Kapitel 39 - Freitag

Anne stand am Freitagvormittag vor einer dunkelblauen Tür mit silbernem Türklopfer eines Hauses, welches sie schon als etwas besser als mittelständisch wertete. Als sie in die Straße mit den schönen Vorgärten, den alten Bäumen und den lieblichen Fenstern mit Stickvorgängen ging, dachte sie kurz verkehrt zu sein. Derrens Familie konnte doch unmöglich in einem dieser Häuser wohnen, mit Auto davor! Anne fühlte sich verunsichert und wäre am liebsten wieder umgekehrt, um in den nicht besonders ansehnlichen Mehrfamilienbau zu verschwinden, den sie ihr Zuhause nannte. Entgegen ihrer Erfahrung war es hier auch angenehm ruhig. In der Ferne konnte man das ein oder andere Auto hören, aber ansonsten war die Luft erfüllte von Vogelgezwitscher und sich im Wind wiegende Blätter. Anne kam sich schrecklich deplatziert vor in ihren Secound-hand Klamotten, die nur mit viel Liebe optisch zusammen passten. Ihr Herz schlug ihm bis zum Hals, als sie die Hausnummer, die Stefan aufgeschrieben hatte fand und durch einen ordentlichen, mit zugeschneiten Büschen gesäter Garten durchschritt.

Nervös schaute sie nochmal auf die Adresse und konnte sie nur als richtig bestätigen. Zittrig stopfte sie den Zettel in die Hintertasche ihrer Jeans und rang sich dazu durch, die Türklingel zu betätigen. Sie spürte ihr Herz hektisch schlagen, und ihr Magen verkrampfte sich. Es bewegte sich nichts. Sie hörte auch kein Geräusch auf der anderen Seite. Anne presste die Lippen aufeinander, schaute auf die Straße zurück, doch da war niemand, den sie vielleicht hätte fragen können, wer hier wohnte oder ob sie richtig war. Stattdessen atmete sie tief durch und klingelte nach einer kurzen Zeit erneut. Ihr war schlecht vor Aufregung, sie hasste es bei jemand fremden zu klingeln. Da rührte sich auf einmal was.

Es waren Schritte zu hören, die immer lauter wurden, ehe die Tür geöffnet wurde und Stefan vor ihr stand. Er begann breit zu grinsen und umarmte sie dann fest. Die Aufregung fiel zu einem großen Teil von ihr ab, nur in ihrer Magengrube blieb eine kleine Anspannung. „Wie schön, dass du tatsächlich gekommen bist. Ich hatte schon Sorge zu versetzt mich.", kicherte er und zog Anne in Haus. Der Geruch von altem Holz und Teppich, zusammen mit einer verführerischen Note von Essen umfing sie, und tauchte sie in eine familiäre Umgebung, wie sie es schon lange nicht mehr erlebt hatte. Ganz der Gentleman half Stefan ihr aus der Jacke, nahm ihr den Schal ab und befestigte beides an einem paar Harken. Sie streifte sich die Schuhe ab und ließ sie ebenfalls von Stefan verstauen. Der Flur war relativ schmal, aber mit Dielen ausgekleidet, worauf ein teuer aussehender Teppich lag. Er endete nicht weit entfernt von einer geschlossenen Glastür, die einen Blick auf eine kleine Küche und das daran geschlossene Esszimmer gab. Durch das starke, weiß einfallende Licht in der Küche vermutete Anne große Fenster die an das Esszimmer anschlossen, die sie jedoch aus ihrer Position nicht sehen konnte. Stefan lächelte einladend und wies ihr mit dem Kinn den Weg zu der Glastür. Anne erwiderte das Lächeln flüchtig und ging auf die Tür zu, hinter der sie beim Näherkommen Stimmen hörte. Sie konnte noch nicht verstehen was sie sagten, aber letztendlich fand sie das auch ganz gut, da sie sich in nichts einmischen wollte, was sie nicht anging. Allerdings hätte sie dann auch nicht hier sein sollen.

Kurz vor der Tür hielt Stefan sie überraschend zurück indem er einen Arm um ihre Hüfte legte. Verwirrt schaute sie ihn an und wollte schon seinen Arm wegdrücken, als sie seine Stimme an ihrem Ohr summen hörte. Sein warmer Atem traf sie als er sprach. „Ich war vielleicht nicht ganz ehrlich zu dir.", fing er mäßig schuldbewusst an. Anne erstarrte und sah ihn skeptisch an, bis er erklärte, was er meinte. „Ich habe dir gesagt, du solltest kommen, um Derren zu helfen." Anne ahnte schlimmes. Das flaue Gefühl in ihrem Magen schlug mit voller Wucht wieder zu. „Stefan-", wollte Anne anfangen, doch er legte einen Finger auf ihre Lippen und unterbrach sie sogleich. „Sh sh, lass mich ausreden. Du sollst Derren helfen, daran hat sich nichts geändert! Aber lass mich dir etwas erklären, damit du nicht gleich durch die Tür gehst und auf der Schwelle wieder abhaust.", sprach Stefan schnell und zog Anne gegen ihren Willen näher zu sich heran. „Stefan, ich will nicht-", setzte Anne mit steigender Beunruhigung erneut an, doch er schnitt ihr erneut das Wort ab. „Alles ist gut! Hab keine Angst. Um Derren aus seinem Zustand zu bringen habe ich unseren Eltern erzählt, ich bringe meine Freundin zum Essen mit. Und da kommst du ins Spiel.", flüsterte Stefan eilig und sah wie Annes Gesicht immer entgeisterter wurde. Das konnte doch nicht sein Ernst sein? „Spiel einfach mit! Es wird Derren garantiert nicht kalt lassen, dass ich mit seinem Mädchen gehe.", machte Stefan weiter und begann schief zu grinsen. Anne war erschrocken von seinen Worten. Was war nur los mit ihm? Wieso tat er das? Anne hatte ihn mittlerweile schon zweimal abgewiesen und er schaffte es noch immer so zu tun, als hätte sie es nicht. War das noch Ignorant oder einfach blöd?

Anne war in Fassungslosigkeit erstarrt. „Ich will aber nichts schauspielern oder jemanden verletzen. Schon gar nicht Derren. Das ist wohl die blödeste Idee, die ich je gehört habe.", zischte Anne nun doch etwas erbost über seinen Plan, in den sie blindlings reingeraten war. Mit ruppigen Bewegungen versuchte sie sich von Stefan zu lösen um zu gehen. Auf so einen Kindergarten hatte sie keine Lust. Sie war für Derren hier, nicht für irgendein dummes Spiel, das Stefan sich ausgedacht hatte um Derren nicht gerade taktvoll vor den Kopf zu stoßen. Außerdem glaubte Anne, Stefan würde das eher für sich selbst, als für seinen Bruder tun. Aus reinem, klebrigen und ätzendem Triumph.

Anne wollte ihn gerade lauthals sagen, wie sie diese Aktion fand und sich dann mit großen, fluchtartigen Schritten auf den Heimweg machen, als Stefan die Tür zur Küche aufmachte und sie hineinschob. Um sie herum breitete sich sogleich eine Wolke aus köstlich riechendem Essen, Feuer aus einem Kamin und altem Holz aus, das Anne schon zuvor gerochen hatte. Aber der Moment war denkbar schlecht. Von der Küche aus, in der eine große und durchaus schlanke Frau stand, die mit aller Wahrscheinlichkeit Stefans und Derrens Mutter war, konnte man in das angrenzende Esszimmer und den dahinterliegenden Wintergarten schauen. Als sie rein platzten, drehte sich Stefans Mutter um, ihr Mann kam gerade um die Ecke, mit einer Zeitung in der Hand, die er vor wenigen Augenblicken noch gelesen hatte. Anne wäre gern im Erdboden versunken, da zog Stefan sie wieder näher an sich heran und gab ihr völlig gelöst einen Kuss auf die Schläfe. Der Blick der Eltern ging von Stefan zu Anne und wieder zurück. Der Vater rührte sich als erster und winkte mit der Zeitung. „Schön dich auch mal richtig kennenzulernen! Stefan hat viel von dir erzählt. Nur Positives natürlich.", begann er mit lauter, harter Stimme und versuchte sich gleichzeitig an einem Lächeln. Anne war erstarrt vor Schreck und merkte, wie sie tiefrot wurde. Ihr Herz schlug schneller und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als umzudrehen und aus dem Haus zu laufen. Weg von diesem Moment, weg von dem aufgezwungenen Schauspiel, das Stefan ihr aufgetischt hatte. Aber Stefans Arm hielt sie fest an Ort und Stelle. Er lächelte seinen Vater mit dem Stolz eines Jungen an, der einen seltenen Schmetterling gefangen hatte. „Sie ist noch etwas schüchtern.", lachte er und gab Anne gleich wieder einen Kuss auf die Schläfe. Nein, nein, nein, wollte sie schreien und Stefan gehörig eine knallen, aber sie war immer noch erstarrt. Das war alles so absurd! Stefans Mutter zog die Augenbrauen hoch. „Nenn mich Claire, mein Mann heißt Thomas. Du musst nicht schüchtern sein, hier wird dich niemand auffressen. Fühl dich wie zuhause!", meinte sie zwar gutmütig, aber warf ihrem Sohn einen nicht zu deutenden Blick zu, den Anne jedoch nicht übersehen konnte. „Danke, Claire", erwiderte Anne leise, räusperte sich dann und wiederholte es etwas lauter. Meine Güte war das ihre Stimme die da so zitterte?

„Naja, dann kommt erstmal an. Essen gibt es in einer Viertelstunde. Solange könnt ihr euch in den Wintergarten setzten.", meinte Claire und drehte sich wieder um, einem Topf entgegen, der bedrohlich brodelte. Anne wurde von Stefan mitgezogen. Sie wehren sich nicht, jetzt konnte es eh nicht mehr schlimmer kommen. Und außerdem lief ihr so ganz nebenbei das Wasser im Mund zusammen bei dem köstlichen Geruch nach Braten mit Füllung. „Siehst du. Alles ist gut.", flüsterte ihr Stefan ins Ohr, als wäre sie ein verängstigtes Reh. Sie war ihm einen bösen Blick zu, der er mit einem Stirnrunzeln quittierte. „Nicht ist gut.", grummelte sie unverständlich in seine Richtung und stolperte fast über die Schwelle zum Wintergarten. Hätte Stefan die Tür nicht für sie geöffnet, wäre sie dagegen gelaufen. So stolperte sie also in den Wintergarten. Stefan fing sie auf, bevor sie ernsthaft fallen konnte und zog sie an seine Brust. „Bist du in Ordnung?", fragte Stefan mit einem Hauch von unbegründeter Sorge. Seine Hand strich ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr, bis Anne sie langsam wirklich genervt wegschlug. „Hör auf!", zischte sie ruppig und drehte sich aus seiner Umarmung, nur um zu sehen, dass bereits jemand im Wintergarten sah. Es war Derren, der da am Tisch saß und mit einem leeren Blick zu ihnen rüber sah. Gerade, als Anne Luft holen wollte, um die Situation zu erklären, drehte Stefan sie mit einem harten Schwung zu sich zurück. Verwirrt von dieser heftigen Bewegung konnte Anne nur teilweise registrieren was dann in rascher Abfolge geschah. Stefan nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und beugte sich mit einem schelmischen Grinsen zu ihr runter. Seine Lippen berührten ihre, drückten sich unsanft auf ihren Mund und erstickten jedes Wort.

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