Kapitel 33 - Depression

Mein Kinderzimmer war kaum mehr wiederzukennen, seit ich wieder da war. Während ich mich in den ersten Tagen noch so gefreut hatte alles endlich wieder vorzufinden wie ich es vor der Army verlassen hatte, war ich jetzt wieder ganz mit meinen Dämonen allein. Die Nostalgie blieb aus, die Patchwork-Decke, die vorher auf seinem Bett gelegen hatte war fort, die Gardinen mit dem fröhlichen himmelblauen Ton abgerissen und die Regale, in denen zuvor Bücher, Familienfotos und ein alter Baseball mit Handschuh gelegen hatten waren gähnend leer. Nur die hellen Abdrucke des Inhalts waren noch da, wie Schatten einer längst vergangenen Zeit. Jeglicher Schmuck hatte ich aus dem Zimmer geworfen, selbst alles was auf dem Schreibtisch lag, alte Hefte, Stifte und ein paar Ordner waren jetzt im Müllcontainer. Alles sollte so unpersönlich wie möglich wirken, der alte Derren war schließlich tot, der verwundete, verrückt gewordene Soldat zog jetzt hier ein.

Gestern hatte ich die Fenster zugenagelt, das Sonnenlicht störte mich, wenn ich bei künstlichem Licht las oder versuchte zu schlafen. Immer schlafen, das war gut, denn wegen den Albträumen war ich eigentlich immer müde und die Zeit verging schneller. Meine Eltern beobachteten das mit zunehmender Sorge, ließen sich aber bisher durch mein zynisch, fröhliches Gesicht täuschen, das ich aufgesetzt hatte, als ich mir die Bretter aus Vaters Schuppen holte. Alles gut, mich stört nur das Licht, hatte ich ihnen etwas zu fröhlich zugerufen und war dann mit ein paar Nägel und einem Hammer in meinem Zimmer verschwunden. Und schlussendlich aß ich das was Mutter kochte immer bis zum letzten Bissen auf, sodass sie nicht zusätzlich besorgt war. Gegen die Ausflüge, die jetzt jede Woche mindestens einmal auf dem Programm standen - Mutter reagierte da allergisch gegen ein Nein - konnte ich nichts tun. Ich ließ über mich ergehen wie ein Stück Fleisch durch die Straßen geschoben zu werden, mit einer Decke über den Beinen, einer Jacke, Schal bis zur Nase und Mütze, die mir beinahe die Sicht nahm. Alles war so unglaublich anstrengend geworden, manchmal zog ich mich den ganzen Tag über nicht an, weil mir die Kraft fehlte überhaupt etwas zu tun. An wenigen Tagen war ich motiviert genug zu duschen.

Heute war Samstag, so weit ich das beurteilen konnte und ich war gerade beschäftigt gedankenverloren Schimpfworte mit einem Brotmesser in die Armlehnen meines Rollstuhls zu ritzen. „Viele böse Worte, viele böse Taten.", murmelte ich leise. Jedes Wort hatte eine Bedeutung, eine Erinnerung, die ich verschwinden lassen wollte. Ich stellte mir vor wie viele Stimmen, von Frauen, Männern und Kindern diese Worte in mein Ohr schreien. Seb war unter ihnen. Und ich wusste, für meine Tat hatte ich jedes dieser Worte verdient. Dummkopf! Ich war dumm gewesen. Verräter! Ich hatte Seb und auch die anderen verraten. Mörder! Ich war Schuld, dass Seb sterben musste. Ich allein. Lügner! Ich hatte meine Kameraden am letzten Tag angelogen, ich hatte meine Familie angelogen, ja, ich hatte mich selbst belogen indem ich mir einredete Richtige getan zu haben. Schwächling! Ich war schwach, zu schwach um-

Es klopfte an der Tür. Schnell versteckte ich die Worte mit meinem Arm und sah zur Tür. Stefan öffnete sie vorsichtig. „Bist du wach?", fragte er noch bevor er mich sah. Mein Anblick beantwortet seine Frage und obwohl er es sich nicht anmerken ließ, er war entsetzt. Ich wusste, dass ich schrecklich aussah, blass und dünn, ein Schatten von dem, was ich einmal war. Meine Haare, waren unordentlich in alle Richtung gewachsen und da ich nicht die Kraft fand sie zu kämmen, verfilzten sie langsam. Und was sah Stefan noch? Einen einsamen Mann, in der Mitte eine dämmerigen Raumes mit tiefen Schatten unter den Augen. Eine lebendige Leiche...

„Ich hatte eben einen ziemlich seltsames Telefonat. Irgendeine Frau,... nein eigentlich glaube ich das es zwei waren.", dachte er laut nach. Seine Stimme nervte mich, ich wollte keine Gesellschaft, ich wollte, dass niemand sprach. Verschwinde, wollte ich rufen, aber ich bekam keinen Ton raus. Es war wieder so ein Tag, an dem ich keine Kraft hatte etwas zu tun. Irgendwas zu tun... Ich konnte nicht mal den Kopf abwenden, selbst wenn ich es noch so sehr gewollt hätte. "Wie dem auch sei, ...", räusperte Stefan sich, als würde er sich ordnen und begann dann strahlend zu lächeln, als wäre von einer Sekunde auf die andere die Sonne in ihm aufgegangen. "Die Stimme kam mir bekannt vor und ich müsste mich schwer täuschen, wenn nicht eine der beiden Frauen Anne war." Er wirkte aufgeregt, beinahe schon hebbelig wie er mir das erzählte. War es die Hoffnung, ich würde endlich aus meinem Albtraum aufwachen und mich wieder wie der Bruder benehmen den er kannte? War es Hoffnung, durch diese Nachricht, die zum Himmel nach einer ausgedachten Geschichte stank, würde alles wieder besser werden? Das allein Annes Name mich retten konnte?

Das konnte er nicht... Das konnte niemand. Und so sah ich Stefan einfach nur voller fehlender Emotionen an, machtlos einen Muskel zu bewegen. Die Sekunden vergingen und mit jeder begannen Stefans Mundwinkel stärker zu zittern, ehe sie schließlich hinabsanken zu einem Ausdruck, der Enttäuschung am ähnlichsten war. "Also Anne... Du weißt... wen ich damit meine?", fragte er leicht verunsichert, ob meiner emotionslosen Miene. Natürlich wusste ich wen er meinte, ich hatte ja keine Erinnerungslücken, aber ihm die Worte entgegen zu werfen schaffte ich nicht. Stefan sah mich seinerseits an und schien immer verunsicherter, da ich nicht reagierte. "Verschwinde...", schaffte ich irgendwann heiser zu sagen. Tatsächlich hörte ich mich an als würde ich weinen, obwohl meine Wangen trocken waren und meine Augen sich leer und müde anfühlten. Stefan öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch schloss ihn gleich wieder, als hätte er es sich anders überlegt. An Stelle der Verunsicherung trat Traurigkeit in seine Augen. Tiefe Traurigkeit, die wahrscheinlich nur ein Spiegelbild dessen war, was ihr gegenüber lag. Sah ich traurig aus? Gut möglich, ich hatte meine Gefühle nicht mehr wirklich unter Kontrolle. Auch, wenn ich momentan wenig fühlte. Meistens lag mein Gemüt brach und war düster und leer wie ein kalter, verlassener Raum. "Ma hat einen Kuchen gebacken. Ich glaube es wäre gut, wenn du dir ein Stück holst.", murmelte Stefan in einem undefinierbaren Tonfall. Ich presst die Lippen aufeinander und nickte schwach. Dann sah ich wie Stefan leise die Tür schloss und ging.

Kaum allein griff das dämmerige Licht mit seinen Klauen nach mir, um mich wieder hinab zu reißen in das Stimmengewirr, dass ganz leise flüsterte. Doch ich ließ sie nicht, jetzt nicht. Ich ließ das Brotmesser klirrend auf den Boden fallen und fuhr zum Bücherregal, wo zuvor ein Bild von mir an meinem ersten Schultag gestanden hatte. Nun war der Platz leer, es war weg, das Bild, aber nicht die Erinnerung. Vorsichtig strich ich über den hellen Schatten, den das Bild auf dem Holz hinterlassen hatte und betrachtete den Staub auf meinem Finger. Ein dunkelgrauer Film, der erst wenige Wochen alt sein konnte. Mutter hatte gesagt das sie sich immer um das Zimmer gekümmert hatte, solange ich weg war. Als würde ich jeden Moment in der Tür stehen und hier wieder einziehen. Vielleicht hatte sie das gehofft. Vielleicht hatte ich das gehofft. Aber jetzt war es anders gekommen. Und der Mann der jetzt hier eingezogen war, war nicht länger ihr lieber, unschuldiger Junge. Ich schnaubte leise, dann drehte ich mich um. Ein Stück Kuchen wartete darauf voll Lustlosigkeit gegessen zu werden. Wenn ich Glück hatte... würde ich ihn nicht mal schmecken.

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