du siehst müde aus.", bemerkte ich mit gedämpfter Stimme. Sie nickte und wirkte dabei als würde sie noch ein bisschen müder werden. „Ich hab davon geträumt, dass Henry uns findet.", flüsterte sie, schniefte und rieb sich die von einer Gänsehaut überzogenen, nackten Arme. Ihr Blick glitt über die Whisky Flasche, die sie mit halben Interesse musterte. Ich brummte besorgt und zog meine eigene Strickjacke aus, die ich mir übergezogen hatte und reichte sie ihr. „Er hat uns mitgenommen, wieder nach Hause. Und unser Zuhause war die Hölle." Ich rätzelte, ob sie das mit der Hölle metaphorisch oder wortwörtlich meinte, doch ich brachte es nicht fertig nachzufragen. Sie musste mir das alles nicht erzählen, ich fühlte mich geehrt, dass sie es trotzdem tat.

Anne schluckte verstört, nahm die Jacke hin und zog sie sich kommentarlos über. Dieser Henry musste ihr bereits schlimme Dinge angetan haben, wenn sie solche Angst vor ihm hatte. Ich konnte meine Wut darüber kaum zügeln. Wenn er klug war würde er sich niemals in meiner Nähe blicken lassen, denn ich hatte nicht schlecht Lust sein Inneres nach außen zu stülpen. Doch ob er so klug war bezweifelte ich. „Warum bist du schon wach?", fragte Anne dann, um wahrscheinlich das Thema zu wechseln. Ich zwang mir ein müdes Lächeln auf die Lippen. „Aus dem gleichen Grund wie immer.", antwortete ich und gähnte meinerseits. Anne nickte verstehend, obwohl ich bezweifelte, dass sie überhaupt schon wach genug dafür war. „Das ist schlimm.", lallte sie müde und lehnte sich an mich. Ich war überrascht von ihrer Selbstsicherheit im Bezug auf mich. Sie schien ihre Schüchternheit total vergessen zu haben. Wahrscheinlich durchdachte sie im wachen Zustand alles zu sehr und war dadurch viel befangener. Ich lehnte meinen Kopf an ihren. „Das ist es.", murmelte ich zustimmend. Mir fielen fast die Augen zu. Es war früh und es war noch Zeit bis die anderen wach sein würden. Es war dumm diese wertvolle Zeit zu verschwenden. „Wir sollten versuchen noch etwas zu schlafen.", murmelte ich träge und sah Anne an, ob sie mir zustimmte. Doch sie seufzte nur und strich ihr Haar aus dem Gesicht. „Ich glaube nicht, dass ich jetzt noch schlafen kann. Immer wenn ich die Augen schließe sehe ich Henrys Gesicht vor mir.", meinte sie unglücklich und richtete sich auf um sich zu strecken. Ich setzte mich träge in meinen Rollstuhl und fuhr zu Anne herum. „Geht mir ähnlich. Trotzdem wird uns etwas Schlaf guttun. Henry kann dir hier nichts anhaben", sagte ich und nahm Annes Hand. Kraftlos ließ sie sich von mir auf die Beine und aus der Küche ziehen. Sie war anscheinend wirklich noch nicht ganz wach, denn erst auf dem Flur sah sie sich irritiert um und murmelte unverständlich: „Geht es zum Bett nicht in die andere Richtung?" Sie deutete zurück in die Küche. Ich lächelte leicht und führte sie weiter in mein Zimmer, das noch immer in Dunkelheit getaucht war. Ich gähnte noch einmal kurz, fuhr zu meinem Bett und ließ Annes Hand los. Mit Schwung hievte ich mich in die zerwühlten Laken und klopfte dann einladend neben mich. „Komm her" Anne schien das nicht ganz zu realisieren, sah mich einen Moment einfach nur ohne jede Gefühlsregung an. Ich rechnete damit, dass spätestens jetzt der Punkt gekommen war, an dem sich kopfschüttelnd umdrehen würde und rausging. Doch zu meiner Überraschung zuckte sie mit den Schultern und legte sich tatsächlich zu mir. Schamlos zog sich meine Decke bis unters Kinn und rollte sich darin ein, bis mir nichts mehr davon übrig blieb. Ich kicherte leise und sah sie an, wie sie dalag wie eine Raupe. Anne hatte die Augen geschlossen und war wenige Momente später tatsächlich wieder eingeschlafen, was ich an ihren tiefen, leisen Atemzügen erkannte.

Ich nutzte die Gelegenheit und verlor mich in dem weichen Schwung ihrer rosafarbenen Lippen, den unordentlichen und in alle Richtungen abstehenden Locken und ihrer sahneweißen Haut. Sie war so schön, wie sie neben mir lag. Mit einer solchen Selbstverständlichkeit, als wäre das ihr Bett, in ihrem Zimmer und ihrem Haus. Es machte mich froh, sie einfach nur hier liegen zu sehen, entspannt und friedlich. Ohne Angst und Stress, als wäre das hier so normal wie es aussah. Ich legte den Arm um sie und zog sie sanft zu mir. Nur ein Stück, dass sie nicht wach wurde und nicht so nahe, dass sie spüren würde, wie sehr mein Körper auf ihre Gegenwart reagierte, aber nahe genug, dass ich ihren warmen Atem auf meiner Haut fühlen konnte. Und dann konnte ich wieder einschlafen in einen immerhin traumlosen Schlaf.

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