Kapitel 46 - Flucht

Offenbar öffnete Henry die Haustür. Seine Stimme war leise aus Annas Position aus zu vernehmen. Sie wischte sich die Tränen notdürftig mit dem Handrücken fort und lauschte, wer da vor der Tür stand, während sie versuchte sich etwas zu beruhigen.

Der Stimme nach war es ein Nachbar aus dem Erdgeschoss, der den Streit mitbekommen hatte und mal nach dem rechten schauen wollte. Es war ein mittel alter Mann, der ebenfalls keine blütenweiße Weste hatte und unter der Hand als Drogendealer im Viertel bekannt war. Aber wenn selbst er sich hoch bemühte, weil es sich um Anne und Julie sorgte, war es ernst. Nicht, dass Anne eine Sekunde an der Ernsthaftigkeit und dem Schrecken dieses Momentes gezweifelt hätte. Sie zitterte noch immer und wagte nicht, sich zu bewegen. Ihre heiße, von Tränen nasse Wange drückte sich an das Holz der Tür, während sie ihrem Hals kein Geräusch zutraute. Selbst ein kratziges Räuspern schien ihr zu laut und zu schmerzhaft.

„... nein, nein alles in Ordnung. Nur ein kleiner Streit in der Familie.", schien Henry gerade um Ruhe bemüht abzuwinken. Er war widerlich, wie er so schnell zu einem normalen, freundlichen Mann wechseln konnte. So, als wäre nie etwas passiert. „Ich habe aber die Mädchen schreien gehört.", hielt der Nachbar mit leiser Stimme dagegen. Anne wäre am liebsten raus gelaufen und hätte ihm zugerufen, dass er sie hier raus holen sollte. Ihr wäre im Moment alles lieber, als diese Wohnung. Ja sogar die schlampige, nach sämtlichen Substanzen riechende Wohnung dieses nicht besonders angenehmen Nachbarn. „Naja, sie waren eben sehr aufgeregt. Mädchen schreien schon mal, wenn sie wütend sind. Das wüssten Sie, wenn sie eigene Kinder hätten.", meinte Henry lapidar, noch immer so ruhig und freundlich, dass man ihm kein Verbrechen anhängen würde. Anne schüttelte vor stummen Entsetzen den Kopf und blinzelte neue Tränen weg. Bitte glaub ihm das nicht, flehte Anne innerlich. Bitte frag, ob du uns mal sehen kannst. Ob du sehen kannst, dass wir wohlauf sind. Bitte! Doch der Nachbar tat ihr diesen Gefallen nicht. „Wie auch immer, dass nächste Mal bitte etwas leiser, wenn's geht. Andere Leute hatten vielleicht eine lange Nacht und brauchen Ruhe am Tag.", gab sich der Nachbar schlicht zufrieden. „Nein", wisperte Anne kaum hörbar und schloss gequält die Augen. Neue Tränen liefen ihr über die Wangen. Geh nicht... „Dann wünsche ich Ihnen noch einen angenehmen Tag.", wünschte Henry mit einer viel zu freundlichen Stimme und die Haustür fiel wieder ins Schloss. Anne zuckte von der Zimmertür zurück und kroch einige Meter davon weg. Neue Angst kochte wieder in ihr hoch und sie lauschte darauf, Schritte auf der Treppe zu hören. Würde er jetzt wieder hochkommen und sich diesmal Anne vornehmen? Was war mit Julie? Anne konnte sie nicht mehr hören. Kein Atmen, kein Weinen, nicht mal ein schmerzvolles Wimmern. Nichts...

Als unerwartet die Tür aufgeschlossen wurde, zuckte sie zusammen und kroch zurück, bis sie mit dem Rücken hart an ihren Nachttisch stieß. Anne merkte es nicht einmal, so sehr raste ihr Herz, als sich die Tür einen Spalt breit öffnete. Sie hatte Henry nicht die Treppe raufkommen hören, und tatsächlich zeigte sich dann auch das tränenbedeckte Gesicht ihrer Mutter in der Tür. Sie legte einen Finger auf die Lippen und bedeutete Anne leise zu bleiben. Zitternd sah Anne zu ihr, sah zu wie sich weinte und fast so sehr zitterte, wie Anne selbst. Es vergingen einige Momente, dann verschwand ihre Mutter wortlos in Richtung des Schlafzimmers.

Anne schluckte angestrengt und versuchte sich irgendwie zu beruhigen. Henry hörte sie nicht mehr, doch sie wusste nicht, ob das gut oder schlecht war. Sie atmete bebend ein und aus, schloss kurz die Augen und zwang sich, klarer zu denken. Mit dem Ärmel ihres Pullis wischte sie sich die Tränen von den Wangen. Ein- und ausatmen... Stille! Anne öffnete die Augen und sog die Luft tief ein. Sie konnte nicht hier bleiben. Nicht eine Sekunde! Nicht, solange Henry da war. Allein seinen Namen zu denken schnürrte ihr die Luft ab vor Angst. Nein! Sie durfte nicht hier bleiben. Henry würde sie umbringen. Sie und Julie. Früher oder später. Und wenn sie jetzt nicht ging, dann würde es das nächste Mal vielleicht schon zu spät sein.

Sich aus reiner Willenskraft aufrappelnd ging Anne zu Julies und ihrem gemeinsamen Schrank, zog einen Koffer hervor und stopfte willkürlich einige Sachen hinein. Sie hatte jetzt nicht die Zeit auszuwählen, bei diesen Temperaturen war es gut nur irgendwas dabei zu haben. Vor allem hatte sie Angst, dass Henry irgendwas hören würde und im nächsten Augenblick wutendbrand in der Tür stand. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie den Stoff der Pullis und Hosen kaum halten konnte, als sie alles in den Koffer schmiss. Wenige Minuten darauf schloss sie den Koffer eilig und hob ihn dann lautlos hoch. Er war schwer, sie hatte definitiv zu viel eingepackt, aber sie ließ sich auf nicht die Zeit, jetzt umzuräumen.

Vorsichtig lugte sie durch den Türschlitz, ob sie irgendwas verdächtiges hören oder sehen konnte. Doch weder Julie noch Henry machten ein Geräusch oder zeigten sich. Mit bis zum Hals klopfendem Herzen drückte Anne sich so leise wie möglich durch die Tür, den Koffer voran in den Flur. Ihr war schlecht vor Aufregung, doch jetzt gab es kein zurück mehr. Es waren diese Minuten auf die alles hinausgelaufen war, der ganze Streit, Henrys Wutausbrüche. Alles zentrierte sich jetzt. Doch für Anne zählte lediglich Julie. Ohne sie würde Anne nicht weglaufen. Auch wenn sie bereits schlimmes ahnte.

Das schreckliche Gefühl verstärkte sich, als sie einige wenige Bluttropfen auf dem Boden sah. Sie waren frisch, das Blut glänzte robinrot im Tageslicht. Anne verbot sich, allzu viel darüber nachzudenken, da sie fürchtete, darüber würgen zu müssen und dann nicht mehr in der Lage zu sein weiterzumachen. Also riss sie sich eisern zusammen, hielt die Luft an und entdeckte einen weitere Tropfen an der Tür zur Abstellkammer, wo gewöhnlich nur Besen, Eimer und allerlei Hausputz Utensilien verstaut waren. Lautlos tappte Anne zu der Kammer und öffnete die unverschlossene Tür. Darin lag Julie mit dem Rücken zu ihr. Anne drehte es den Magen um, als sie zu Julie stolperte und sich zu ihr auf die Knie fallen ließ. Julie reagierte schwach mit einem Stöhnen, als Anne sie vorsichtig auf den Rücken drehte. Es beruhigte Anne, dass Julie überhaupt reagierte und damit anzeigte, dass sie nicht ohnmächtig oder schlimmeres war. "Wir müssen weg.", flüsterte Anne ihr zu, obwohl es ihr widerstrebte, überhaupt ein Geräusch von sich zu geben. Julie weinte und nickte leicht unter Tränen. Ihr Gesicht sah schlimm aus. Eine gebrochene Nase und der Rest war fast zur Unkenntlichkeit zugeschwollen. Anne wurde des Schwindelig bei Julies Verletzungen. Das war ein Alptraum. So schrecklich, wie Anne es nicht hätte erfinden können.

Ächzend setzte Julie sich mit Annes auf. Zitternd hielt sie sich schützend die Hand über ihre rechte Seite, direkt unterhalb der Brust. "Ich hab' Angst...", schluchzte Julie leise, ehe Anne sich den Finger auf die Lippen drückte und ihr bedeutete leise zu sein. Die Tränen rannen ihr hemmungslos über die Wangen, aber sie unterdrückte die Schluchzer tapfer. "Ich auch", flüsterte Anne zitternd und stand auf, um Julie auf die Beine zu ziehen. Es war schwer, obwohl Julie nicht so viel wog, fiel Anne bei dem Versuch beinahe selbst hin. Julie kniff die Augen vor Schmerz zusammen und öffnete den Mund wie zum Schrei, bleib aber stumm. Anne tat es natürlich leid, ihr wehtun zu müssen, aber jetzt gerade konnte sie keine Rücksicht darauf nehmen. Keuchend zog Anne ruckartig und tatsächlich, Julie richtete sich langsam auf, schwer atmend und blass vor Schmerz. Ohne Zögern fasste Anne sie bei der Hand, nahm den Koffer in die andere und eilte los. Adrenalin pumpte durch ihren Körper und gab ihr neue Kraft, ließ sie den Schmerz für einen Moment vergessen.

Sie mussten jetzt die Treppe runter, zur Tür raus und das Treppenhaus runterlaufen. Vorbei an Henry, der unten gerade leise fluchend ein paar Scherben zusammen kehrte. Anne atmete tief durch und nahm dann langsam und möglichst leise die ersten Stufen. Sie versuchte nicht zu laut zu atmen, doch sie war sich sicher, zu laut zu sein. Jede ihrer Schritte war unglaublicher Lärm in ihren Ohren. Wenn Henry mitbekam was Anne und Julie vorhatten war es vorbei. Er würde den Wutanfall seines Lebens bekommen und sonst was tun. Jedenfalls wäre Anne dann nicht mehr in der Lage zu fliehen. Sie zwang sich, nicht daran zu denken, denn die Angst lähmte sie. Sie musste jetzt aber schnell sein.

Stufe für Stufe traute sie sich runter und beute sich weit vor - fast soweit, dass sie runter fiel - um zu schauen, ob Henry in ihre Richtung sah. Das tat er nicht. Er stand seitlich zu ihnen und holte sich gerade einen neuen Teller aus dem Schrank, um sein Mittagessen fortzusetzen. Nicht ideal genug, Anne zögerte und hielt angespannt inne. Mit angehaltenem Atem folgte sie Henrys Bewegungen, wie er sich Suppe auffüllte, nach einem Löffel in der Schublade kramte und sich dann tatsächlich abwandte, um sich die Hände abzuwaschen, die mit Krätzern bedeckt waren. Anne nutzte den Moment und hetzte los, nahm mit Julie gleich mehrere Stufen auf einmal. Henry bemerkte es. "HEY!", schrie er entrüstet, als Anne schon zur Tür rannte und die Klinke runter drückte. Ihr Herz beschleunigte sich wieder angsterfüllt. "Na wartet!", rief er und ein metallisches Zischen erklang, als er sich ein Messer aus der Halterung neben sich griff und den Mädchen nachrannte. Anne entwich ein Schrei ihrer gereitzten Kehle. Sie riss die Haustür auf und rannte mit Julie raus. Die Stufen flogen nur so unter ihren Füßen dahin, die meisten stolperte sie nur so herunter, doch sie schaffte es irgendwie sich und Julie auf den Beinen zu halten. Dicht hinter sich konnte sie Henrys polternde Schritte hören und sein angestrengtes Schnaufen.

Im Erdgeschoss angekommen nahm Anne sich nicht die Zeit zu schauen, wie dicht Henry hinter ihnen war. Sie hetzte mit Julie zur Tür raus und lief los. Sie beachtete den Schnee nicht, sondern lief wahllos nach links die Straße runter, so schnell und so lange sie konnte. Anne zwang Julie weiterzulaufen, obwohl sie schon bald am Ende war. Mit pochendem Herzen zog sie sie hinter sich her und wollte nicht stehen bleiben. Ihre Lunge brannte, Seitenstechen breiteten sich in ihrem Körper aus, doch Anne blieb nicht stehen. Sie durften nicht. Sie durften einfach nicht stehen bleiben. Selbst, als sie Henry schon längst nicht mehr hinter sich hörten, blieb Anne nicht stehen. In der Ferne sahen sie eine Bushaltestelle, an der gerade ein Bus zum stehen kam und eine ältere Frau ausstieg. Ungeachtet der Nummer des Buses beschleunigte Anne noch einmal, obwohl sie wirklich am Ende ihrer Kräfte war und erreichte mit Julie gerade noch die Tür. Gerade, als die beiden aufsprangen, schlossen sich die Türen und der Bus fuhr los. Henry war nicht mehr am Horizont auf der weihnachtlich geschmückten Straße zu sehen.

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